Читать книгу Ein schrecklicher Volkslauf Spo(r)ttbericht - Peter Axel Knipp - Страница 4
Am Vorabend
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Hilmar X. Bronner
In diesen Zeiten waren Bekanntgaben von Massenentlassungen, schlicht Stellenabbau genannt, keine Hiobsbotschaften. Sie gehörten zum Alltag wie der Wetterbericht. Entsprechend nüchtern war denn auch das Kommuniqué des Multikonzerns SSL, Strasse, Schiene, Luftfahrt, abgefasst. Der Vorstand hatte auf den bekannten Wortlaut zurückgegriffen. Nur über die Zahl war länger diskutiert worden. Sollte man zugeben, dass es diesmal fast fünfzehntausend sein würden, im eigenen Land? Durfte man die Verlagerung des T-Bereichs nach Fernost dagegen aufrechnen? Da waren Arbeitsplätze entstanden, weltweit. Der Vorsitzende des Betriebsrats war der Ansicht gewesen...
Hilmar X. Bronner hatte ein paar Mal ungeduldig auf die Uhr geschaut. Nach sechs konnte man in St. Montis nicht mehr landen. „Dreizehntausend“, hatte er gesagt und das Gezänk um die Köpfe beendet. „Wir bleiben bei den ursprünglichen dreizehntausend“.
„Eine Unglückszahl“, hatte jemand gemeint.
„Es IST eine Unglückszahl „, hatte Hilmar X. Bronner gesagt und die Sitzung für geschlossen erklärt. Mit einem kurzen Gruss hatte er den Konferenzraum als erster verlassen.
„Der Helikopter wartet bereits“, hatte die Lotze ihn in seinem Büro empfangen. „Und Herr Kuster hat aus St. Montis angerufen. Es ist alles bestens dort.“
Kuster, sein Chauffeur, und die Lotze, seit siebzehn Jahren seine Sekretärin, waren die einzigen, auf die er sich blindlings verlassen konnte. Sie allein wussten, wo er während der nächsten achtundvierzig Stunden sein würde. Selbst Sybille, seine Frau, die zu Frühjahrs-
Einkäufen nach Rom geflogen war, wähnte ihn woanders.
„Ich drücke Ihnen die Daumen, dass es diesmal klappt“, hatte die Lotze noch gesagt.
Für jeden Platz unter tausend bekommen Sie eine Rose von mir“, hatte er gescherzt.
„Da kann ich nur hoffen, dass Sie fünfhundertster werden“, hatte sie gelächelt.
Sie wussten beide, wie illusorisch das war.
Er hatte darauf verzichtet, irgendwelche Unterlagen mitzunehmen. Schon während des Fluges galt es, sich mental auf die nächsten beiden Tage vorzubereiten, die ihn nicht als Vorstandsvorsitzenden der SSL fordern würden, sondern als Startnummer eintausenddreihundertsiebzig des Vier-Seen-Laufs und als Liebhaber von Olivia Pellier.
Die Lotze hatte ihn bis auf das Dach des Nebenbaus begleitet. Für den Fall, dass ihm in letzter Minute noch etwas einfiel. Doch er hatte die Hülle des Managers bereits verlassen und nur „bis Montag“ zu ihr gesagt.
Jetzt schwebte er endlich in der Luft. Der monströse Verwaltungskomplex unter ihm nahm überschaubare Ausmasse an. Bronners Vorgänger, der sich im Aufsichtsrat erholte, hatte das Unternehmen an den Rand des Abgrunds manövriert. Nur mit der Einführung des Heli-Service zum Flughafen hatte er Weitsicht bewiesen. Die Anfahrt auf der Strasse dauerte inzwischen länger als die meisten Inlandflüge.
Der Hubschrauber brauchte nur wenige Minuten. Besorgt wie sie war, hatte die Lotze seinen Sicherheitsbeamten mit in die Maschine beordert. Was konnte der schon tun, wenn sie abgeschossen wurden? Und nach St.Montis würde er den Mann sowieso nicht mitnehmen.
Da hatte er Kuster.
Morddrohungen aller Art gegen Hilmar X. Bronner waren in letzter Zeit wieder häufiger geworden. Besonders seit ihm die Strasse den Titel „Jobkiller des Jahres“ verliehen hatte. Aber die eigentliche Gefahr ging nicht von der Strasse aus, sondern von RAF’s, AIZ’s und ähnlichen, die sich erst meldeten, wenn man bereits tot war.
