Читать книгу Ein schrecklicher Volkslauf Spo(r)ttbericht - Peter Axel Knipp - Страница 6

3 Robert Kissinger

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Ursprünglich hatte er die romanischen Dome von Worms und Speyer, die nicht soweit auseinander lagen, auf dem Hinweg besichtigen wollen. Doch die zwei zusätzlichen Tage, die er dafür benötigte, hatten sich vor dem Lauf nicht einplanen lassen. Sie hatten mit dem neuen Projekt soviel zu tun gehabt, dass er froh gewesen war, wenigstens am Freitagmorgen wegzukommen. Die Fahrt aus dem Thüringer Wald in jenes ferne Hochtal, in dem die Ortschaften fremd klingende Namen wie Madulan, Campost, Fedors und Zens hatten, glich einer kleineren Odyssee. Zumal er die Bahn nehmen musste, weil sein Partner das Auto brauchte. Fünf oder sechs Mal hatte er umsteigen müssen, und die Reise mit dem späteren Umweg über Worms und Speyer war nicht gerade billig. Egal. Es war immer sein Wunsch gewesen, an den berühmtesten der grossen Volksskiläufe teilzunehmen. So wie Opern-Fans in die Skala nach Mailand oder in die Met nach New York fuhren. Bis vor wenigen Jahren hatten die politischen Verhältnisse, das Ausreiseverbot, solche Exkursionen nicht zugelassen. Jetzt musste er die verlorene Zeit wettmachen. Vor vier Jahren hatte er den Dolomiten-Lauf mitgemacht, vor zwei Jahren den anspruchsvollen Wasalauf in Schweden. Dieses Jahr nun den Vier-Seen-Lauf. Dann standen immer noch ein paar Grosse bevor: Der Engadiner Skimarathon, der Finlandia Hihto, die Transjurasiene, der König Ludwig Lauf, der American-Birkebeiner und andere.

Robert Kissinger, der Name hatte ihm während des kalten Krieges einmal Ärger gemacht, war schon als Junge mit seinem Vater, einem Forstbeamten, stundenlang auf Skiern durch die heimischen Wälder gezogen. Talentsucher waren auf ihn aufmerksam geworden und er war gefördert worden. Für kurze Zeit war er Mitglied des DDR Juniorenkaders im Skilanglauf gewesen. Doch er bewies keine Regime-Konformität, galt als Querdenker und Einzelgänger und wurde als Leistungssportler fallen gelassen. Es wurde ihm indes nicht verboten, tausende von Kilometern allein abzuspulen. Er hatte Architektur studiert und sich, auch so ein provozierendes Unding, auf den Erhalt und die Sanierung von sakralen und geschichtlich bedeutenden Bauten spezialisiert. Nach der Wende war er gefragt gewesen.

Er war also an diesem Morgen in aller Frühe aufgebrochen, war in langsamen und schnelleren Zügen nach Süden gereist und hatte feststellen müssen, dass die Bahn auf keinen Fall das Transportmittel der Zukunft werden würde. Bei Einbruch der Dunkelheit war er ein letztes Mal umgestiegen, in eine Privatbahn, die sich überfüllt in die Berge hinauf kämpfte. An einer der nächsten Stationen mit den seltsamen Namen war eine junge Frau zugestiegen. Sie hatte eine schwere Sporttasche in den Mittelgang gewuchtet und selbst dort stehen müssen. Sie schien tief in Gedanken versunken zu sein. Nach einiger Zeit bot er ihr seinen Platz an. Sie lehnte dankend ab. Er war nicht sicher, ob sie ihn überhaupt verstanden hatte. Dann kam eine Station, an der es Platz gab. Die Frau stemmte, noch bevor er helfen konnte, ihre Tasche auf die Gepäckablage und liess sich schräg gegenüber von ihm in die Ecke fallen. Sie schloss sofort die Augen.

Robert Kissinger betrachtete sie aufmerksam. Seitdem Eva ihn kurz nach der Wende verlassen hatte, um endlich die grosse Welt kennenzulernen, war er auf Frauen nicht gut zu sprechen. Jedenfalls hatte er sich mit keiner mehr so andächtig beschäftigt wie mit seinem Gegenüber. Wenigstens zum Schluss der Reise ein schöner Anblick. In den anderen Zügen war in der Hinsicht nicht viel los gewesen. Hübsche Frauen schien es in der Bahn noch seltener zu geben als guten Service. Einmal öffnete sie erschreckt die Augen, als habe sie schlecht geträumt, schaute ihn intensiv an, lächelte ihm zu und liess die Lider mit den langen Wimpern wieder über das uferlose Blau gleiten.

