Читать книгу Ein schrecklicher Volkslauf Spo(r)ttbericht - Peter Axel Knipp - Страница 9

6 Das Volk

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Und was machte das Volk, das dem Lauf seinen Namen gab? Diese gesichtslose Masse, die sich in ein paar Stunden durch das Tal wälzen würde? Dieses bunt gekleidete, mit Stöcken und Brettern bewaffnete Heer?

Tausende der wackeren Kämpferinnen und Kämpfer, viele von ihnen mit Familien, Freunden oder Fans waren bereits in die ansonsten stille, verträumte Landschaft eingefallen. Wie gierige Heuschreckenschwärme frassen und tranken sie die Restaurants leer, bescherten dem Supermarkt in Madulan und zwei, drei anderen im Tal in wenigen Stunden Umsätze, die weit über einem Monatsdurchschnitt lagen, und legten kleinere Bars buchstäblich trocken. Nur wenige konnten es sich, wie Hilmar X. Bronner, leisten, mit Geliebten in Blauen Suiten zu nächtigen, nur wenige, wie Robert Kissinger, begnügten sich mit einem Massenlager. Die meisten hatte, oft Jahre im voraus, erschwingliche Hotelzimmer, Ferienwohnungen oder Privatunterkünfte gebucht. Die Vermieter stellten ihre letzten Schlafgelegenheiten zur Verfügung und verbrachten selbst die Nacht in der Badewanne oder zusammengekauert auf Stühlen hockend. Nach einer flauen Wintersaison war der Vier-Seen-Lauf die letzte Möglichkeit, die Finanzen ins Gleichgewicht zu bringen. Hotellerie, Gastronomie und ein paar Nebengewerbe, vertrauten darauf wie die Inder auf den Monsun. Was den Termin anbetraf waren die Inder im Nachteil, weil der Monsun nicht so zuverlässig kam wie der Vier-Seen-Lauf. Auch war ungewiss, was dieser an Geld und jener an Regen bringen würde. In Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs mussten gewisse Gewerbe trotz steigender Teilnehmerzahlen mit weniger Einnahmen rechnen. Allein die ständige Erhöhung des Startgelds liess den Leuten weniger Mittel für Nebenausgaben. In diesem Jahr jedoch schienen sie alle noch einmal auf den Putz hauen zu wollen, öffneten sich die Monsunwolken zu einem fruchtbaren Geldregen.

Es gibt so viele Gründe an einem Volkslauf teilzunehmen, wie es Teilnehmerinnen und Teilnehmer gibt. So gesehen gibt es gar keine Masse. Nur eine Ansammlung von Individuen, die von einem Punkt aus alle einem anderen Punkt zustreben. Die bestenfalls einen Wunsch gemeinsam haben: Dort anzukommen. So wie sie aber alle verschiedene Fingerabdrücke haben, sind auch ihre Gedanken, mit denen sie an den Start gehen, die sie während des Laufs beschäftigen, und die ihnen auf der Ziellinie durch den Kopf schiessen, verschieden. Nicht eine oder einer von ihnen denkt dasselbe. Sie lassen sich allenfalls in ein paar grosse Gruppen mit einem Grundgedanken zusammenfassen.

Die Harmlosesten und wahrscheinlich Redlichsten unter ihnen sind die, die einfach einmal mitmachen, aus reinem Vergnügen, gemischt mit ein wenig Neugier und Vorwitz. Sie wollen weder sich noch andere beeindrucken, betrachten den Rummel mit kindlichem Erstaunen, wirken etwas naiv und ahnungslos, suchen zutraulich das Gespräch mit jedem, nehmen während des Laufs sogar etwas von der Landschaft wahr und sind grundsätzlich bereit zu helfen, wenn jemand stürzt, kurzatmig wird oder Krämpfe bekommt. Sie laufen, sofern sie nicht überraschend talentiert sind, gewöhnlich im hinteren Drittel des Feldes. Es liegt ihnen nicht sich vorzudrängen, andere beiseite zu schieben, selbst wenn ihnen Kraft und Technik dazu gegeben sind. Ihre Persönlichkeit verändert sich im Sog des Feldes kaum, ist aber auch nicht stark genug, um irgendeinen Einfluss auf das Feld zu nehmen.