Der Helikopter landete in unmittelbarer Nähe des Firmenjets, der in der Schweiz immatrikuliert war. Der Sicherheitsbeamte begleitete ihn bis an das Flugzeug. Bronner begrüsste die beiden Piloten, verschwiegene, zuverlässige Eidgenossen, mit Handschlag. Erst als er sich in der kleinen, schnittigen Maschine in einen der Ledersessel fallen lies, fühlte er sich wohl. Der Flug war nach Mailand angemeldet. St.Montis würden sie plötzlich, unplanmässig ansteuern. Sie mussten eine halbe Stunde auf die Starterlaubnis warten. Am späten Freitagnachmittag waren Flughafen und Luftraum chronisch überlastet.
Er schaute aus dem Fenster, als sie abhoben und in einem Bogen über die Stadt auf Südkurs gingen. Die Staus auf den Autobahnen verloren sich in der Ferne. Da unten, dachte er, besonders in den tristen Wohnsilos an den Stadträndern werden tausende meiner Mitarbeiter dieses Wochenende in quälender Ungewissheit verbringen. Das Kommuniqué würde zwar erst am Montag veröffentlicht werden, aber die Angst hatte sich längst in ihren Wohnungen eingenistet. Gerüchte vergifteten seit Monaten ihr Leben. Er nahm es ihnen nicht übel, dass sie ihn Jobkiller nannten und „bei Hilmar X. geht nix“ skandierten. Er bedauerte nur, dass er zum falschen Zeitpunkt König der SSL geworden war. Mit Ludwig dem Sechzehnten hatte das Volk auch nicht dem Richtigen den Kopf abgehackt. Der war auch nur die letzte Figur in einer unseligen Entwicklung gewesen, für die er kaum etwas konnte. Übrigens waren die Zusammenhänge heute wesentlich komplexer als vor zweihundert Jahren. Das Abhacken von Köpfen brachte nichts mehr. Revolutionäre Verbesserungen dadurch waren kaum zu erwarten. Nach nur fünfzig Jahren drohte sich dieses Wirtschaftssystem einfach totzulaufen. Die Dinge gerieten immer schneller ausser Kontrolle.
Morgen, beim Vier-Seen-Lauf, da würde er sich voll reinhängen, wie sein Sohn zu sagen pflegte. Da lohnte es sich. Da gab es einen Start und ein klares Ziel, und auf den fünfzig Kilometern, die dazwischen lagen, wusste er, wofür er sich abmühte. Wenn er wirklich unter die ersten tausend kam wollte er das genauso hoch einschätzen wie seine Nummer eins bei der SSL. Vorher kam noch Olivia. Er durfte sich nur nicht von ihr überfordern lassen. Im letzten Jahr war das der Fall gewesen. Die exzessive Liebesnacht hatte ihn mindestens fünfhundert Plätze gekostet.
Sie flogen jetzt über das flache Land, in dem selbst aus der Höhe erste Spuren des nahenden Frühlings zu erkennen waren. Der Co-Pilot, der bei diesen diskreten Flügen als Steward fungierte, brachte ihm einen Whisky on the Rocks. Bronner unterhielt sich kurz mit ihm. Er mochte diese etwas unbeholfen und hölzern wirkenden Männer. Sie dachten noch nach über das, was sie sagten. Und sie schwiegen, wo es nötig war.
Nach dem Whisky löste sich seine Beklemmung über die dreizehn-, fünfzehn- oder zwanzigtausend abzubauenden Stellen endgültig. Das Gedankengeflecht von Bündnissen für Arbeit, für Aufschwung, für Ausbildung, von Ausstiegen aus defizitären Unternehmensteilen, und Förderung von Kernbereichen, von Wirtschaftsausschüssen, Technologievorsprüngen und Subventionsverschiebungen löste sich auf. Ja es war ihm, als fiele es stückweise auf die Erde hinunter. Wo es ihn beizeiten wieder einholen würde.