Er fragte sich, ob sie auch am Lauf teilnehmen werde. Sie wirkte sportlich und doch sehr fraulich, und er konnte sich vorstellen, dass sie in der Loipe eine gute Figur machte. Eine von den Frauen, die, wenn sie am Ziel Brille und Mütze abnahm, von den Kameras gern eingefangen wurde. Noch einmal öffnete sie verwirrt die Augen, schaute fast verlegen in die Runde, musterte ihn, lächelte ihm wieder zu, hüllte sich in ihre flauschige Jacke und schlief weiter.

Beim Aussteigen wechselten sie ein paar Worte. Sie sprach Hochdeutsch, ohne ihren Dialekt ganz verleugnen zu können. Als er sich auf dem Bahnsteig noch einmal nach ihr umdrehte, winkte sie ihm zu. Schade, dass diese Begegnung nicht ein paar Stunden früher stattgefunden hatte. Sein schönes Gegenüber nahm sicher am Lauf teil, doch er würde sie dort kaum wiedersehen.

Er fragte nach Leos Massenlager. Man sagte ihm, er müsse ein gutes Stück laufen. In Richtung Startgelände, über die Parkplätze und ein paar Meter den Berg hinauf. Verpassen könne er es nicht. Leo habe auch ein Restaurant, das beleuchtet sei wie ein amerikanischer Hamburger-Schuppen.

Robert Kissinger kannte die Atmosphäre bei diesen Volksläufen. Schon am Vorabend kam man sich in den Orten entlang der Rennstrecke wie in grossen Heerlagern vor. Nur dass Freund und Feind bis zum Beginn der Schlacht einträchtig nebeneinander sassen, tranken, sangen, gelegentlich sogar tanzten und sich, was den Einsatz ihrer Waffen, sprich Skier betraf, mehr oder weniger ehrliche Ratschläge gaben.

Jenseits der weiten Parkplätze am Ortsausgang, auf denen schon jetzt tausende von Autos standen, konnte er in greller Neonschrift „Bei Leo“ erkennen. Einem Geschäftsfreund war es gelungen, ihm dort einen Schlafplatz zu vermitteln. Leo selbst, ein allgegenwärtiger Recke, zeigte ihm das schmale Matratzenlager, auf dem er, eingepfercht zwischen anderen, die Nacht vor der Schlacht verbringen konnte. Den Rucksack, sagte Leo, könne er getrost dort stehen lassen. Bei ihm, Leo, werde Mein und Dein kraft seiner Person geachtet. Was Robert ihm aufs Wort glaubte.

Unten, in der verrauchten Gaststube, die genau Leos Höhe angepasst war, in der es aber umso höher zuging, fand Robert Platz am Tisch einer Gruppe junger Leute aus dem Unterland. Sie hatten, wie sie in ihrem schwer verständlichen Dialekt wissen liessen, nichts gegen einen Ausländer, der nur zum Vier-Seen-Lauf angereist war und danach wieder abreisen würde. Robert kannte solche Sprüche von zu Hause, und er wusste längst, dass man nicht Neo-Nazi sein musste, um sie zu verstehen. Er ass eine kräftige, einheimische Gerstensuppe und ein Steak vom Grill, das Leo persönlich servierte. An einigen Tischen wurde reichlich getrunken. Nicht alle, waren sie nun Teilnehmer oder nicht, schienen von einem unbeugsamen, sportlichen Willen bewegt zu sein, ja es kam Robert so vor, als entdecke er ein paar Typen, die den Sport zum Vergnügen machen wollten, was ihn ausserordentlich beruhigte. Er bestellte sich ein grosses Bier und streckte die Beine unter dem Tisch aus. Das Rollen der Züge verschwand allmählich aus seinen Ohren. Die jungen Leute fragten ihn, ob er schon einmal einen so langen Lauf gemacht habe. Den Dolomitenlauf und den Wasalauf, sagte er. Der sei noch fünfunddreissig Kilometer länger als der Vier-Seen-Lauf. Da waren sie beeindruckt und bemühten sich Hochdeutsch mit ihm zu sprechen.

Später ging er nach draussen auf die Terrasse hinaus. Auf den Parkplätzen kamen immer noch Autos an. Er fragte sich, wo all diese Leute unterkamen. So gross konnte Madulan gar nicht sein. Von hier oben aus waren die Grenzen des Ortes anhand der Lichter gut auszumachen. Der richtigen Ansturm würde erst morgen früh einsetzen. Er wusste gar nicht, wie viele Teilnehmer es sein würden. Bestimmt über zehntausend. Da würde es schon im Startgelände, das sich in der Dunkelheit nur erahnen liess, recht eng werden. Irgendwo in der Menge würde die Frau sein. Es kam darauf an, welche Startnummer sie hatte. Seine eigene musste er am Morgen holen.

