Читать книгу Ein schrecklicher Volkslauf Spo(r)ttbericht - Peter Axel Knipp - Страница 5
2 Katinka Blank
ОглавлениеAusgerechnet in dem Waldstück hatte das Auto angefangen zu bocken wie ein störrischer Esel. Schliesslich war es mit einem Ruck stehen geblieben. Sie wusste, dass der Wagen reif für so etwas gewesen war. Aber hätte er nicht wenigstens bis nach Madulan durchhalten können. Der Wald war der schlechteste Platz für sein Ende gewesen. Sie hatte versucht, andere Autos zu stoppen, doch es hatte niemand angehalten. Wahrscheinlich hatten die Leute Angst vor einer Falle gehabt. Sie hatte in der unwirtlichen Gegend selbst Angst gehabt. Endlich war ein Lieferwagen mutig genug gewesen zu bremsen. Er hatte ein Natel im Wagen und hatte den Pannendienst des Automobilclubs angerufen. Er hatte ihr auch angeboten sie mitzunehmen. Aber sie hatte ihr Auto mit all dem Gepäck und den Skiern nicht einfach im Wald stehen lassen können.
Fast eine Stunde hatte es gedauert, bis der Pannendienst erschienen war. Eine Stunde, in der sie sich ganz und gar nicht wohl fühlte. Wenigstens hatte sie Zeit gehabt, das Aufmunterungsgeschenk ihrer Schülerinnen und Schüler zu betrachten: Eine zeitungsgrosse Zeichnung, auf der unzählige bunte Strichmännchen mit Skiern an den Spinnenbeinen wirr durcheinander purzelten. Vorneweg jedoch lief SIE, gross, aufrecht und sicher. „Vorwärts, Frau Blank“ , hatten die Kinder darüber geschrieben. Und Franco, der kleine Italiener, der sie besonders mochte, hatte ‚forza Katinka’ daneben gekritzelt. Die Kinder erwarteten, dass sie es schaffte und würden ihr den ganzen nächsten Tag die Daumen drücken.
Der Start des Unternehmens mit dem Zusammenbruch ihres alten Autos war indes nicht sehr vielversprechend gewesen. Endlich war der Pannendienst gekommen und hatte sie aus ihrer misslichen Lage befreit. Ihr Auto müsse vom Abschleppdienst geholt werden, hatte der Mann gesagt, das führe selbst keinen Meter mehr. Als er gehört hatte, wohin sie wollte, hatte er sie mit ihrem Gepäck an den nächsten Bahnhof gebracht, obwohl das nicht zu seinen Aufgaben gehörte. Sie war der Typ Frau, für den die Männer gern einen Umweg machen. Wieder hatte sie eine Stunde warten müssen, diesmal auf den nächsten Zug. Sie hatte Betty in Madulan angerufen und ihr gesagt, wann sie eintreffen werde. „Ich glaube, das Unternehmen ist eine Schnapsidee“, hatte sie noch gemeint. Aber Betty war da ganz anderer Ansicht. „Wir holen dich vom Bahnhof ab“, hatte sie versprochen. „Hier ist schon ziemlich viel los.“
Die Züge in die Berge hinauf waren an diesem Freitagabend überfüllt. Zu den üblichen Wochenendausflüglern gesellten sich unzählige Teilnehmer des Vier-See-Laufs, die schon am Vorabend anreisten. Sie bekam nur einen Stehplatz im Mittelgang, zwischen Sporttaschen, Skiern und Rucksäcken. Es herrschte eine feuchte Wärme, wie in einem Gewächshaus, und es roch nach Schweiss, Skiwachs und stockiger Winterkleidung.
Katinka Blank wurde müde. Sie war seit sechs auf den Beinen, hatte bis mittags unterrichtet, für ihre verunfallte Nachbarin eingekauft, eine Wäsche gemacht, die Wohnung in Ordnung gebracht, ihre Ausrüstung zusammen gesucht und stadtauswärts nur im Schritttempo fahren können. Durch die Panne hatte sie weitere zwei Stunden verloren. Es war inzwischen dunkel geworden. Der Zug quälte sich in weiten Kehren und durch ein System von Tunneln bergan. Ein Mann, den sie nicht einmal richtig wahrnahm, bot ihr seinen Platz an. Doch sie lehnte dankend ab.
An der nächsten Station, einem bekannten Wintersportort, stiegen viele Leute aus. Sie liess sich in eine Ecke fallen und schloss die Augen.