Körperlich fühlte er sich ausgesprochen fit. Seinen Trainingsplan hatte er trotz überdurchschnittlicher beruflicher Belastung mehr oder weniger eingehalten. Sommertraining mit Joggen, Radfahren und Rollskilaufen, Krafttraining und Schwimmen im eigenen Haus, Schneetraining bei Kurzausflügen in die Berge, auf den Loipen von St. Moritz und Davos, von Kitzbühel und Oberstdorf und an ein paar verlängerten Wochenenden in Schweden und Finnland. Die Zeit hatte er sich genommen. Mit zweiundfünfzig fühlte er sich keineswegs zu alt für eine solche Prüfung. Sibylle hatte versucht, ihn zum Tennisspielen oder Golf zu bewegen. Aber er hatte überhaupt kein Ballgefühl. Er liebte Ausdauer und Kraft. Das einzige, was ihm Sorgen machte, war sein Nervenkostüm. Noch waren die Risse darin so fein, das andere sie kaum bemerkten. Doch er selbst kam sich immer häufiger wie in einem abgeschabten Anzug darin vor.
Die Berge tauchten auf. Verdächtig klar und konturenscharf. Das deutete auf einen Wetterumschlag hin. In den letzten Tagen war es überall sehr schön gewesen. Kuster hatte bei seinem ersten Anruf aus St.Montis von traumhaften Bedingungen gesprochen. Doch ganz in der Ferne, im Südwesten, schien sich etwas zusammenzubrauen. Der Co-Pilot, nach dem er klingelte, bestätigte das. „In St.Montis müsste es morgen an sich noch schön sein“, sagte er. „Aber Sie wissen ja, wie das in den Bergen ist, Herr Bronner.“
Oh ja, das wusste er. Hoffentlich würde ihn diesmal nicht das Wetter ein paar hundert Plätze kosten. Die höheren Lagen der Berge, er schätzte so ab tausend Metern, waren noch schneebedeckt. Vor fünfzehn Jahren, als er den Unternehmensbereich in München geleitet hatte, war er regelmässig zum Wandern und Skilaufen in die Alpen gefahren. Die boomenden Achtziger hatten vor ihnen gelegen, und trotz ein paar kleinerer Rezessionen hatten sie alle geglaubt, es gehe immer so weiter. Auch er. Obwohl es an Warnungen nicht gefehlt hatte. Und der grosse Schlamassel stand noch bevor.
Langsam sinkend flogen sie in einer weiten Schleife in das Hochtal hinein. Für einen Augenblick konnte er das Tal in seiner vollen Länge sehen, bis zu jenem fernen Punkt, an dem sie morgen früh starten würden. Die riesigen, ebenen Flächen der zugefrorenen und verschneiten Seen waren gut zu erkennen. Sie liessen das Tal recht breit erscheinen. Zwischen ihnen jedoch war es gleichsam eingeschnürt. In den Verengungen, die jeweils ein paar Kilometer lang waren, erstreckten sich auf leicht gewelltem Land lockere Wälder. In diesen ‚bottlenecks’ würden sie nur langsam voran kommen, oft sogar zum Stillstand. Besonders in den hinteren Regionen des Feldes, wo viel unerfahrenes Volk mitlief, das mit den leichten Aufstiegen und Abfahrten nicht zurecht kam. Genau wie im Leben. Er musste früh versuchen, möglichst weit nach vorne zu gelangen, wo man zügig voran kam, wo einem nicht ständig jemand im Weg lag. Er freute sich auf diese Herausforderung und auf Olivia, die er gleich in den Armen halten würde. Wenn das Wetter so bliebe, so klar und heiter, würde er es diesmal schaffen. Doch es war ihm nicht entgangen, dass weit hinten , wo das Tal in den Horizont mündete, ein tückisches Gemisch aus Dunst und Wolken hing, das nur darauf zu warten schien, Unheil zu stiften.
Sie flogen jetzt sehr tief. Rechterhand, auf der Nordseite des Tals, schlängelte sich die Strasse entlang. Linkerhand bog ein breites Seitental nach Süden ab. An dieser Stelle, an der das Ziel des grossen Laufs lag, war die Landschaft offen. Die ersten Häuser von St.Montis tauchten auf. Der Ort zog sich vom Talboden wie auf breiten Terrassen den Südhang hinauf. Über allem thronte das Grand Palace mit seinen malerischen Türmen. Sicher stand Olivia dort am Fenster und sah den kleinen weissen Learjet hereinschweben. Übermütig band Hilmar X. Bronner seine Krawatte ab und steckte sie in die Jackentasche.
Kuster erwartete ihn in dem bungalowartigen Flugplatzgebäude. In der kleinen Halle, in der sonst selten jemand anzutreffen war, hantierte eine Menge Leute mit grossen, bunten Sporttaschen und Skisäcken.
