Читать книгу Die Affäre Schiwago - Peter Finn - Страница 10

|54|Kapitel 3

Оглавление

„Lebt wohl, meine Verse, mein Glück, ich bestimme mir ein Wiedersehn mit euch, der Hauptfigur meines Lebensromans.“

Pasternak begann Doktor Schiwago auf Papierbogen mit Wasserzeichen niederzuschreiben, die vom Schreibtisch eines Toten stammten. Die Witwe des georgischen Dichters Tizian Tabidse, der 1937 verhaftet, gefoltert und hingerichtet worden war, hatte Pasternak den Papierblock geschenkt. Dieser spürte das Gewicht der leeren Seiten auf seiner Seele lasten und schrieb Nina Tabidse, er hoffe, seine Prosa werde sich des Papiers ihres Mannes als würdig erweisen. Im Oktober 1945 reiste Pasternak anlässlich des hundertsten Todestags des georgischen Dichters Nikolos Baratschwili, dessen Werk er kurz zuvor übersetzt hatte, nach Georgien. Er verlangte, dass 25 Prozent seines Honorarvorschusses an Nina Tabidse ausbezahlt wurden.

Über weite Strecken seines Lebens unterstützte Pasternak Menschen, die vom Regime inhaftiert oder kaltgestellt wurden, sodass sie verarmten, und in seinen Hinterlassenschaften fanden sich zahlreiche Quittungen für Zahlungsanweisungen an Empfänger in der ganzen Sowjetunion, auch in Straflagern. Nina Tabidse war aus den Künstlerkreisen in der georgischen Hauptstadt Tiflis, in denen ihr Mann einst gefeiert worden war, ausgeschlossen worden und acht Jahre lang nicht mehr in der Öffentlichkeit erschienen. Sie erfuhr nichts über Tizians Schicksal, der wegen angeblichen Hochverrats verhaftet worden war, und erlangte erst nach Stalins Tod 1953 Gewissheit über seine Hinrichtung. Während Nina Tabidse sich an ein kleines Fünkchen Hoffnung klammerte, dass ihr Mann in irgendeinem Lager am Ende der Welt vielleicht doch überlebt hatte, schrieb |55|Pasternak später, an diese Möglichkeit habe er nicht geglaubt: „Er war ein zu großer, zu außergewöhnlicher Mann, der überall Licht verbreitete, um hinter Gitterstäben zu verschwinden, ohne dass Lebenszeichen nach außen gedrungen wären.“ Als Pasternak in Tiflis ankam, sagte er, er würde nur dann an den Feierlichkeiten teilnehmen, wenn auch Nina Tabidse dabei sei. Bei öffentlichen Veranstaltungen sorgte er dafür, dass sie neben ihm saß. Als er im Rustaweli-Theater gebeten wurde, einige der von ihm übersetzten Gedichte Barataschwilis vorzutragen, drehte er sich zu Nina Tabidze um und fragte sie, ob sie einverstanden sei. Die Einbeziehung dieser Geächteten war ein kühnes Signal an das Publikum. Nina Tabidse revanchierte sich für Pasternaks politisch riskante Respektbezeugung, indem sie ihm für seinen geplanten Roman das Schreibpapier schenkte.

Obwohl Pasternaks Renommee sich fast ausschließlich seiner Lyrik verdankte, hatte er auch Prosa verfasst, unter anderem einige wohlwollend aufgenommene Kurzgeschichten, einen autobiografischen Essay und Entwürfe für einen Roman. Ideen und Figuren aus diesen Texten sollten in ausgereifterer Form schließlich in Doktor Schiwago Eingang finden, als ob Pasternak sein Leben lang auf diesen Roman zugesteuert sei. Viele Jahrzehnte lang fühlte er sich unter Druck, noch etwas Großes und Verwegenes schaffen zu müssen, und gelangte zu dem Schluss, dass dies sich nur durch Prosa erreichen lasse: „Echte künstlerische Prosa grenzt in ihrer Zauberkunst an Alchemie.“ Auch glaubte Pasternak, dass „bedeutende Werke der Literatur nur im Verein mit einer großen Leserschaft existieren“. Schon 1917 hatte er in einem Gedicht geschrieben: „Lebt wohl, meine Verse, mein Glück, ich bestimme mir ein Wiedersehn mit euch, der Hauptfigur meines Lebensromans“. Zwetajewa gegenüber ließ er verlauten, dass er einen Roman „mit einer Liebesgeschichte und einem Helden“ schreiben wolle – „wie bei Balzac“. (Nach der Lektüre eines frühen Entwurfs beurteilte diese seine Bemühungen als „verträumt, langweilig und auf tendenziöse Weise selbstgerecht“). Pasternak brach ab – und projizierte sein Scheitern teilweise auf seinen späteren Helden Juri Schiwago: „Schon in seiner Gymnasiastenzeit hatte er davon geträumt, Prosa zu verfassen, ein Buch der Lebensbeschreibungen, in das er wie verborgene |56|Sprengkörper das Umwerfendste von dem einbauen konnte, was er gesehen und durchdacht hatte. Aber für solch ein Buch war er noch zu jung, daher gab er sich mit dem Schreiben von Gedichten zufrieden wie ein Maler, der sich lebenslang auf Studien zu einem geplanten großen Gemälde beschränkt.“

