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|84|Kapitel 5

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„Bis zu seinem Abschluß bin ich auf aberwitzige, manische Weise nicht Herr meiner Zeit“

Im Oktober 1952 erlitt Pasternak einen schweren Herzinfarkt und wurde ins Moskauer Botkin-Krankenhaus gebracht, wo er die erste Nacht „auf einem mit Schwerkranken überfüllten Krankenhausflur“ verbrachte. Er lag auf einer Trage in einem Flur, weil die Klinik überbelegt war, verlor immer wieder das Bewusstsein und dankte „dem Herrn für seine Fügung, daß in nächster Nachbarschaft die Stadt vor dem Fenster, Licht und Schatten und Leben und Tod zu spüren waren und daß er mich Künstler hatte werden lassen, damit ich all seine Formen liebte und über sie weinte vor lauter Jubel und Frohlocken.“

Pasternak, der nur knapp dem Tod entronnen war, wurde von einem der besten Kardiologen der Stadt behandelt. Er verbrachte eine Woche in der Notaufnahme und weitere zweieinhalb Monate auf Station. Vor seinem Klinikaufenthalt hatte er ständig an Zahnweh und Mundgeschwüren gelitten. Seine Herzkrankheit wurde entdeckt, als er nach der Rückkehr von einem Zahnarztbesuch in Ohnmacht fiel. Im Krankenhaus wurden ihm die Zähne gezogen und durch schimmernde amerikanische Prothesen ersetzt, die sein Erscheinungsbild veränderten und mit denen er laut Achmatowa „hervorragend“ aussah.

Seine Ärzte mahnten ihn zur Vorsicht. Seine Herzprobleme hatten zwei Jahre zuvor begonnen, nach Iwinskajas Verhaftung und seinem Besuch in der Lubjanka. Wie vieles andere projizierte er seine Krankheit auf Juri Schiwago, dem er ähnliche Herzprobleme mitgab: „Es ist eine Krankheit der jüngsten Zeit. Ich glaube, ihre |85|Ursachen sind sittlicher Natur. Den meisten von uns wird ständig eine zum System erhobene Heuchelei abverlangt. Ohne Folgen für die Gesundheit kann man sich nicht tagtäglich anders geben, als man fühlt, sich für etwas einsetzen, was man nicht liebt, sich über etwas freuen, was einem Unglück bringt. … Unsere Seele nimmt einen Platz im Raum ein und sitzt in uns, so wie die Zähne im Mund sitzen. Man kann ihr nicht endlos ungestraft Gewalt antun.“

Iwinskaja war mit dem Zug etwa 300 Meilen Richtung Südosten nach Mordowien in ein Straflager verfrachtet worden. Sie schlief auf der Gepäckablage, unter sich die restlichen dicht an dicht sitzenden Gefangenen. In einem Gewaltmarsch gelangten sie vom Bahnhof ins Lager. Lange Sommertage auf dem Feld – zwischen Mückenschwärmen musste der Boden aufgehackt und umgegraben werden – folgten auf bitterkalte Wintertage in nackten Baracken. Post durfte nur von den engsten Angehörigen empfangen werden, sodass Pasternak Iwinskaja in seiner flüssigen, unverwechselbaren Handschrift Postkarten im Namen ihrer Mutter schrieb: „31. Mai 1951. Meine liebste Olja, mein Herz! Du bist unzufrieden mit uns, und Du hast recht damit. In unsere Briefe an Dich sollten Ströme von Zärtlichkeit und Kummer einfließen. Doch man kann diesen natürlichen Gefühlen nicht immer Raum geben. Wir müssen in allem vorsichtig, bedachtsam sein. B. träumte kürzlich von Dir. Du trugst ein langes, weißes Gewand. Er geriet in die seltsamsten Situationen, und jedes Mal tauchtest du rechts von ihm auf, fröhlich und ermutigend. … Gott schütze Dich, mein Liebstes. Alles ist wie ein Traum. Ich küsse dich ohne Ende. Deine Mama.“

Während Iwanskajas Abwesenheit unterstützte Pasternak ihre Familie und sorgte dafür, dass ihre Mutter auf direktem Weg Geld von einem seiner Verleger erhielt. „Ohne ihn hätten meine Kinder in ein staatliches Heim gemußt“, schrieb Iwanskaja.