„Warum heisst das eigentlich Vier- Seen-Lauf? Auf einem See kann man doch nicht laufen“, hörte sie einen Jungen fragen.
„Wenn er zugefroren ist schon“, antwortete eine Männerstimme.
„Aber ich darf nie auf das Eis auf unserem Teich gehen“, sagte der Junge.
„Weil es nicht dick genug ist“, erklärte die Männerstimme. „Die Eisdecke auf den Bergseen ist viel, viel dicker.“
„In diesem Winter“, sagte eine andere Männerstimme, „ist sie wahrscheinlich auch nicht so dick. Es ist ja selbst in den Bergen nie richtig kalt geworden.“
„Vielleicht brecht ihr alle ein“, spekulierte der Junge. „Dann werdet ihr ganz schön nass, und mit den Skiern an den Füssen könnt ihr nicht mal schwimmen.“
Ein fröhliches Gelächter erhob sich.
Das könnte wirklich passieren, dachte Katinka und öffnete erschrocken die Augen. Der Mann schräg gegenüber, wohl der, der ihr den Platz angeboten hatte, lächelte ihr freundlich zu. Er erinnerte sie ein bisschen an Sven. Hatte auch so ein asketisches Gesicht und war schlank und sportlich, wie es schien. Aber er wirkte nicht so fanatisch wie Sven, so verbohrt und unerreichbar. Sein Blick war wärmer, sinnlicher.
Sie lächelte zurück und schloss dann wieder die Augen.
Sven war schon gestern zu diesem internationalen Handballturnier nach Schweden gereist. Er würde erst in einer Woche zurückkommen und dann sollte er staunen. Wie hatte sie nur einen Mann heiraten können, der nie zu Hause war? Der als zweifellos tüchtiger Sportjournalist ständig unterwegs war. Und der, wenn er wirklich einmal Zeit gehabt hätte selbst Sport betrieb. Von allem etwas. Nichts mit Erfolg. Ein Besessener, der vom Sport infiziert war, von ihm aufgefressen wurde. Der voller Bestzeiten, Längen, Höhen, Tordifferenzen und Rekorden steckte. Sie fragte sich, wann sie zuletzt mit ihm geschlafen hatte. Das musste schon eine Zeitlang her sein. Unten, in seinem kleinen Fitnessraum im Keller, als er auf dieser Trainingsbank gelegen und Gewichte gestemmt hatte. Da hatte sie ihm die Hose ausgezogen, hatte ihn angemacht und sich einfach auf ihn gesetzt. Trotzdem hatte er das Gewicht noch ein paar Mal gestemmt und es erst abgelegt, als sie all seine Kraft an einer einzigen Stelle beansprucht hatte.
Wieder öffnete sie erschreckt die Augen, als werde sie von allen angestarrt, als habe jedermann ihre Gedanken gelesen. Doch die Leute um sie herum hatten alle Besseres zu tun, sprachen wie Sven alle vom Sport oder was damit zusammenhing. Von Schneebeschaffenheit, Aussentemperaturen, Windrichtungen, von Wachstechniken, Körperhaltungen und Trainingseinheiten. Nur der Mann schräg gegenüber, der an den Gesprächen nicht teilnahm, lächelte ihr wieder zu. Sie stellte fest, dass er nicht gerade modisch gekleidet war. Eine etwas abgeschabte Kordhose, ein verwaschener Pullover und klobige Schuhe. Nichts von den modernen, farbigen Outfits, die ansonsten den Zug füllten. Aber er hatte sehr feine, sensible Hände, und sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn er sie damit berührte. Sie konnte sich eines
plötzlichen Zittern nicht erwehren und zog ihre Jacke, die sie hinter sich aufgehängt hatte, wie schützend um sich. Er hat es gemerkt, dachte sie, er hat es gemerkt. Aber es war ihr nicht einmal peinlich, und sie lächelte ihm wieder zu. Eingehüllt in die warme Jacke glaubte sie, die Berührung seiner Hände zu spüren und nickte ein.
In Madulan wurde der Zug fast leer. Katinka erwachte durch den Lärm und die Bewegung um sie herum. Der Mann zog gerade einen einfachen schwarzen Anorak an.
Sie schaute aus dem Fenster, sah aber nur eine Menge Menschen. „Ist das hier Madulan?“
„Ja“, nickte er.
„Da muss ich ja raus.“ Sie zog die Schleife ihres Rossschwanzes zurecht, schlüpfte in die flauschige, bunte Jacke und griff nach ihrer Sporttasche in der Gepäckablage.