Der Zweite Weltkrieg verstärkte bei Pasternak das Gefühl, unbedingt ein einzigartiges Werk schaffen zu müssen. Nach Meinung des Dramatikers Alexander Gladkow, der mit Pasternak befreundet war, fand dessen „übliche, ausgeprägte Unzufriedenheit mit sich selbst nun in dem überzogenen Gefühl, dass er, verglichen mit dem Land als Ganzem, zu wenig tat, ein Ventil“. Im Oktober 1941, als die deutschen Truppen auf Moskau vorrückten, wurde Pasternak gemeinsam mit anderen Schriftstellern in das fast 1000 Kilometer weiter östlich gelegene Tschistopol evakuiert – eine Kleinstadt mit rund 25.000 Einwohnern. Dort lebte er fast zwei Jahre lang von dünner Kohlsuppe, Schwarzbrot und Lesungen, die im Esszimmer des Literaturfonds abgehalten wurden. Es war ein trostloses Leben voller Kälte.

1943 besuchte Pasternak die Frontsoldaten in der Nähe von Orjol und las den Verwundeten seine Gedichte vor. General Alexander Gorbatow lud eine Gruppe Schriftsteller zu einem „nüchternen Mahl“ aus Kartoffeln, ein wenig Schinken, einem Gläschen Wodka und Tee ein. Während des Essens wurden Reden gehalten. Anders als manche seiner Kollegen, die langweilig und ermüdend daherschwadronierten, hielt Pasternak eine klare, patriotische Ansprache mit humoristischen und poetischen Einsprengseln. Die Offiziere lauschten mucksmäuschenstill, sahen blass und bewegt aus. Der Besuch an der Front inspirierte Pasternak zu einigen Kriegsgedichten und zwei kurzen Prosatexten, und manche Eindrücke von den kriegsbedingten Zerstörungen gingen auch in den Epilog von Doktor Schiwago ein.

Pasternak gehörte jedoch nie zu den Schriftstellern, deren Gedichte und Berichte – wie jene Konstantin Simonows – millionenfach zirkulierten und das Durchhaltevermögen des Landes stärkten. „Ich lese Simonow. Ich will verstehen, was seinen Erfolg ausmacht“, sagte er. Er dachte darüber nach, einen Versroman zu schreiben, und schloss Verträge für ein Theaterstück, doch es wurde nie etwas |57|daraus. Ständig nage das Gefühl an ihm, „ein Blender zu sein“, weil er den Eindruck habe, überschätzt zu werden. Seine Gedichte erschienen in den Zeitungen, 1943 und 1945 kamen zwei kleine Lyrikbände heraus. Auch weiterhin verdiente er seinen Lebensunterhalt mit Übersetzungen. „Shakespeare, der alte Mann von Tschistopol, ernährt mich nach wie vor.“

1944 erhielt Pasternak auf schmerzhafte Weise Unterstützung für seine künstlerischen Ambitionen. Anna Achmatowa, die nach Taschkent in der Usbekischen Sozialistischen Sowjetrepublik evakuiert worden war, kam 1944 nach Moskau. Im Gepäck hatte sie einen Brief, den Ossip Mandelstam zwei Jahre vor seinem Tod an Pasternak geschrieben hatte. Mandelstams Witwe hatte ihn gefunden. Mandelstam, der Pasternak gegenüber einst die Befürchtung geäußert hatte, sein eigenes Werk käme wegen seiner Übersetzungen zu kurz, hatte geschrieben: „Ich möchte, dass Ihre Gedichte, mit denen wir alle verwöhnt und unverdient beschenkt wurden, sich weiter in die Welt hinausstürzen, zu dem Volk, zu den Kindern. Lassen Sie mich Ihnen wenigstens einmal im Leben sagen: Danke für alles und für die Tatsache, dass dieses ‚Alles‘ noch ‚nicht alles‘ ist.“

Für Pasternak war dieser Brief, obwohl er sich auf seine Gedichte bezog, ein bitterer Ansporn, sich mehr ins Zeug zu legen. Ein Jahr später, im Mai 1945, starb Boris’ Vater Leonid in Oxford. Pasternak hatte das Gefühl, „vor Scham darüber vergehen“ zu müssen, dass man seine Rolle „so ungeheuerlich“ aufblase und überschätze, während die „gigantischen Verdienste“ seines Vaters „nicht zum hundertsten Teil gewürdigt werden“.

Schuld, Kummer, Unzufriedenheit mit sich selbst, die Sehnsucht nach dem „großen Gemälde“, der Wunsch, einen Klassiker zu schreiben – sie alle trugen dazu bei, jenen „tiefgreifenden inneren Wandel“ herbeizuführen, der Pasternak in Richtung Doktor Schiwago vorantreiben würde. Schriftlich erwähnte er den Roman erstmals im November 1945 in einem Brief an Nadeschda Mandelstam: Er säße an einem neuen Projekt, einem Roman, dessen Handlung sich über die ganze Spanne ihres Lebens erstreckte. An Silvester 1945 begegnete Pasternak Gladkow zufällig auf der Mokhowaja-Straße in der Nähe des Kremls. Trotz des Gedränges feiernder Menschen konnten |58|die beiden im leichten Schneegestöber ein paar Worte wechseln. Ein paar Schneeflocken ließen sich auf Pasternaks Kragen und Mütze nieder. Pasternak sagte, er arbeite an einem Roman „über Menschen, die repräsentativ für meine Schule sein könnten – wenn ich eine hätte“. Er lächelte verlegen, ehe er davonging.

