Читать книгу Ein schrecklicher Volkslauf Spo(r)ttbericht - Peter Axel Knipp - Страница 7

4 Lydia Lindt und ihr Gefolge

Оглавление

Anders als Hilmar X. Bronner, Katinka Blank und Robert Kissinger reiste Lydia Lindt nicht am Vorabend des Laufes an. Sie war bereits seit einigen Tagen in St.Montis und residierte in der „Villa Musica“, Die ihr der Tenor Ernesto Carpado, den sie etwas vermessen als guten Freund bezeichnete, zur Verfügung gestellt hatte. Der Maestro stellte seine Villa allen möglichen Leuten zur Verfügung, allein um das Personal zu beschäftigen. Er selbst kam nur sehr selten nach St.Montis und schon gar nicht, wenn Lydia Lindt da war.

Auch Lydia Lindt war Sängerin, jedoch eine der sehr leichten Muse, des anspruchlosen Schlagers. Vor zwanzig, dreissig Jahren waren sie und der Slogan „Leise Lieder von Lydia Lindt“ recht bekannt gewesen. Ihre Stimme war der von Nana Mouskouri nicht unähnlich gewesen, doch hatte sie es nie zu deren internationaler Berühmtheit gebracht.

Schliesslich war es still um sie geworden. Die leisen Lieder waren immer leiser geworden. Sie hatte sich, gelegentlich Werbeweisen für sanfte Weisen trällernd, in ihr Häuschen in den Bergen, nicht im teuren St:Montis , zurückgezogen. Dort hatte sie Stimme und Gitarrenspiel mit täglichen Übungen und ihren Körper mit Skilanglauf für ein erhofftes Revival in Form gehalten. Nun schien es endlich soweit zu sein. Sie war kürzlich zu einer bekannten Musiksendung im Fernsehen eingeladen worden, in der ein Komponist geehrt wurde, dessen Melodien auch zu ihrem Repertoire gehörten. Völlig unerwartet hatte sie grossen Erfolg gehabt. Es schien, dass leise Lieder in den Zeiten von Techno, Punk und Heavy Metal wieder gefragt waren. Ein neues Management bemächtigte sich ihrer, PR-Gags waren angesagt.

Sie selbst, in der Loipe inzwischen versiert, hatte die Idee gehabt am Vier-Seen-Lauf teilzunehmen und eine Fotoreportage davon machen zu lassen. Angefangen bei ihren gymnastischen Vorbereitungen bis zum festlichen Abschluss im Grand Palace von St.Montis, wo sie vielleicht noch ein leises Lied singen würde. Eine Boulevard-Illustrierte war darauf eingestiegen. Das Projekt wurde unter dem Titel „Mit Lydia Lindt am Vier-Seen-Lauf“ in Angriff genommen. Fotoreporter war ein ehemals renommierter Langläufer, Bodo F. Er war am Morgen in der Villa Musica eingetroffen und hatte Lydia Lindt beim Beweglichkeitstraining und beim Stretching im Schnee von der Dehnung der vorderen Schienbeinmuskulatur bis zu der des Deltamuskels abgelichtet. Und er hatte der Fünfundfünfzigjährigen mehr als ein Kompliment wegen ihrer guten körperlichen Verfassung machen müssen.

Bodo F. würde jedoch nicht der einzige Gefolgsmann von Lydia Lindt während des Laufs sein. Als Leibwächter sozusagen oder als Rammböcke, die sie im Gedränge beschützen und Platz für einwandfreie Fotos schaffen sollten, hatte sie Olaf, ihren stämmigen Skilehrer nordischer Herkunft mitgebracht und erwartete um diese Stunde Enzo, einen Macho aus südlichen Gefilden, mit dem sie ein Verhältnis hatte. Da sie früher auch mit Olaf mehr als nur ihre Skier verbunden hatte, konnte es sein, dass die beiden Leibwächter sich nicht besonders verstanden. Eine Buhlerei der beiden, vielleicht sogar eine Handgreiflichkeit wegen ihr, der wieder entdeckten Sängerin, konnte ihrer Publicity indes nicht schaden. Was Enzo anbetraf machte sie sich allerdings Sorgen, ob der den Lauf überhaupt durchhielt. Sie glaubte nicht, dass er in der Loipe so gut war wie im Bett. Auf ein paar kürzeren Touren mit ihm hatte sie festgestellt, dass ihm in der Loipe vor allem die technischen Fähigkeiten fehlten. Einen so langen Lauf würde er kaum mit purer Kraft bewältigen können. Wie dem auch sei, er hatte sich ihr zur Verfügung gestellt, und wenn er schlapp machte, musste er aussteigen. Er würde nicht der einzige sein. Wichtig war, dass Bodo F. und seine Kamera nicht abhanden kamen.