„Darf ich?“ Er nahm die Tasche herunter. „ich werde sie nach draussen tragen“, sagte er.
Sie hatte eine zweite kleinere Tasche und ihre Skier im Vorraum.
„ich muss meine auch noch holen“, sagte er, als sie auf den Bahnsteig trat. Sie wartete, bis er zurück kam. Er sprach ein Deutsch, wie sie es noch nie gehört hatte. Wahrscheinlich einer aus den neuen Ländern, dachte sie.
„Nehmen Sie morgen auch an dem Lauf teil? „ fragte er.
„Ja. Ich hoffe ich erreiche das Ziel.“
„Bestimmt. Vielleicht sehen wir uns.“
„Das ist sehr unwahrscheinlich unter den tausenden von Leuten“, sagte sie.
„Man kann nie wissen“, meinte er. „Darf ich Ihnen die Tasche noch irgendwohin tragen?“
„Danke. Meine Freundin holt mich ab. Hals- und Beinbruch für morgen.“
„Ihnen auch.“ Er ging davon und schaute sich noch einmal um.
Spontan hob sie ihre freie Hand. Schade.
Es dauerte ein paar Minuten, bis die Menge sich verlief und Betty sie entdeckte. „Ich habe die Kinder schon ins Bett gesteckt“, sagte sie. „Die waren den ganzen Tag draussen Es war herrlich heute.“ Betty war auch Lehrerin im Unterland gewesen, bevor sie einen Arzt geheiratet hatte, der im Regionalkrankenhaus von Madulan einen Ruf als Knochenflicker erworben hatte.
Die beiden Freundinnen fuhren in Bettys kleinem Geländewagen zum Ärztehaus hinüber. Madulan, das etwas westlich des ersten Sees in unmittelbarer Nähe des Startgeländes liegt, glich an diesem Abend dem Bethlehem bei der Geburt Christi. Im Ort selbst und in seiner weiteren Umgebung war keine einzige Schlafgelegenheit mehr zu bekommen. In Madulan ging es nüchtern zu. Die Eleganz von St.Montis, das mondäne Publikum, vornehme Hotels und schicke Geschäfte suchte man hier vergebens. Es gab preiswerte Unterkünfte aller Art, Gasthöfe und Restaurants, in denen das Volk Schulter an Schulter sass. Der Geruch von Käsefondue und Raclette drang in die Strassen hinaus.
Das Ärztehaus lag am Ortsrand hinter dem Krankenhaus. Zwei der Ärzte hatten dort Wohnung genommen, eine Psychotherapeutin und der einzige Zahnarzt weit und breit betrieben ihre Praxen dort.
Die Freundinnen besuchten sich regelmässig. Betty liebte es, von Zeit zu Zeit in die Stadt hinunter zu kommen, Katinka war in diesem Winter öfter als sonst in Madulan gewesen, um sich auf den grossen Lauf vorzubereiten.
Die Kinder schliefen schon, und Ralf, der Chirurg und Knochenspezialist wurde erst spät erwartet. Das Krankenhaus musste auf den morgigen Grosskampftag optimal vorbereitet werden.
Betty und Katinka kochten in der rustikalen Küche die obligaten Spaghetti und plauderten über dies und jenes. Sie waren zusammen auf dem Lehrerseminar gewesen, hatten fast gleichzeitig ihre Männer kennengelernt und hätten gern gleichzeitig Kinder gehabt. Doch Sven, Katinkas sportbesessener Mann, wollte keine. Nur Betty wusste, wie sehr die Freundin darunter litt und hatte ihr kürzlich geraten, sich scheiden zu lassen.