Pasternak arbeitete abwechselnd an bezahlten Übersetzungsaufträgen und an Doktor Schiwago. „ Ich arbeite schrecklich viel“, schrieb er seiner Cousine. Er hatte wenig Hoffnung, dass sein Roman je veröffentlicht werden würde. „Wann sie ihn drucken, ob in zehn Monaten oder in 50 Jahren, weiß ich nicht, und es spielt auch keine Rolle.“

|86|Freunde machten ihm immer wieder Mut. Lydia Tschukowskaja schrieb ihm im August 1952 nach der Lektüre des dritten Teils: „Schon den ganzen Tag lang, esse, schlafe, existiere ich nicht – ich lese den Roman. Von vorne bis hinten und dann wieder von hinten und in Teilen … Ich lese Ihren Roman wie einen an mich gerichteten Brief. Ich möchte ihn die ganze Zeit in meiner Tasche herumtragen, sodass ich ihn jeden Moment herausnehmen und mich davon überzeugen kann, dass er noch da ist, und immer wieder meine Lieblingspassagen lesen kann.“

Pasternak fuhr vor kleinem Publikum mit seinen Lesungen aus Doktor Schiwago fort. Sein Leben spielte sich im Sommer nun überwiegend in Peredelkino und im Winter in seiner Moskauer Wohnung ab; sein Wirkungskreis beschränkte sich auf wenige zuverlässige Freunde und junge Schriftsteller. In der Datscha versammelten sich in seinem Arbeitszimmer im Obergeschoss an Sonntagen bis zu 20 Gäste, denen er mehrere Stunden lang vorlas – eine Alternative zu den Veranstaltungen des Allunionsschriftstellerverbands. Der großartige Schauspieler Boris Liwanow, Mitglied des Moskauer Künstlertheaters, und der junge Dichter Andrei Wosnessenski, der sich in seinen Stuhl zu lümmeln pflegte, waren häufig zu Gast, ebenso wie der Pianist Swjatoslaw Richter, der oft tief in sich versunken mit halb geschlossenen Augen dasaß, und seine Lebensgefährtin, die Sopranistin Nina Dorliak.

An manchen Wochenenden war auch Juri Krotkow dabei, ein Bühnenautor, der im nahe gelegenen Künstlerhaus von Peredelkino ein Zimmer bezogen hatte. Er trieb sich gerne mit einigen Diplomaten und Journalisten in der Stadt herum. Als Kartenspieler hatte er Sinaidas Herz erobert und durfte an ihrem Tisch Platz nehmen. Er arbeitete als Spion für den KGB und hatte bei einigen Undercovereinsätzen seine Finger im Spiel gehabt. Unter anderem hatte er den französischen Botschafter mit einer russischen Schauspielerin in eine Sexfalle gelockt.

Nach dem Ende einer Lesung trug jeder seinen Stuhl oder Hocker wieder nach unten, und man setzte sich gemeinsam zu dem von Sinaida zubereiteten Festmahl: Oft gab es Wein, Wodka und Kwass,hausgemachtes Brotbier, Kaviar, eingelegte Heringe und Essiggurken, danach manchmal einen Wildeintopf. Pasternak saß an einem, |87|Liwanow am anderen Kopfende des Tischs. Von dort aus spielten sie einander die Bälle zu.

„Ich habe eine Frage an Slawa!“, sagte Pasternak und blickte Riehter an. „Slawa, sag: Gibt es Kunst?“

„Lasst uns auf die Dichtung trinken!“, rief Liwanow.

Doktor Schiwago blieb weiterhin umstritten, doch Pasternak ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Von denen, die meinen Roman gelesen haben, sind die meisten unzufrieden. Sie sagen, er sei misslungen und dass sie mehr von mir erwartet hätten, bezeichnen ihn als farblos und meiner nicht würdig, doch ich nehme das alles grinsend zur Kenntnis, als ob diese Beschimpfungen und Verurteilungen Komplimente wären.“