„Es sind kurz hintereinander fünf Flugzeuge gelandet“, sagte Kuster. „Wie immer schon ziemlich viel Betrieb überall. Ihre Startnummer habe ich bereits geholt. Demoiselle ist schon am frühen Nachmittag eingetroffen.“
Demoiselle war Olivia.
“Klappt ja alles wieder ausgezeichnet”, sagte Bronner, und seine Stimme klang so ganz anders als ein paar Stunden zuvor in der unseligen Stellenabbaukonferenz.
Kuster war vor zwei Tagen mit dem Gepäck nach St.Montis gefahren. Ein kleiner, untersetzter Mann, sehr wendig, sehr aufmerksam. In St.Montis, wohin Hilmar X. Bronner stets ohne Sicherheitsbeamten reiste, war Kuster nicht nur Chauffeur und Mädchen für alles, sondern auch Bodyguard. Obwohl ein Anschlag auf Bronner in dieser heilen Welt als höchst unwahrscheinlich eingestuft wurde, nahm Kuster seine Aufgabe sehr ernst. Nur beim Skilauf konnte er seinen Herrn nicht begleiten, weil er diesen Sport nicht beherrschte.
In einem unauffälligen Wagen, den Kuster sich der Camouflage wegen geliehen hatte, fuhren sie zum Grand Palace hinauf. Dafür, dass sie sich auf gut fünfzehnhundert Metern Höhe befanden und der Abend nahte, war es milde. Der Winter war nie richtig kalt gewesen. Im Ort lag kaum noch Schnee. Die Strassen waren überaus belebt, standen schon ganz im Zeichen des morgigen Grossereignisses und des allabendlichen Après-Ski-Rummels. Die Anti-Pelz-Bewegung ‚lieber nackt als Pelze tragen’, die in den Grossstädten gern herumpöbelte, wäre hier oben von einer Flut edlen Pelzwerks erstickt worden. Wer sich nicht in Pelze hüllte, tummelte sich in anderen noblen Outfits. In St.Montis war das Zur-Schau-Stellen von Reichtum ‚in’. Es wurde erwartet. Für die Teilnehmer am Volkslauf, die hier nächtigten, traf die Bezeichnung Volk eigentlich nicht zu. Während des Laufs selbst aber gab es keine Klassenunterschiede. Es sei den solche der sportlichen Fähigkeit. Hilmar X. Bronner wollte sowohl als auch dazu gehören.
Kuster steuerte den Lieferanteneingang des Hotels an, wo der Direktor des Grand Palace seinen Gast wie zufällig empfing. Bronner und er waren im Lauf der Jahre Duzfreunde geworden, der Spitzenmanager und der Spitzenhotelier. Während Kuster dezent abtauchte, fuhren die beiden Herren mit einem Personallift nach oben. Unter dem Namen seines Chauffeurs, unter dem er auch an den Start des Volkslaufs gehen würde, bewohnte Hilmar X. Bronner die Blaue Suite im Westturm. Für einen Augenblick verharrten die beiden Herren in einer lauschigen Nische und tauschten Neuigkeiten aus. Dann konnte Bronner das sinnliche Verlangen, das ihn jedes Mal kurz vor einer Begegnung mit Olivia Pellier überkam, nicht mehr zügeln. Die letzten Schritte taten ihm körperlich weh.
Sie öffnete auf das vertraute Kurzkurz-Langlang-Klingeln. „Ksaviè“, hauchte sie, als er sie an sich zog. „Oh, Ksaviè.“
Sie war die einzige, die aus dem X. in seinem Namen etwas machte. Alle anderen benutzten es nur für Schmähungen und alberne Sprüche. Er hatte ernsthaft erwogen, sich nur noch Hilmar zu nennen, was distinguiert genug klang. Doch Olivia hatte dieses X, dieses Xaver, sie sagte Ksaviè, zum Kosenamen erkoren. Also hatte er es nicht gestrichen, und die Strasse skandierte weiter ‚bei Hilmar X. geht nix. Doch die Strasse hatte ihn noch nie bei einer Umarmung mit Olivia Pellier gesehen. Da ging durchaus etwas. Sie schafften es nicht einmal bis ins Schlafzimmer. Die Kleider hinter sich verstreuend endeten sie auf der riesigen Couch vor dem Panoramafenster, durch das man, ähnlich wie vom Flugzeug aus, weit das Tal entlangschauen konnte.
Als Ksaviè sich nach geraumer Zeit wieder aufrichten konnte, legte sich die Abenddämmerung über die Rennstrecke.