Ende des Jahres schrieb er seinen Schwestern in England, dass er sich vorgenommen habe, die wichtigsten Ereignisse seines Landes in einfacher, aufrichtiger Prosa zu schildern. „Ich habe mich darangesetzt, doch das liegt so weit abseits von dem, was man bei uns will und zu sehen gewöhnt ist, dass es schwer ist, ausdauernd und regelmäßig daran zu schreiben.“

Mit zunehmendem Schreibtempo besserte sich Pasternaks Stimmung. „Aber ich fühle mich wie vor mehr als dreißig Jahren, schäme mich regelrecht.“ Tage und Wochen vergingen wie im Flug. „Ich habe es mit großer Leichtigkeit geschrieben. Die Umstände waren so klar, so sagenhaft schrecklich. Alles, was ich zu tun hatte, war, mit meiner ganzen Seele ihrem Drängen zu lauschen und ihren Eingebungen gehorsam zu folgen.“ Darüber hinaus beflügelte Pasternak im Frühling 1946, wie begeistert die Moskowiter auf seine Lesungen bei literarischen Abenden reagierten. Bei einer Veranstaltung an der Moskauer Universität forderte das Publikum ihn im April 1946 zum Weiterlesen auf, als er sich anschickte, die Bühne zu verlassen. Im Monat darauf gab er bei einer Einzellesung im Polytechnischen Museum mehrfach Zugaben. Schon im Dezember 1945 hatte Pasternak seinen Schwestern geschrieben, wie unerwartet märchenhaft die Zuneigung seines Publikums auf ihn wirke. „Das sind die Konzertsäle, die ich nach einer Plakatankündigung fülle und wo man mir, sobald ich zögere, jede Stelle aus jedem Gedicht aus drei oder vier Ecken souffliert“. (Als Pasternak sich auf eine Lesung vorbereitete, schlug ein Bekannter ihm vor, gezielt ein paar Fehler einzubauen, um sein Publikum zu testen und es an sich zu binden.)

Am 3. April 1946 kam Pasternak verspätet zu einer Lesung Moskauer und Leningrader Dichter, und als er sich auf die Bühne zu stehlen versuchte, begann das Publikum zu applaudieren. Der Autor, der gerade an der Reihe war, musste seinen Vortrag unterbrechen, bis Pasternak sich hingesetzt hatte. Es war Alexej Surkow, sein |59|vormaliger und zukünftiger Gegenspieler, der Dichter, der gesagt hatte, um Größe zu erlangen, müsse Pasternak sich die Revolution einverleiben. Er war zweifellos verärgert. Zwei Jahre später, als Surkow im Polytechnischen Museum bei einem „Lyrikabend über das Thema: Nieder mit den Kriegshetzern! Für dauernden Frieden und Volksdemokratie“ sprach, geschah – sicher nicht rein zufällig – noch einmal das Gleiche. Die Veranstaltung fand in einem der größten Säle Moskaus statt, und es war so voll, dass die Menschen sogar in den Gängen saßen, während sich draußen auf der Straße die Zuspätgekommenen drängten. Surkow war fast am Ende einer in Versform gegossenen Verdammung der NATO, Winston Churchills und verschiedener westlicher Kriegsteilnehmer angelangt, als das Publikum ganz offensichtlich an der falschen Stelle in Beifall ausbrach. Ein Blick über die Schulter genügte: Wieder war es Pasternak, der seinem Rivalen die Show stahl und offensichtlich versuchte, die Bühne zu erklimmen. Pasternak streckte den Arm aus, um die Menge zum Schweigen zu bringen, damit Surkow fortfahren konnte. Als er schließlich ans Mikrophon gerufen wurde, sagte er mit gespielter Unschuld: „Leider habe ich kein Gedicht zum Thema des Abends, doch ich werde Ihnen ein paar Texte vorlesen, die ich vor dem Krieg geschrieben habe.“ Das Publikum tobte jedes Mal vor Begeisterung. Manche schrien: „Schestdesjat schestoi dawai!“ (Gib uns das Sechsundsechzigste!). Damit meinten sie das gleichnamige Sonett Shakespeares, das Pasternak 1940 übersetzt hatte:

Und Kunst geknebelt durch die Übermacht,

Und Unsinn herrschend auf der Weisheit Thron,

Und Einfalt als Einfältigkeit verlacht,

Und Knecht das Gute in des Bösen Fron,

Ja lebensmüd entging’ ich gern der

Pein, Ließ den Geliebten nicht mein Tod allein.

Pasternak war klug genug, die politisch heiklen Zeilen auszusparen. Doch der anhaltende Applaus steigerte sich zu einer öffentlichen Demonstration mit lautem Getrampel – was für ihren Adressaten durchaus gefährlich werden konnte. (Als Anna Achmatowa bei einer Lesung während des Kriegs auf die gleiche Weise empfangen |60|wurde, soll der Veranstalter gesagt haben: „Wer hat dieses Aufstehen organisiert?“) Der Vorsitzende der Zusammenkunft versuchte durch das Schellen seiner Glocke für Ordnung zu sorgen, und Pasternak trug ein zufriedenes, triumphierendes Lächeln zur Schau. Zahlreiche Zuhörer folgten ihm auf dem Nachhauseweg.