In der nächsten Gruppe finden wir die, die zumindest sich selbst etwas beweisen wollen. Sie sind nicht mehr ganz so harmlos. Stark mit sich selbst beschäftigt, registrieren sie ihre Umgebung nur vage, erkennen aber stets die Grenzen zur Rücksichtslosigkeit und richten nur geringen Schaden an. Sie suchen nicht treuherzig den Zugang zu anderen, sind aber hilfsbereit, weil das Teil ihrer Philosophie ist. Die Gefahr, dass sich ihre Persönlichkeit im Sog des Feldes verändert, ist bereits etwas grösser. Es kann sein, dass sie aufgestachelt werden, sich selbst überschätzen, und dann werden sie unberechenbar.

Eine weitere Spur gefährlicher sind die, die anderen etwas beweisen wollen. Sie lassen sich in Zweikämpfe mit sichtbaren oder imaginären Gegnern wie Uhren oder Platzierungen ein, zeigen ihrer Umgebung gegenüber wenig bis keine Nachsicht, freuen sich, so sie auf gute Plätze aus sind, über jede und jeden, der am Wegrand liegen bleibt, setzen sich ständig das Ziel, bestimmte Läufer vor sich zu überholen und triumphieren nicht selten mit einem hämischen Grinsen, wenn sie es geschafft haben. Sie sind in allen Teilen des Feldes zu finden, sogar in der Nachhut. Denn die Tatsache, dass sie anderen etwas beweisen wollen, beruht nicht immer auf einer angemessenen, sportlichen Qualifikation. Sie können im Sog des Feldes recht unangenehm werden, zum Beispiel wenn es ihnen nicht gelingt, anvisierte Nahziele wie die Frau mit dem dicken Hintern oder den gebrechlich wirkenden Alten vor sich zu überholen.

Weit schlimmer als die, die wenigstens noch Beweise ins Feld führen, sind die Fanatiker, die Angefressenen, die Vergifteten. Sie kennen kein Pardon. Rabiat und kaltschnäutzig zerteilen sie das Getümmel, stossen unbarmherzig in die kleinsten Freiräume vor, bedrängen ihre Vorderleute durch hautnahes Auflaufen, wechseln rücksichtslos die Spur, schneiden Wege ab und setzen ihre Stöcke gelegentlich zu unsportlichen Manövern ein. Sie sind die Autofahrer der Volksläufe. Es ist schwer zu sagen, wie sie sich verhielten, wären sie allein in der Loipe. Vermutlich wären einige von ihnen die friedlichsten Menschen. Doch zu viele ihresgleichen um sie herum treiben sie an den Rand des Wahnsinns.

Neben all diesen gibt es noch ein paar kleinere Gruppen. Die echten Sportler, die sich der Sache verschrieben haben und, sofern sie offiziell eingeladen werden, dem Geld, das es damit zu verdienen gibt. Ihr Laufstil ist professionell, ihre Ausrüstung optimal. Die meisten von ihnen tragen Etiketten von Sponsoren auf dem Stirnband, am Hosenrand oder auf den Ärmeln. Für Skier, Schuhe, Brille, Handschuhe, Unterwäsche und anderes besitzen sie Verträge. Das grosse Feld beachten sie kaum. Sie werden Elite genannt und verhalten sich den Amateuren gegenüber wohlwollend fair, was ihnen umso leichter fällt, als sie, gewöhnlich weit vor der Menge herlaufend, allen Platz der Welt haben und bereits im Ziel sind, wenn die letzten noch nicht einmal ihren Rhythmus gefunden haben. Vergessen wir diese Gruppe. Es gibt genügend andere, die sich um sie kümmert. Nicht zuletzt das Fernsehen. Denn der Sieger des Laufs kommt immer aus dieser Gruppe. Doch der Sieger spielt in dieser Geschichte überhaupt keine Rolle.

Bleiben noch Renommisten, Spinner und Ausdauer-Freaks. Randgruppen, die in so einem Wettbewerb kaum verstanden werden, wenn sie auch nicht selten für eine gewisse Heiterkeit sorgen.

Das ist eine sehr grobe Einteilung in ein paar Grundvorstellungen mit denen sich die Leute in den Vier-Seen-Lauf stürzen. Die ganz persönlichen Gedanken jeder und jedes Einzelnen aber bleiben so verschieden wie ihre Fingerabdrücke.

Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Leichtigkeit all diese Individuen zur Masse werden, wie sie sich zu einer Art Lemmingzug formieren, um über das Eis der Seen davonzuziehen. Sind ihren Gedanken und ihre Identität zweierlei? Nehmen sie die einen mit und lassen die anderen zurück? Stopfen sie am Start in den Kleidersack, den sie erst am Ziel wieder in Empfang nehmen? Oder ist es, weil sie eine Startnummer bekommen? Weil sie während des Laufs nur eine Nummer sind? Wir wollen uns hier nicht philosophisch über die Masse verbreiten, obwohl sie, im Gegensatz zum Sieger des Laufs, während der nächsten Stunden eine wesentliche Rolle spielt. Das Tun und Handeln einer Masse ist noch nie rationell erklärbar gewesen. Es lässt sich bestenfalls beschreiben. Und wenn wir uns darauf beschränken haben wir genug zu tun.