Sie spielte auf Carpados Flügel ein paar Leichte Melodien, ihr Klavierspiel war bescheiden, und überlegte, ob sie später zum Essen ins Grand Palace fahren solle und wenn ja, mit wem. Oder ob es besser sei, mit ihrem Gefolge in der Villa zu speisen. Doch dann fiel ihr ein, wie werbewirksam es wäre, wenn sie wenigstens am Vorabend des Volkslaufs die Nähe des Volkes suchte und zusammen mit ihren drei Sportkameraden in eines der urwüchsigen Bergrestaurants ginge, von denen es einige in der Umgebung gab. Das waren Plätze, an denen Bodo F. fantastische Fotos schiessen konnte. SIE am Vorabend des sportlichen Grossereignisses inmitten der erwartungsvollen Volksläufer und Volksläuferinnen, auf Holzbänken, an Holztischen, vielleicht ein Kaminfeuer im Hintergrund oder ein ausgestopfter Steinbock. Natürlich nur ein Mineralwasser vor sich. Enzo dinierte lieber an schicken Plätzen, würde im mondänen St.Montis wenig Verständnis für einen Ausflug in ein Bergrestaurant haben. Aber es ging hier nicht um ihn, sondern um sie. Und wenn sie das Volk morgen schon wegdrücken musste, um zu guten Bildern zu kommen, wollte sie es doch heute Abend umarmen. Sie liess die Hausdame von Carpado kommen, die ihr empfahl, in die „Gletscherspalte“ oberhalb von Campost zu fahren, wo man leider nicht reservieren lassen könne, wo Madame aber in etwa die Atmosphäre fände, die sie suchte.

Als Enzo in einem Porsche, den ihm angeblich seine Mutter geschenkt hatte, die Einfahrt herauf kam, waren Bodo F. und Olaf der Skilehrer noch im Keller, wo sie über ihre Bretter fachsimpelten und stundenlang an ihnen herum bastelten. Lydia Lindt war froh, dass sie Enzo zunächst allein begrüssen und ihm sagen konnte, was ihm bevorstand: Ein derbes Abendessen in einem Bergrestaurant und, aus konditionellen Gründen, eine enthaltsame Nacht. Er würde sich fragen, ob er wirklich nur gekommen war, um sich auf zwei dünnen Latten fünfzig Kilometer weit durch die Landschaft zu quälen für eine Frau, die fast zwanzig Jahre älter war als er. Aber wie gesagt, es ging hier nicht um ihn, sondern ausschliesslich um sie. Ausserdem lebte er unter anderem von ihren Zuwendungen.

Leibwächter Enzo war in der Tat wenig begeistert von dem Abendprogramm, besonders als er hörte, dass zwei weitere Männer teilnahmen, die noch dazu über solide Langlauferfahrung verfügten. Das hatte die Sängerin ihm verschwiegen. Und schon gar nicht wollte er fotografiert werden. Mit Fotografen lag er in einer Dauerfehde, weil sie ständig seine Alibis zerstörten. Es wäre für alle sicher das beste gewesen, er hätte seine Drohung wahr gemacht und wäre sofort wieder abgereist. Aber Lydia Lindt vertröstete ihn auf den nächsten Abend und die folgenden Tage, die sie nur für ihn reserviert habe. An denen sie sich ganz dem Schickerialeben in St.Montis hingeben würden. Überdies könne er vom Aufleben ihrer Karriere profitieren. Das interessierte ihn am meisten und bewog ihn zu bleiben, nicht ohne herum zu nörgeln. So wollte er auf keinen Fall in Olafs Jeep zur „Gletscherspalte“ hinauffahren, sondern mit Lydia in seinem Porsche.