Surkow schäumte. Er hatte sich seinen Ruf während des Krieges erworben, mit plumpen, patriotischen Versen wie diesen:

Tod dem Faschismus! Der Sowjet

Ruft den Tapferen zu den Waffen

Die Kugel fürchtet den Tapferen,

Das Bajonett den Mutigen.

Ein westlicher Reporter in Moskau beschrieb Surkow als „betont maskulin“. Er war muskulös, hatte eine rötliche Gesichtsfarbe, eine laute Stimme – manchmal brüllte er seine Gesprächspartner an, als richte er sich an ein großes Publikum – und einen übertrieben schnellen und ausladenden Gang. Er war neun Jahre jünger als Pasternak, als Bauernsohn in einem Bezirk nordöstlich von Moskau aufgewachsen und wollte in der Hauptstadt um jeden Preis reüssieren. Der ungarische Schriftsteller György Dalos, der in den 1960er-Jahren in Moskau studierte und Surkow kannte, beschrieb ihn als sowjetische Ausgabe von Molières bourgeois gentilhomme. „ Um eine Gestalt wie Surkow zu verstehen, müssen Gut und Böse nicht als Gegensätze, sondern als Teile eines untrennbaren Ganzen betrachtet werden.“ Ein sowjetischer Überläufer bezeugte später vor dem US-Kongress, dass Surkow ein „KGB-Mann“ gewesen sei. Damit meinte er, dass Surkow zu der Gruppe zuverlässiger Prominenter gehörte, die auf Geheiß der Geheimpolizei taten, was von ihnen verlangt wurde.

Nadeschda Mandelstam schrieb in ihren Erinnerungen, dass in Gesprächen mit Surkow immer wieder ein mysteriöses „sie“ auftauchte. Oft wollte er jemandem eine Gefälligkeit erweisen, war aber außerstande zu handeln, bis er wusste, wie man an höherer Stelle darüber dachte.

„Ich bemerkte dabei, daß ‚sie‘ denken, befürworten und vorschlagen … Und einmal fragte ich dann: ‚Wer sind denn nun eigentlich |61|diese ‚sie‘? ‚Nun, für mich, da sind ‚sie‘ eben ‚Sie‘. Er war darüber äußerst erstaunt […] Danach kapierte ich, daß die Welt aus verschiedenen Etagen besteht, diejenigen, die höher wohnen, heißen einfach ‚sie‘.“ Für Mandelstam trug er, „wie alle seines Schlages“, zur Verkümmerung der Sprache, zur Unterdrückung des Denkens und Lebens bei. „Dadurch zerstört er auch sich selbst.“

Gegenüber Pasternak pflegte Surkow eine besondere Feindschaft, doch Achmatowa war er aufrichtig zugetan, sorgte dafür, dass sie von den allerschlimmsten Verfolgungen verschont blieb, und brachte ihr Blumen. Doch „er setzte sich mit Herz und Seele für ein System ein, das eine pathologische Angst vor jedem freien Wort und folglich speziell vor der Dichtung hegte“. Keinem Dichter brachte er mehr Abneigung entgegen als Pasternak. Surkow habe ihn einfach gehasst, schrieb Olga Iwinskaja in ihren Erinnerungen. Pasternak wiederum ließ sich durch Surkows Feindseligkeit oder Kritik nicht aus der Ruhe bringen. Nach dem Krieg pries er Surkows Lyrik als exemplarisch für einen neuen Realismus und sagte, er gehöre wegen seines ungehobelten, ungebärdigen Stils zu seinen Lieblingsdichtern. „Ja, wirklich, seien Sie nicht überrascht. Er schreibt, was er denkt: Er denkt ‚hurra!‘ und er schreibt ‚hurra!‘.“

Der Roman, dem Pasternak zunächst den Titel Knaben und Mädchen gab, rückte zunehmend in das Zentrum seines Interesses, als er im Winter 1945/1946 intensiv und zielstrebiger als zuvor daran arbeitete. „Dies alles sind sehr ernst zu nehmende Arbeiten. Ich bin schon alt, sterbe vielleicht bald, und ich darf es einfach nicht ins Endlose hinausschieben, meine wahren Gedanken frei auszudrücken.“ Er bezeichnete den Text als Epos – „eine traurige, düstere Geschichte, idealerweise bis ins letzte Detail ausgearbeitet, wie ein Dickens- oder Dostojewski-Roman.“ Das Schreiben nahm ihn ganz in Anspruch. „Ich könnte kein Jahr mehr weiterleben, wenn nicht auch dieser Roman, mein Alter Ego, in den auf fast greifbare Weise einige meiner spirituellen Eigenschaften und Teile meiner Nervenstruktur eingeflossen sind, weiterlebt und -wächst.“ Er versprach darzustellen, wie er über die Kunst, die Evangelien und den Menschen in der Geschichte dachte. Der Roman werde „mit dem Judaismus“ und allen Formen des Nationalismus „abrechnen“. Er habe den Eindruck, |62|dass die darin vorkommenden Gegenstände mit ihren unterschiedlichen Farben sich „perfekt auf der Leinwand“ arrangierten.