Kehren wir zum Vorabend des Ereignisses zurück. Noch waren viele von denen, die am Vier-Seen-Lauf, an unserem Zug der Lemminge teilnahmen, weit vom Ort des Geschehens entfernt. Sie würden sich erst in den frühen Morgenstunden auf den Weg nach Madulan machen. Zogen es vor, in ihren eigenen Betten zu übernachten. Wollten kein Geld für fremde Lagerstätten ausgeben oder hatten ganz einfach keine mehr bekommen.

Die meisten von ihnen, waren sie nun schon in der Nähe oder noch zu Hause, schliefen schlecht in dieser Nacht. Die fünfzig Kilometer beschäftigten sie seit Tagen. Debütanten fragten sich bis zur letzten Minute, ob sie einer solchen Herausforderung überhaupt gewachsen waren. Hatten sie im Sommertraining genügend für ihre Kondition getan? Für Kraft und Ausdauer? Hatten sie den zuende gehenden Winter, der im Unterland kaum Schnee gebracht hatte, optimal genutzt? Hatten sie genügend Dehn- und Beweglichkeitsübungen gemacht? Aduktoren, Rumpf, Rücken, Hüfte, all diese Muskeln im Bein? Beherrschten sie ihre Technik? War es nun das weit modernere, dem Schlittschuhlauf nicht unähnliche Skaten oder die alte Klassische Technik mit ihrem Diagonalschritt? Würden sie bei Richtungsänderungen, Aufstiegen und Abfahrten die richtigen Schrittkombinationen finden? Die richtige Körperhaltung einnehmen? Lag ihre Ausrüstung vollständig bereit? Hatten sie in ihrem Wachskoffer nichts vergessen? Für alle Fälle Paraffin dabei, wenn es mal gar nicht weitergehen sollte? Sollte man nicht doch lieber eine Stunde früher aufbrechen? Schon auf der Autobahn und bestimmt nach Madulan hinauf würde es Staus geben. Unvorstellbar, wenn man den Start verpasste, das Feld in der Ferne verschwinden sah, mit einer passablen Startnummer hinterher laufen musste. Ein Alptraum!

Selbst alte Hasen, die schon zwanzig Mal oder öfter teilgenommen hatten, fanden keinen erholsamen Schlaf. Bei ihnen war es nicht die Sorge um Können und Ausrüstung, um Bewegungsabläufe oder den Inhalt von Wachsboxen, sondern die Euphorie, dass es wieder soweit war, das Ambiente des Laufs, das sie schon Tage vorher gefangen nahm und ihnen den Schlaf raubte. Wenn sie nur die Augen schlossen , sahen sie sich in diesem breiten Strom von Körpern treiben, hörten das Gleiten von tausenden von Skiern auf dem Schnee, spürten den tausendfachen Atem um sich herum, das Keuchen, Japsen, Hecheln, Schnauben. Mit geschlossenen Augen sahen sie den strahlend blauen Himmel über sich, denn das Wetter meinte es beim Vier-Seen-Lauf fast immer gut, sahen links und rechts des breiten Tals die nicht allzu steil ansteigenden Berge mit bräunlich winterlichen Lärchen und immergrünen Arvenwäldern, die sich hier und dort in Felsrippen in die Höhe schoben. Und sie waren stolz, ein winziger Punkt dieses grandiosen Bildes zu sein, das Bücher, Kalender und Postkarten zierte, von dem das Fernsehen in Sondersendungen berichtete, mit fliegenden, fahrenden und stehenden Kameras. Wenn man Glück hatte, sah einen das ganze Land, wie man im eleganten Schlittschuhschritt dahin stob, sofern man Platz hatte, oder wie man sich mit kräftigem Grätenschritt eine Steigung hinauf kämpfte. Und endlich das Ziel. Das Ziel! Was machte es schon, dass es wie eine Mautstelle auf der Autobahn aussah und man ein letztes Mal anstehen musste. Es war geschafft. Selig, erschöpft, weinend, lachend. Wie konnte man vor so einem Tag schlafen?

Es würde wirklich ein ganz besonderer Tag werden. Doch das wusste in dieser Nacht noch niemand von ihnen.

Ein schrecklicher Volkslauf Spo(r)ttbericht

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