Der Antisemitismus der großen Kampagne gegen „Kosmopoliten“ nahm 1952 und 1953 hysterische und brutale Züge an. Alle führenden jüdischen Schriftsteller der Sowjetunion wurden im August 1952 nach einem Geheimprozess wegen Landesverrats erschossen. Im Januar 1953 berichtete die Prawda von einer „Ärzteverschwörung“: Jüdische Ärzte wurden beschuldigt, durch Falschbehandlung das Leben prominenter Sowjets, unter ihnen Andrei Alexandrowitsch Schdanow, verkürzt zu haben. Der Verfolger Achmatowas und Soschtschenkos war im August 1948 infolge seines ungeheuren Alkoholkonsums an einem Herzinfarkt gestorben. Sein Tod wurde jedoch den Initiatoren einer amerikanisch-zionistischen Verschwörung in die Schuhe geschoben. Zu den Opfern der Säuberungsaktion, die schwer gefoltert wurden, gehörte auch Dr. Miron Wowsi, der frühere oberste Chirurg der Roten Armee und einer der Kardiologen, die Pasternak kurz zuvor das Leben gerettet hatten. Wowsi gestand, eine Gruppe von Kreml-Ärzten zur Bildung einer terroristischen Vereinigung angeregt zu haben. Prominente jüdische Kulturgrößen, darunter der Journalist Wassili Grossman und der Geiger David Oistrach, wurden zur Unterzeichnung eines Aufrufs an Stalin gezwungen, der aufgefordert wurde, alle Juden in den Osten umzusiedeln, um sie vor dem „Zorn der Menschen“ zu schützen.

Pasternak rettete wahrscheinlich sein Herzinfarkt vor den Folgen, die eine Unterschriftsverweigerung hätte haben können. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus begab er sich zur weiteren |88|Genesung und zum Schreiben in ein Sanatorium in Bolschewo nordöstlich von Moskau. „Ich bin jetzt glücklich und frei, bei guter Gesundheit und in heiterer Stimmung, und mit leichtem Herzen setze ich mich nieder, um an Schiwago zu arbeiten, der ein wesentlicher Teil von mir ist, obwohl er niemandem etwas nützt.“ Als am 5. März 1953 Stalins Tod verkündet wurde, war Pasternak in Bolschewo. Sinaida, die einmal gesagt hatte, ihre Söhne liebten Stalin mehr als ihre Mutter, trauerte wie viele Sowjetbürger um den „Führer“. Sie schlug Pasternak vor, zu Stalins Gedenken ein Gedicht zu schreiben. Er lehnte ab: Stalin habe die Intelligenzija auf dem Gewissen und ein Blutbad angerichtet.

In Resonanz auf Stalins Tod kündigte die neue Führung am 27. März eine weitgehende Amnestie für Gefangene an. Auch Frauen mit Kindern und Sträflinge, die zu bis zu fünf Jahren Haft verurteilt worden waren, wurden freigelassen. Iwinskaja, die von den langen Arbeitstagen auf dem Feld braun gebrannt war und abgenommen hatte, kehrte nach Moskau zurück. Pasternak scheute sich zunächst, die Affäre Wiederaufleben zu lassen. Sinaida hatte ihn gesund gepäppelt, und er hatte das Gefühl, dass er ihr sein Leben verdankte. Er brachte es aber auch nicht fertig, mit Iwanskaja Schluss zu machen, und verhielt sich ziemlich kindisch. Noch vor ihrer Ankunft in der Hauptstadt verabredete er sich mit ihrer Tochter und bat die fünfzehnjährige Irina, ihrer Mutter zu sagen, dass er die Beziehung nicht weiterführen könne, obwohl er sie noch liebe. Irina fand sein Ansinnen absurd und schwieg. Iwinskaja, die erst Jahre später von dem Gespräch erfuhr, erkannte in Pasternaks Äußerungen eine „Mischung aus kindlichem Charme und Herzlosigkeit“. Ihr Geliebter konnte linkisch und grausam sein.