Wie viele seiner Zeitgenossen glaubte oder hoffte Pasternak, dass es aufgrund der Opfer, die das Volk im Krieg gebracht hatte, der Millionen Toten und des schrecklichen Kampfs gegen den Nazismus nie wieder zu Repressionen kommen würde. Doch als aufmerksamer Beobachter bekam er mit, dass die scheinbar entspannte Atmosphäre der Nachkriegszeit sich in Wohlgefallen auflöste, als Spannungen mit den Westmächten sich zum Kalten Krieg auswuchsen. Im Juni 1946 schrieb Pasternak seinen Schwestern, dass er sich bewege wie „auf Messers Schneide. … Alles ist schon zu klar. Interessant, spannend und wahrscheinlich gefährlich.“

Die Attacke auf die Intelligenzija begann im August 1946. Sie richtete sich zunächst gegen den satirischen Schriftsteller Michail Soschtschenko und gegen Anna Achmatowa. Stalin startete seinen Feldzug, als die Herausgeber zweier Leningrader Zeitschriften nach Moskau zitiert und wegen der Veröffentlichung „dummen“ Zeugs ausgeschimpft wurden. Soschtschenko, lästerte Stalin, „schreibt lauter Lügengeschichten, Unsinn, der weder den Geist noch das Herz anspricht. … Um dem Volk beizubringen, wie man Blödsinn daherredet, haben wir die sowjetische Ordnung nicht errichtet.“ Das Zentralkomitee der Partei schickte eine Resolution hinterher, in der es hieß, dass Soschtschenko sich auf das Verfassen „geistloser, inhaltsleerer und vulgärer Dinge“ spezialisiert habe und eine „verdorbene Skrupellosigkeit“ verfechte, die dazu diene, „unsere jungen Menschen zu verwirren und ihren Geist zu vergiften“. „Die Abenteuer eines Affen“ – die Geschichte eines aus dem Zoo entflohenen Affen, der sich im Leningrader Alltag nicht zurechtfindet und freiwillig in seinen Käfig zurückkehrt – wurden besonders hervorgehoben und als „rüpelhafte Schilderung unserer Realität“ dargestellt. Achmatowa warf man vor, dass sie mit ihrem „bürgerlich-aristokratischen Ästhetizismus und ihrer Dekadenz – ‚Kunst um der Kunst willen‘“ –, jungen Menschen Schaden zufüge.

Eine schrille, vulgäre Rede Andrei Schdanows, eines kolossalen Säufers, der seit den 1930er-Jahren zu Stalins engsten Vertrauten gehörte und Klavier spielte, wenn der „Führer“ an feuchtfröhlichen Abenden sang, machte unmissverständlich klar, dass die Kultur ab |63|sofort wieder gnadenlosen Repressalien ausgesetzt sein würde. Schdanow sprach im großen Saal des Smolny-Instituts in Leningrad vor geladenen Schriftstellern, Journalisten, Verlegern und Bürokraten. Der Veranstaltungsort war gut gewählt; im selben Saal hatte Lenin 1917 die Machergreifung der Sowjets verkündet. György Dalos schrieb später, die Zusammenkunft, die um fünf Uhr nachmittags begann und fast bis Mitternacht dauerte, sei durch „kriecherische Beiträge aus dem Publikum und hysterischer Selbstkritik teilnehmender Schriftsteller“ gekennzeichnet gewesen.

„Anna Achmatowas Themen sind durch und durch individualistisch“, sagte Schdanow. „Ihr lyrisches Spektrum ist erbärmlich begrenzt – dies ist die Dichtung einer wild gewordenen Salondame, die sich zwischen Boudoir und Betstuhl bewegt. Ihre Lyrik basiert auf erotischen Motiven, die mit Motiven der Trauer, der Melancholie, des Todes, des Mystizismus und der Isolation verbunden sind … sie ist halb Nonne, halb Hure oder vielmehr beides, Hure und Nonne; in ihrer Welt sind Unzucht und Gebet miteinander vermengt.“

Schdanows Konformitätskampagne, die von einer chauvinistischen Ablehnung alles Westlichen durchdrungen war, griff auf das Theater, das Kino, die Musik, die Universität und schließlich die Wissenschaft über. Pasternaks Cousine Olga, die an der Leningrader Universität lehrte, schrieb in ihr Tagebuch, dass der Rektor zur Eröffnung des neuen akademischen Jahres in einem Russenkittel in der Fakultät erschienen sei, um den „ideologischen Umschwung in Richtung auf das große russische Volk“ zu demonstrieren. Dass „Europäische Kultur und Katzbuckelei […] zu Synonymen erklärt“ wurden, machte ihr schwer zu schaffen. Ab sofort konnte man wegen „Rühmens der amerikanischen Demokratie“ und „Demütigung vor dem Westen“ verhaftet werden.