Mit dem komme er da nicht rauf, liess die Hausdame wissen.

Er könne ja die Seilbahn nehmen oder zu Fuss gehen, schlug Olaf vor.

Die Sängerin hatte Mühe zu vermitteln.

Schliesslich fuhren sie doch alle im Jeep und drängten gemeinsam in die überfüllte „Gletscherspalte“, in der es zwar keinen Kamin dafür aber gleich ein Dutzend ausgestopfter Exemplare der einheimischen Hochgebirgsfauna gab. An den Wänden hingen kapitale Geweihe, und über allem schwebte ein einäugiger Steinadler.

Volksläufer schienen sich in diese Höhe kaum verirrt zu haben. Tonangebend waren tempogewohnte Alpinskifahrer, die nach der Schliessung der Pisten bei Kaffeeschnaps, Jägertee und Grog hängen geblieben waren. Einige von ihnen waren schlichtweg betrunken und würden Mühe haben, bis zur nahen Seilbahn zu kommen, die am Abend ein paar Sonderfahrten durchführte.

Lydia Lindt störte sich nicht daran. Sie liess von ihrem Gefolge Platz schaffen, strich sich ihr nachtschwarz getöntes Haar zurück, wie früher am Ende ihrer leisen Lieder, und gab sich zu erkennen. Aber es erkannte sie niemand. Noch nicht. Gerade das würde sich nun bald wieder ändern. Sie bestellten Rahmschnitzel mit Bandnudeln, alle Volksläufer assen an diesem Abend Teigwaren, und die Männer genehmigten sich ein Glas Wein dazu.

Bodo F., durch die Alpinen und den fotoscheuen Enzo verunsichert, schaute sich nach passenden Gruppierungen um. Es entging ihm nicht, dass sich die beiden Leibwächter wie zwei Kampfhunde belauerten, die sich über die Stärke des anderen nicht im klaren sind. Bei Gelegenheit, dachte er, werden sie aufeinander losgehen. Warum hat sie die nur mitgenommen? Der Norweger verstand wenigstens etwas vom Langlauf, aber der andere...? Ob der überhaupt skaten konnte? Wahrscheinlich schlief der mit der Sängerin. Bestimmt nicht nur mit ihr. Wenigstens sollte ihn das nicht jucken. Er musste gutes Bildmaterial abliefern. Das würde er. Den Vier-Seen-Lauf hatte er früher ein paar Mal mitgemacht. Von der Topographie her nicht schwer. Wenn man sich viel Zeit nehmen konnte fast ein Vergnügen. Aber doch fünfzig Kilometer. Ob sie da am Ende noch so strahlend lächeln würde? In der Redaktion hatte ihm jemand eine Kasette mit ihren bekanntesten Liedern gegeben. Damit er sich auf sie einstimmen konnte. Ob sie damit wirklich noch einmal Erfolg haben würde? Heute, da allles kaum älter wurde als eine Spur im Schnee. Für ihr Alter hatte sie sich gut gehalten. Nur ein wenig hektisch war sie, zappelig. Gar nicht wie die Lieder, die sie sang. Vielleicht hatte sie deshalb auch keinen Mann mehr. Na ja, nicht seine Sache.

Lydia Lindt tat nichts, um die Spannung zwischen ihren beiden Leibwächtern, die ständig aneinander herumstichelten, abzubauen. Sie liess aber auch nicht zu, dass Enzo seine Favoritenrolle bei ihr ausspielte. Als er sie umarmen wollte, entzog sie sich ihm, und er erntete ein hämisches Grinsen von Olaf. Für den Volkslauf brauchte sie Olaf viel mehr als Enzo, denn nur Olaf konnte ihr sagen, auf welchen Skiern sie laufen musste. Hatte sie selbst doch keine Ahnung von Schneearten, Belägen und Wachsen. Königlich dreinblicken, war ihr Leitgedanke. Hin und wieder die Haare zurückstreichen wie früher am Ende ihrer Auftritte. Das würde den ein oder anderen vielleicht an sie erinnern. Mit den späteren Bahnen kamen jetzt noch ein paar Ältere herauf, Leute ihrer Generation.