Die Datscha in Peredelkino wurde 1953 winterfest gemacht, mit einem Gasanschluss, fließendem Wasser, einem Bad und drei neuen Räumen versehen, kurz: „in einen Palast verwandelt“. Pasternak war die Grandezza seines großen Arbeitszimmers mit Parkettboden peinlich. Die rosa getünchten Wände wurden mit den Zeichnungen seines Vaters geschmückt, unter anderem einigen Originalillustrationen für Tolstois Roman Auferstehung. Auf Wunsch seiner Ärzte, die Pasternak nahelegten, sich ein friedlicheres |89|Lebensumfeld als Moskau zu suchen, lebte er nun rund ums Jahr in Peredelkino. Nach Iwinskajas Rückkehr nach Moskau hielt er ein paar Monate lang eine gewisse emotionale Distanz. Doch spätestens 1954 flammte die Affäre wieder auf, und im Sommer war Iwinskaja häufig in Peredelkino zu Gast, vor allem, wenn Sinaida mit Leonid in Jalta oder am Schwarzen Meer in Urlaub war. Iwinskaja wurde wieder schwanger, doch nach einer sehr holprigen Fahrt in einem Kleinlaster wurde ihr schlecht. Das Kind kam auf dem Weg ins Krankenhaus im Krankenwagen zur Welt. Es war tot. Im Sommer 1955 mietete Iwinskaja eine halbe Datscha am Ismalkowo-See, die man von Peredelkino aus über eine hölzerne Fußgängerbrücke erreichte. Sie stellte ein großes Bett in die verglaste Veranda und hängte blaurote Chintzvorhänge vor die Fenster, um für etwas Privatsphäre zu sorgen. Als der Sommer endete, mietete sie ein Zimmer in Peredelkino, sodass sie rund ums Jahr in Pasternaks Nähe sein konnte. Dieser pendelte nun zwischen dem von ihm so genannten „großen Haus“, in dem seine Frau wohnte, und dem Zimmer seiner Geliebten hin und her. Das Mittagessen und die Nachmittage waren für Iwinskaja reserviert; zum Abendessen kehrte er nach Hause zurück. Die Vormittage widmete er dem Schreiben.

Iwinskaja begann als Pasternaks Agentin zu arbeiten und regelte seine Angelegenheiten in Moskau, sodass er nur noch selten in die Stadt musste. Ihre Rolle ließen neue Zweifel an ihrer Vertrauenswürdigkeit aufkommen. Auch später noch überschatteten Vorwürfe unterschiedlichster Art ihr Leben. Lydia Tschukowskaja beendete ihre Freundschaft mit Olga Iwinskaja 1949 wegen deren „Verkommenheit, Verantwortungslosigkeit, ihrer Unfähigkeit, irgendeiner Arbeit nachzugehen, ihrer Lügen gebärenden Gier“. Nichtsdestoweniger habe sie Iwinskaja nach deren Haftentlassung Geld für Lebensmittel, Kleidung und Bücher anvertraut, die für ihre gemeinsamen Freundin Nadeschda A. Joffe, die immer noch in einem Lager saß, bestimmt waren. Laut Tschukowskaja bestand Iwinskaja darauf, wegen ihrer, Lydias, Herzerkrankung die Verantwortung für den Versand der Pakete zu übernehmen; sie mussten in einem Postamt außerhalb Moskaus aufgegeben werden. Keine der Sendungen erreichte ihre Adressatin, und Tschukowskaja beschuldigte Iwinskaja, |90|sie habe sich des unverzeihlichen Verbrechens schuldig gemacht, Geschenke zu stehlen, die die für eine Gefängnisinsassin bestimmt waren und dazu beitragen sollten, sie am Leben zu erhalten. Achmatowa und anderen erzählte Tschukowskaja von dem Verrat, Pasternak gegenüber verschwieg sie ihn, weil sie ihn nicht aufregen wollte. „So etwas ist mir noch nicht einmal unter Verbrechern zu Ohren gekommen“, meinte Achmatowa dazu. Als Joffe Tschukowskajas Bericht später las, protestierte sie heftig: Es gebe keinen Beweis dafür, dass Iwinskaja für sie bestimmte Geschenke gestohlen habe, aber durchaus andere plausible Erklärungen für den Verlust der Pakete auf dem Postweg.

Iwinskaja schrieb später: „Es schmerzt mich zu denken, dass sogar Lydia Tschukowskaja eine dieser Verleumdungen für bare Münze nahm“, doch habe sie Pasternaks Rat befolgt, „schmutzige Unterstellungen“ zu ignorieren.