Zwangsläufig wurde auch Pasternak zur Zielscheibe, und der neue Vorsitzende des Schriftstellerverbandes, Alexander Fadejew, beschuldigte ihn, keinen Zugang zum Volk zu haben – „keiner von uns“ zu sein. Als Pasternak aufgefordert wurde, Anna Achmatowa öffentlich zu verurteilen, lehnte er mit der Begründung ab, dass er sie zu sehr liebe. Da Achmatowa aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen worden war, hatte sie keine Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Als sie nach Moskau kam und bei |64|gemeinsamen Freunden wohnte, schob Pasternak ihr 1000 Rubel unter das Kopfkissen, um ihr zu helfen. Pasternak wurde im August 1946 aus dem Vorstand des Schriftstellerverbands geworfen, als er einem Treffen, das einberufen worden war, um Achmatowa und Soschtschenko zu denunzieren, fernblieb. Man warnte ihn, er sei als Ästhet nicht weniger suspekt als Achmatowa, doch er reagierte darauf so unbekümmert wie immer: „Ja, ja, [kein Zugang zum] Volk, moderne Zeiten … Wissen Sie, Ihr Trotzki hat mir einmal das Gleiche erzählt.“

Am 9. September 1946 berichtete die Prawda, der Allunionsschriftstellerverband habe eine Resolution verabschiedet, die beinhalte, dass Pasternak „ein Autor ohne Ideologie“ sei und „keinen Bezug zur sowjetischen Realität“ habe. Für denselben Abend hatte Pasternak bei sich zu Hause in Peredelkino eine seiner ersten Lesungen aus dem ersten Teil seines Romans anberaumt. Er las keine Zeitung, und seine Frau erzählte ihm nichts von der Attacke des Schriftstellerverbands, sodass die Lesung stattfand. Pasternaks Nachbar Tschukowski und dessen Sohn Nikolai, der Literaturwissenschaftler Korneli Selinski, der beizeiten einen heimtückischen Angriff auf Pasternak und Doktor Schiwago starten sollte, und etwa zehn oder elf weitere Zuhörer waren zugegen.

Tschukowski fühlte sich vor den Kopf gestoßen: „Trotz allen Zaubers bestimmter Passagen“, schrieb er in sein Tagebuch, „erschien [die Geschichte] mir fremd, verwirrend und ohne Bezug zu meinem Leben und schaffte es kaum, mich in Bann zu ziehen“. Auch andere, die Pasternak nahestanden und in der lyrischen Schönheit seiner Gedichte versinken konnten, waren verwirrt. Als Achmatowa bei einer Lesung in einer Moskauer Wohnung zum ersten Mal eine Passage des Romans zu hören bekam, war sie „überaus unglücklich“. Gegenüber dem Physiker Michail Poliwanow, der mit Pasternak befreundet war, sprach sie von „Genieversagen“. Als Poliwanow einwandte, der Roman erfasse den „Geist und die Menschen des Zeitalters“, antwortete Achmatowa: „Es ist meine Zeit und meine Gesellschaft, aber ich erkenne sie nicht wieder.“ Pasternaks Nachbar Wsewolod Iwanow klagte nach einer Lesung, er habe etwas viel Geschliffeneres erwartet und ihm scheine, der Text sei in Eile geschrieben und noch im Rohzustand.

|65|Pasternak ließ sich von jenen, die sich über die Mixtur von Stilen, den Glauben an schicksalhafte Fügungen, das langsame Schreibtempo und die Vielzahl an Figuren – hier wurden sogar Vergleiche mit den russischen Romanklassikern gezogen – beklagten, nicht beirren. Er antwortete ihnen, dass er sich aller Aspekte des Romans, einschließlich seiner „Schwächen“ bewusst sei. Viel später erläuterte er in einem Brief an den Dichter Stephen Spender, dass er sich „in dem Roman bemühe, die gesamte Abfolge von Tatsachen und Lebewesen und Ereignissen wie eine sich bewegende Ganzheit, eine sich entwickelnde, vorübergehende, dahinwogende und -eilende Inspiration darzustellen, als ob die Realität selbst frei sei und wählen könne und sich aus zahllosen Varianten und Versionen zusammensetze“. Er lösche seine Figuren eher aus, als dass er sie skizziere, und der Zufall zeige „die Freiheit des Seins“ auf, „seine berührende Wahrscheinlichkeit, die an Unwahrscheinlichkeit grenzt“. Pasternak interessierte sich nicht mehr für Stilexperimente, sondern für „Verständlichkeit“. Der Roman solle von allen „verschlungen“ werden, „auch von einer Näherin oder einem Tellerwäscher“.

Andere Zuhörer waren von den Textpassagen, die Pasternak ihnen vortrug, begeistert und bewegt. Emma Gerstein, die im April 1947 im kleinen Kreis den ersten drei Kapiteln lauschte, verließ die Lesung mit dem Gefühl, „Russland gehört“ zu haben, und schrieb: „Mit meinen Augen, meinen Ohren und meiner Nase habe ich diese Ära erfahren.“ Der Leningrader Dichter Sergei Spasski, der mit Pasternak befreundet war, sagte: „Ein Schwall ursprünglicher kreativer Energie hat sich aus deinem Inneren ergossen.“