Bodo F. hatte sich entschuldigt, um in dem weitläufigen Lokal auf Motivsuche zu gehen. Er musste sie von den Kampfhunden weglocken, die allein durch ihre Nähe ein Bild verderben konnten. Selbst wenn sie gar nicht mit drauf waren. Er hoffte, dass sie morgen irgendwie verloren gingen. Sich ineinander verbissen und auf der Strecke blieben.

Und dann geschah es doch noch. Eine der älteren, vollbusigen Kellnerinnen, die die „Gletscherspalte“ fest im Griff hatten, blieb beim Servieren des Kaffees neben ihr stehen und fragte so laut, dass auch andere es hören konnten:“Sind Sie nicht Lydia Lindt, die Sängerin?“

Sie war nahe daran, dem strammen Weib um den Hals zu fallen. Doch sie beherrschte sich, versuchte natürlich zu bleiben, leutselig. „Ja, die bin ich“, antwortete sie freundlich, als werde sie das hundertmal am Tag gefragt.

„Ich habe immer geheult bei ihren Lieder“, sagte die Kellnerin. „Besonders bei dem von der Sehnsucht. Sehnsucht, Sehnsucht, verlass mich nie...“. Sie versuchte, die Melodie zu finden und Lydia Lindt half ihr überglücklich.

„Nein so was, wenn ich das meinen Kolleginnen erzähle. Da sind noch ein paar andere, die Sie bewundert haben.“ Das Tablett in ihren Händen begann zu zittern. Alle Kaffeetassen bekamen Fussbäder.

„Wissen Sie was“, sagte Lydia Lindt, „wir machen gerade eine kleine Reportage, weil ich morgen am Volkslauf teilnehme. Wenn Sie möchten, lassen wir uns alle zusammen fotografieren. Das bin ich so treuen Fans schuldig.“

„Wirklich? Das würden Sie tun?“ Die Kellnerin stellte das lästige Tablett ab. Der letzte Kaffee schwappte in die Untertassen.

„Natürlich“, die Sängerin und strich ihr Haar zurück. „Trommeln Sie ihre Kolleginnen zusammen.“

So kam Bodo F. zu ein paar recht fidelen Fotos. Lydia Lindt inmitten der Kellnerinnen, das Küchenpersonals und anderer, Volksläufer, wie es später hiess, die sie plötzlich zu erkennen glaubten. Vor der Theke, am Stammtisch, vor dem letzten Wolf, der Anfang des Jahrhunderts hier erlegt worden war.

Und dann bestanden die Kellnerinnen darauf, dass sie das Lied von der Sehnsucht sänge. Der Gittarist, der im Hintergrund herum klimperte, hatte dieses leise Lied noch nie gehört, aber er lieh ihr seine Gitarre, und Lydia Lindt begleitete sich selbst. Für ein paar Minuten wurde es still in der „Gletscherspalte“. Sogar die lärmenden Alpinen zeigten sich solidarisch. Ein besseres Omen konnte es für den Lauf morgen nicht geben, dachte Lydia Lindt und strich nach dem letzten Ton das Haar zurück.

Alle waren sich durch die Sehnsucht näher gekommen. Nur die beiden Leibwächter nicht. Die waren sich dafür körperlich gefährlich nahe gekommen.

„Solange ich unter einem Dach mit ihr schlafe, wirst du nicht auf sie steigen“, sagte Olaf der Nordländer.

„Ich steige auf wen ich will und wann ich will. Wenn du nicht aufpasst, steige ich sogar auf dich“, kläffte Enzo zurück.

Doch an diesem Abend blieb die Sängerin noch Herrin über ihr Gefolge.

Ein schrecklicher Volkslauf Spo(r)ttbericht

Подняться наверх