Er lief ein paar Mal auf der Terrasse auf und ab und plötzlich roch er den Schnee. Nicht den, der am Boden lag, sondern den, der in weniger als vierundzwanzig Stunden vom Himmel fallen würde. Robert Kissinger, Naturmensch von Geburt, hatte ein ausgeprägtes Gespür für Wetterumschläge. Noch war der Himmel über Madulan und weiter östlich, wohin der Lauf führte, sternenklar. Am westlichen Ende des Tals jedoch war er wie abgeschnitten. Himmel und Berge gingen dort bereits konturenlos ineinander über. Es war noch immer ungewöhnlich milde. Bei einem bevorstehenden Niederschlag konnte man fast mit Regen rechnen, doch Kissinger wusste, dass es ein nasser, schwerer Schnee sein würde. Grosse Flocken, wie er sie als Kind mit der Zunge aufgefangen hatte. Wenn sie Glück hatten, blieb der Schnee ein paar Stunden hinter ihnen. Wehe aber, wenn er sie überholte. Dann würden sie mit ihren Brettern wie durch einen Sumpf stampfen müssen. Er hatte das schon erlebt.

Lange blickte er gen Westen, wo sich die Vorhut der Wetterfront in das Tal zu wälzen begann. Es war allen Teilnehmern des Laufs empfohlen worden, den stündlichen Wetterbericht des Lokalradios zu hören. Demnach, hatten die jungen Leute am Tisch gesagt, müsse man am nächsten Tag möglicherweise mit tiefhängenden Wolken rechnen, aber es werde bis zum Abend trocken bleiben. Mir kann das einerlei sein, dachte er. Ich werde ziemlich weit vorne laufen, mittags in St.Montis sein, mich dort ein wenig umschauen, mit dem Bus nach Madulan zurückfahren, noch einmal bei Leo übernachten und mich am Sonntag auf den Weg zu den Domen machen.

Es war kurz nach elf, als er nach oben ging. In den Waschräumen und Toiletten herrschte Hochbetrieb. Er putzte sich die Zähne, wechselte aus der Reisekleidung in einen Trainingsanzug und kroch auf seinem Lager in einen Daunenschlafsack, in dem er schon wesentlich niedrigere Temperaturen überstanden hatte. Die Plätze rechts von ihm waren noch frei, links richtete sich gerade ein Mann seines Alters ein, der sich als Paolo vorstellte, Pater und Pfarrer von ein paar Berggemeinden an der Grenze zu Italien. Sie kamen ins Gespräch, der Mann, der etwas von Gottes Wort, und der, der etwas von Gotteshäusern verstand. Sie redeten leise über Menschen und Kirchen, über die Schwierigkeiten zur Rettung der einen das richtige Wort, zur Rettung der anderen das wichtige Geld zu finden. Sie politisierten vorsichtig, waren sich aber schnell einig, dass die meisten Demokratien verkappte Oligarchien und oder Plutokratien waren. Pater Paolo erzählte von der Einsamkeit in seinem Pfarrhaus, in dem seit einem halben Jahrhundert dieselbe Wirtschafterin hantierte, Robert erzählte von der Einsamkeit in seinem Waldhaus, in dem keine seiner Exfrauen es länger als ein paar Jahre ausgehalten hatte. Sie lachten leise wie zwei Verschworene, nicht wie Sportkameraden des grossen Ereignisses am nächsten Tag, das sie mit keinem Wort erwähnten. Sie kamen sich eher wie zwei Gefangene vor, die in einem tristen Verliess zueinander gefunden hatten. Aus dem Restaurant drangen Lärm und Gesang herauf, als sei der Lauf bereits zuende, und als würde eine Menge guter Platzierungen gefeiert. Dann kamen die rechten Nachbarn von Robert Kissinger, stark angeheitert, ungeniert furzend und rülpsend, was in Massenlagern zum guten Ton gehört. Es dauerte eine Weile, bis sie alle ihre Matratzen gefunden hatten und zur Ruhe kamen. Was nicht hiess, dass es nun still war im Haus. In der Gaststube ging es munter weiter, neue Gruppen polterten in den Schafsaal, und die Toilettenspülung schien jedes Mal das ganze Gebäude mitreissen zu wollen. Zur psychischen Vorbereitung auf einen Fünfzig-Kilometer-Skilanglauf war Leos Massenlager wenig geeignet. Und doch war es Leo selbst, der ihnen allen noch ein paar Stunden Schlaf verschaffte, derweil es gegen zwei Uhr morgens oder so nach seinem donnernden Ruf „von jetzt an herrscht Ruhe“ totenstill im Haus wurde.

Um diese Zeit träumte Robert Kissinger längst von einem Gestöber grosser Schneeflocken, aus dem ihm die Frau aus dem Zug zulächelte.

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