„Das kostet dich genau hundert Plätze“, schnurrte Olivia befriedigt.
„Mindestens“, stöhnte er. „Wir hätten uns erst morgen Abend treffen sollen“.
„NACH dem Lauf? Da bist du doch völlig kaputt“, lachte sie und versuchte, ihn mit ihren langen Beinen wieder zu sich herunter zu ziehen.
„Du untergräbst ganz perfide meine Kondition“, protestierte er. Es war schwer ihr zu widerstehen.
Sie liessen das Abendessen aufs Zimmer kommen. Er hatte sich während der letzten Wochen bemüht, einen Speiseplan für Ausdauersportler einzuhalten. Die empfohlene Relation von Kohlehydraten, Proteinen und Fett war ein Geschäftsessen nicht immer erreichbar gewesen. Umso lieber liess er sich jetzt eine ausgezeichnete Pasta alla Casa und ein grosses Steak servieren. Auf Alkohol verzichtete er. Olivia trank eine halbe Flasche Weisswein zu ihrem Filet de Daurade und wurde danach wieder gefährlich munter. Er überredete sie zu einem abendlichen Spaziergang durch den Ort und gab Kuster telefonisch Bescheid. Das tat er mehr, um Kuster zu beruhigen als aus Sicherheitsgründen. Sie verliessen das Hotel durch einen Hinterausgang, und der kleine Mann folgte ihnen in einer Entfernung, in der er kaum nützlich sein konnte.
In ihrem kurzen Silberfuchsmantel – mein Gott, die Tierschützer! – und den schenkelhohen, weichen Stiefeln wirkte sie leicht provozierend. Ein Klatschkolumnist hatte sie einmal als Edelnutte bezeichnet, aber er und sein Blatt hatten teuer dafür bezahlen müssen. Olivia Pellier, Anfang dreissig, war die Tochter eines bekannten französischen Bankiers, der es ihr ermöglichte, sich die Zeit zu vertreiben. Sie war, nicht unbedingt dem Jet-Set folgend, mal hier, mal dort, war zweimal verheiratet gewesen, liess sich aber am liebsten Demoiselle nennen. In Hilmar Ksaviè Bronner hatte sie sich verliebt. Das hielt jetzt schon seit einigen Jahren an. Wahrscheinlich, weil sie sich nur selten sahen. Was Olivia zwischen ihren Begegnungen trieb, wusste Bronner nicht genau. Er hatte auch nie Zeit, darüber nachzudenken. Wenn er sie um ein Treffen bat, war sie meistens gut gelaunt zur Stelle, ohne irgendwelche Ansprüche zu stellen. Das war fast zu schön, um wahr zu sein.
Mitten auf der Strasse legte er ihr den Arm um die Taille und versprach, ihr nach seiner Rückkehr vom Volkslauf das aparte Winterensemble von Armani zu kaufen, das sie gerade in der Auslage einer Nobelboutique gesehen hatten.
Sie schlenderten bis auf den kleinsten der vier zugefrorenen, verschneiten Seen hinunter, wo unter Flutlicht noch an den Zieleinrichtungen gearbeitet wurde. Hier würde er morgen ankommen, mit letzter Kraft. Jeder Beinabstoss, jeder Stockschub eine Qual, die Herzfrequenz am Rand des Messbaren. Doch er würde es wieder geschafft und wieder ein paar hundert Plätze gut gemacht haben. Er genoss das grossartige Gefühl nach dem Zieleinlauf im voraus, was, wie die Ereignisse zeigen werden, sehr vernünftig war.
„Soll ich dich morgen Mittag hier erwarten?“ fragte Olivia.
„Nicht in diesem Gewühl“, sagte er. „Bleib im Hotel, Liebes. Wir werden morgen Abend nicht im Zimmer essen, sondern zum Diner Dance hinuntergehen und meinen Erfolg, toi, toi, toi, feiern“.
„Tanzen?“ strahlte Olivia. „Wir haben schon lange nicht mehr miteinander getanzt, Ksaviè.“
„Das stimmt“, sagte er.
Überall würde es morgen Abend lustig zu- und hergehen. Sie hatten am Rand des Ortes sogar zwei beheizbare Zirkuszelte aufgestellt, in denen der Volkslauf-Ball stattfand. Ein Zugeständnis des Verkehrsvereins an all jene, für die St.Montis eine Spur zu teuer war.
„Wir werden tanzen“, jubelte Olivia und drehte sich ein paar Mal um sich selbst.