An diesem Abend sprachen sie nicht darüber. Dieser Abend wurde nur von der Frage beherrscht, ob Katinka die fünfzig Kilometer schaffen würde oder nicht. Sie war eine recht gute Skilangläuferin, doch fünfzig Kilometer inmitten eines riesigen Teilnehmerfeldes waren etwas anderes als gemütliche Fünf- oder Zehn-Kilometer-Schleifen, auf denen man fast allein war. Katinka hatte alle Teilstücke des Laufs absolviert, nie jedoch die fünfzig Kilometer in einem Stück, unter wettkampfmässigen Bedingungen. Es gab nur einen einzigen Grund, aus dem sie es schaffen wollte: Weil Sven es nicht geschafft hatte. Sven, der grosse Sportler, der Läufer, Springer, Schwimmer, Ski- und Radfahrer, Kraft-, Leicht- und Ballathlet, der Allrounder hatte den Lauf vor zwei Jahren so nebenbei durchziehen wollen und war knapp nach der Hälfte kläglich gescheitert. Vollkommen fertig hatte er nachmittags stundenlang auf der Couch in Ralfs Arbeitszimmer gelegen und schwer atmend nach Entschuldigungen gesucht. Und da war sie auf den Gedanken gekommen, es ihm zu zeigen. Sie würde ihre Teilnehmerplakette und den Ausdruck ihres Einlaufergebnisses auf sein Kopfkissen legen und keinen Ton dazu sagen. Entweder gewann sie ihn für sich zurück, und er hatte den Respekt vor ihr, den er vor jeder x-beliebigen Weltrekordlerin oder Olympiasiegerin hatte, oder sie würde ihre Konsequenzen ziehen. Es gab genügend Männer, die sie auch ohne sportlichen Glorienschein attraktiv fanden und sich nach ihr umdrehten. Ralf, Bettys Mann, war sicher einer von ihnen, obwohl er nie etwas getan hätte, das Betty kränken könnte. Das fand sie so grossartig an ihm.
„Sieh da, unsere Vier-Seen-Königin“, sagte er, als er spät aus dem Krankenhaus herüber kam. Er nahm sie freundschaftlich in den Arm und küsste sie auf die Wangen „Bist du in Form?“
„ich glaube schon. Wenn ich nicht daran denke, dass mein Auto auf dem Herweg seinen Geist aufgegeben hat.“
„Das muss kein schlechtes Zeichen sein“, meinte er. „Wichtig ist, dass DU bis nach St.Montis durchhältst, und davon bin ich überzeugt.“ Er sprach und dachte immer positiv. Wie hätte er sonst auch Knochen zusammen flicken können, die zersplittert waren wie abgebrochene Äste. Unter Alpinskifahrern, Snowboardern und ähnlichen Bruchpiloten galt er als Meister seines Fachs. Auch er hatte feine, sensible Hände wie der Mann im Zug.
„Wird sich das Wetter halten?“ fragte Betty. „dann könnte ich morgen mit den Kindern an die Zenser Steigung fahren und den Lauf anschauen. Vielleicht sehen wir Katinka.“
Ralf wiegte zweifelnd den Kopf. „So gern ich ja sagen würde, ich glaube, das Wetter kippt. Das Barometer in meiner Praxis fällt schon seit gestern Morgen. Hast du eine beschlagfreie Brille, Katinka?“
„Ich denke schon.“
„Werde sie mir anschauen“, sagte er. „Skatest du oder läufst du klassisch?“
„Ich habe Skating-Ausrüstung, kann aber beides.“
„Pass vor allem auf die Stockfuchtler auf“, warnte er. „Es gibt Leute, die ihre Stöcke als Propeller benutzen.“ Im Krankenhaus hatten sie da ihre Erfahrungen.
Wirklich schwere Unfälle waren bei so einem Volkslauf allerdings selten. Verrenkungen, Verstauchungen, mal ein Knöchel oder Handbruch, Krämpfe aller Art und natürlich die Herz- und Kreislaufkombinationen. „Die Leute glauben heute, einfach alles zu können“, sagte Ralf. „Es scheint gar keine Barrieren mehr zu geben. Man schafft das schon. Mit Turnschuhen aufs Matterhorn, mit der Luftmatratze über den Atlantik. Die Gefahr liegt in der unsagbaren Überheblichkeit. Bescheiden sein, auch seinem Körper gegenüber ist out. Leistung auf allen Ebenen, unter allen Umständen, in jedem Alter. Ich sollte das ja gar nicht erwähnen. Schliesslich lebe ich davon.“
Sie sassen immer noch um den Küchentisch und tranken eine Flasche Rotwein. „Ein paar Schluck darfst du auch haben“, hatte Ralf gesagt. „Das beruhigt.“
„Wenn ich es morgen schaffe“, versprach Katinka, „lade ich euch alle nach St.Montis zum Essen ein. Ihr müsst nur meine Kleider mitbringen.“
„Wer weiss, wie lange ich im Krankenhaus zu tun habe“, meinte Ralf. „Aber irgendwie werden wir deinen Erfolg feiern. Möge es gelingen!“
Sie erhoben ihre Gläser und stiessen an. Katinka wusste, dass morgen ein entscheidender Tag sein würde.