Pasternak las seine Entwürfe weiterhin in Moskauer Privatwohnungen vor. Der Dialog mit seinem Publikum veranlasste ihn zu einigen Textkorrekturen. Im Mai 1947 saßen auch Heinrich Neuhaus, der erste Ehemann seiner Frau, der sich längst wieder mit ihm versöhnt hatte, und Leo Tolstois Enkelin unter den Zuhörern. Pasternak betrat das Zimmer mit den zusammengerollten Seiten in der Hand. Er küsste seiner Gastgeberin die Hand, drückte und küsste Neuhaus, setzte sich an einen Tisch und sagte ohne Umschweife: „Lassen Sie uns anfangen.“ Er berichtete, dass er sich noch nicht für einen Titel entschieden habe und als vorläufigen Untertitel „Szenen des täglichen Lebens aus einem halben Jahrhundert“ gewählt habe. |66|Im Jahr darauf, nach Fertigstellung von vier Kapiteln, legte er sich auf den Titel Doktor Schiwago fest. Obwohl „Schiwago“ wie ein sibirischer Name klingt, ist das Wort einem orthodoxen Gebet entnommen. Dem Priestersohn und Schriftsteller Warlam Schalamow, der den Gulag überlebt hatte, sagte Pasternak einmal, dass er als Kind beim Aufsagen der Zeilen: „Ty est woistinu Christos, Syn Boga schiwago“ (Du bist wahrhaft Christus, der lebendige Gott) nach „boga“ (Gott) und vor „schiwago“ (der lebendige) immer eine Pause gemacht habe.

„Ich dachte nicht an den lebendigen Gott, sondern an einen neuen Gott, der mir nur über den Namen ‚Schiwago‘ zugänglich war. Ich brauchte ein ganzes Leben, um dieses kindliche Empfinden wahr zu machen, indem ich dem Helden meines Romans diesen Namen gab.“

Pasternak-Anhänger schätzten die Einladungen zu seinen Literaturabenden sehr. Am 6. Februar 1947 drängte sich das Publikum in der Wohnung der Pianistin Maria Judina, obwohl gerade ein Schneesturm wütete. Judina sagte zu Pasternak, sie und ihre Freunde freuten sich auf die Lesung „wie auf ein Fest“.

„Sie werden sich alle in meinen luxuriösen Einzimmer-Palazzo quetschen“, hatte sie dem Dichter geschrieben. Pasternak wäre fast zu spät gekommen, denn er kannte die genaue Adresse nicht, und wegen der Schneeverwehungen ließ sich das Auto, das ihn und seine Begleiter zu Judinas Wohnung brachte, kaum noch steuern. Eine ins Fenster gestellte Kerze wies ihnen schließlich den Weg. Weil so viele Leute da waren, war es stickig und heiß, und da man im Laufe des Tages versucht hatte, den zahllosen Wanzen den Garaus zu machen, hing Kerosingeruch in der Luft. Die Mühe war vergebens gewesen – noch immer krabbelten die Tiere über die Wände. Judina trug ihr bestes schwarzes Samtkleid und servierte den Gästen belegte Brote und Wein. Eine ganze Weile lang spielte sie Chopin. Pasternak schien nervös oder fühlte sich vielleicht wegen der Hitze unwohl und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Er las vor, wie Schiwago als junger Student bei den Swentizkis mit seiner Verlobten Tonja tanzte und die Kerzen den Weihnachtsbaum in helles Licht tauchten. Als er fertig war, wurde er mit Fragen bombardiert: Wie würde die Geschichte weitergehen? Als |67|Pasternak sich im Morgengrauen verabschiedete, sagte er zur Hausherrin, der Abend, der wegen des Schnees fast ausgefallen wäre, habe ihn zu einem Gedicht inspiriert. Es sollte als Juri Schiwagos „Winternacht“ in den Roman eingehen:

Es wehte, wehte Tag und Nacht,

In alle Lande.

Die Kerze brannte auf dem Tisch,

Die Kerze brannte.

Die Lesungen zogen auch unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich. Der stellvertretende Chefredakteur von Nowy Mir bezeichnete sie als „Untergrundlesungen aus einem konterrevolutionären Roman“. Auch die Geheimpolizei beobachtete die Soireen und notierte sich, was vorgelesen wurde, um im richtigen Moment zuschlagen zu können.

Die Angriffe auf Pasternak setzten sich bis ins Jahr 1947 fort. Zu seinen Kritikern gehörte auch Fadejew, der Vorsitzende des Schriftstellerverbands. Doch Fadejew verkörperte zugleich die ambivalente Haltung des Establishments gegenüber Pasternak. Ilja Ehrenburg schrieb in seiner Autobiografie, dass er Fadejew nach einem Vortrag, in dem dieser sich öffentlich über die „Lebensfremdheit“ literarischer Werke von Schriftstellern wie Pasternak mokiert hatte, zufällig getroffen habe. Die beiden gingen in ein Café, bestellten Cognac, und Fadejew fragte Ehrenburg, ob er echte Dichtung hören wolle. „Und er begann aus der Erinnerung Verse von Pasternak zu rezitieren, und fuhr fort und fuhr fort, nur sich selbst unterbrechend von Zeit zu Zeit, um zu sagen: Wundervolles Zeug, nicht wahr?‘“ Pasternak hatte einmal gesagt, dass Fadejew ihm persönlich „wohlgesinnt war, doch wenn er den Befehl erhalten hätte, mich hängen, ausweiden und vierteilen zu lassen, hätte er ihn gewissenhaft ausgeführt und seinen Bericht verfasst, ohne mit der Wimper zu zucken – doch wenn er das nächste Mal betrunken gewesen wäre, hätte er gesagt, wie leid es ihm um mich tue und was für ein Prachtkerl ich gewesen sei.“ 1956 tötete Alexander Fadejew sich mit einer Pistole. Als Pasternak sich vor seinem offenen Sarg in der Säulenhalle des |68|Hauses der Gewerkschaften verneigte, sagte er laut und vernehmlich: „Alexander Alexandrowitsch hat sich rehabilitiert!“

Die öffentliche Kritik an Pasternak erreichte 1947 ihren Gipfel, als Surkow einen giftigen, namentlich gekennzeichneten Artikel in der Zeitschrift Kultura i Schisn (Kultur und Leben) publizierte, einem wichtigen Sprachrohr zu Verbreitung der von Schdanow vertretenen Linie, das manche Intelligenzler als „Massengrab“ titulierten. Surkow beschuldigte Pasternak einer „reaktionären, rückwärtsgewandten Ideologie“, dass er „mit offenkundiger Feindseligkeit, ja sogar Hass über die sowjetische Revolution“ spreche und dass seine Dichtung eine „direkte Verleumdung“ der sowjetischen Wirklichkeit darstelle. Pasternak habe nur „dürftige spirituelle Ressourcen“, mit denen keine „bedeutende Dichtung“ zustande zu bringen sei.

In der sowjetspezifischen Lesart war dies noch kein Aufruf zur Isolierung und Vernichtung Pasternaks, denn ein namentlich gezeichneter Artikel war nicht wirklich bedrohlich. Gladkow, der den öffentlichen Tadel vorausgesehen hatte und um seinen Freund fürchtete, sagte, er habe nach der Lektüre des Beitrags aufgeatmet. „Trotz aller Verlogenheit und gewollten Borniertheit zielte er doch nicht auf eine endgültige ‚Exkommunizierung‘.“ Ein anonymer Artikel in einer führenden Zeitung hätte Pasternaks Ruin bedeutet. „Zumindest werden sie mich nicht verhungern lassen“, scherzte dieser, nachdem er den Auftrag zur Übersetzung des Faust erhalten hatte.

Ganz ohne Strafe kam Pasternak nicht davon. Die Zeitschrift Nowy Mir lehnte einige seiner Gedichte ab. Die Publikation seiner Shakespeare-Übersetzungen wurde verschoben. Und im Frühjahr 1948 wurden am Abend vor der Auslieferung 25.000 Exemplare einer Ausgabe ausgewählter Gedichte „auf Anweisung von oben“ vernichtet. Mit den Lesungen war Schluss, und Pasternak hielt fest, dass „öffentliche Auftritte“ von ihm „als unerwünscht galten“.

Er konnte sich auf hinterhältige Weise rächen. Bei der Überarbeitung seiner Hamlet-Übersetzung fügte er ein paar Zeilen ein, die mit dem Original nur wenig zu tun hatten. Selbst unter Berücksichtigung seines Credos, dass eine Übersetzung niemals wörtlich sein sollte, lasen sich die rückübersetzten Verse aus Hamlet wie ein beißender Kommentar zur damaligen Politik. Während Hamlet bei Shakespeare von „der Zeiten Spott und Geißeln“ sprach, sagte er bei |69|Pasternak: „Wer könnte die falsche Größe der Herrscher ertragen, die Ignoranz der Bonzen, die allgemeine Heuchelei, die Unmöglichkeit, sich auszudrücken, die unerwiderte Liebe und die Zwecklosigkeit von Verdiensten in den Augen von Kleingeistern.“

Die Sterilität, die nach einer rauschhaften Phase des Aufbruchs nach dem Krieg wieder in das kulturelle Leben zurückgekehrt war, bestürzte Pasternak, bestärkte ihn aber auch darin, sich noch mehr in sein neues Projekt zu vertiefen. „Ich begann wieder an meinem Roman zu arbeiten, als ich sah, dass all die rosigen Aussichten auf Veränderungen, die das Kriegsende für Russland mit sich bringen sollte, nicht erfüllt wurden. Der Krieg war wie ein reinigendes Gewitter gewesen, wie eine Brise, die einen ungelüfteten Raum durchwehte. Das Leid und die Entbehrungen, die er mit sich brachte, waren weniger schlimm als die unmenschliche Lüge – sie erschütterten alles Vordergründige und Unorganische an der Natur des Menschen und der Gesellschaft, das eine solche Kontrolle über uns gewonnen hat, bis ins Mark. Doch die Vergangenheit wog zu schwer. Der Roman eröffnet mir die Möglichkeit, meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, und ist daher absolut lebenswichtig für mich.“ Pasternaks zwischen Ablehnung und vorsichtiger Sympathie schwankende Haltung gegenüber dem sowjetischen Staat war einer beständigen, wenn lautlosen Feindseligkeit gewichen. Seiner Cousine versicherte er, dass er genauso fröhlich wie immer sei, obwohl sich die Atmosphäre in Moskau verändert hatte. „Ich schreibe absolut niemandem, erwidere nichts. Wozu auch? Ich rechtfertige mich nicht, lasse mich nicht auf Erklärungen ein.“ Er hatte andere Gründe, den langen Arm der Behörden zu ignorieren.

Pasternak hatte sich verliebt.

Die Affäre Schiwago

Подняться наверх