„Die, die dich kennen, werden niemals glauben, dass du des Diebstahls oder Mordes oder was auch immer fähig bist“, schrieb sie. „Wenn Diffamierungen die Runde machen, sag nichts. … Und so wahrte ich einfach meinen Frieden.“

Einige von Pasternaks engsten Freunden ließen sich von dieser Anschuldigung jedoch stark beeinflussen. Manche von ihnen glaubten sogar, dass Iwinskaja, die sie ohnehin als fordernd und manipulativ wahrnahmen, jede Art von Verrat begehen würde – auch an Pasternak höchstpersönlich.

Es gibt Indizien dafür, dass sie ihm nicht immer treu war. Warlam Schalamow, der 16 Jahre in unterschiedlichen Straflagern verbracht hatte und zu Pasternaks glühendsten Bewunderern zählte, schrieb ihr 1956 ein paar leidenschaftliche Liebesbriefe und schien an eine gemeinsame Zukunft mir ihr zu glauben. Nach seiner Entlassung aus dem Gulag 1953 hatte er sich nicht in Moskau niederlassen dürfen und wusste offenbar nichts von Iwinskajas Beziehung zu Pasternak. Später bezeichnete er die Episode als „schmerzhaftes moralisches Trauma“.

„Für Frau Iwinskaja war Pasternak nur das Objekt eines überaus zynischen Geschäfts, was Pasternak natürlich wusste“, schrieb Schalamow in einem Brief an Nadeschda Mandelstam. „Pasternak war ihr Pfand, das sie einsetzte, wann sie konnte.“

|91|Stalins Tod führte zu beißender Kritik an der ideologischen Zwangsjacke, die den Künstlern die Luft abschnürte, und weckte die Hoffnung auf mehr Gedankenfreiheit. Im Sommer 1953 veröffentlichte der Chefredakteur der Literaturzeitschrift Nowy Mir ein provokatives Gedicht über das traurige Dasein, das die Literatur fristete:

Und alles sieht recht wirklich aus, alles gleicht

Dem, was ist oder sein könnte

Doch als Ganzes ist es so unverdaulich

Dass man vor Schmerz aufheulen möchte.

In der Oktoberausgabe von Snamja veröffentlichte Ilja Ehrenburg den Artikel „Zur Arbeit des Schriftstellers“ und äußerte, dass „ein Schriftsteller kein Apparat zur mechanischen Aufzeichnung von Ereignissen“ sei, sondern schreibe, „um den Menschen etwas von dem zu erzählen, was er fühle, weil sein Buch begonnen habe, ihn ‚zu schmerzen‘“. Es wurde zur „Aufrichtigkeit“ in der Literatur aufgerufen. Pasternak rief Tschukowski über den Zaun zu: „Ein neues Zeitalter bricht an: Sie wollen mich veröffentlichen!“

Anfang 1954 wurde Hamlet in Pasternaks Übersetzung im Puschkin-Theater in Leningrad aufgeführt. Im April veröffentlichte Snamja zehn Gedichte aus der Sammlung, die für das Schlusskapitel von Doktor Schiwago vorgesehen waren – die erste Publikation von Originaltexten Pasternaks seit dem Krieg. Die religiöseren Gedichte wurden nicht abgedruckt, doch Pasternak durfte eine Einführung zu Doktor Schiwago schreiben: „Der Roman wird in diesem Sommer wahrscheinlich fertig werden. Er umfaßt die Zeit von 1903 bis 1929 und enthält einen Epilog, der sich auf den Großen Vaterländischen Krieg bezieht. Der Held Jurij Andrejewitsch Schiwago ist Arzt. Ein nachdenklicher Mann, ein Wahrheitssucher, künstlerisch begabt. Er stirbt 1929. Unter seinen nachgelassenen Papieren und Aufzeichnungen aus jüngeren Jahren befanden sich Gedichte, von denen ein Teil hier veröffentlicht wird. Die vollständige Sammlung der Gedichte wird das letzte Kapitel des Romans bilden.“ Pasternak war in Hochstimmung: „Die Worte ‚Doktor Schiwago‘ haben es auf eine Seite mit aktuellen Nachrichten geschafft – wie ein Schandfleck!“ |92|Seiner Cousine schrieb er, dass er den Roman beenden müsse und wolle, und „bis zu seinem Abschluß bin ich auf aberwitzige, manische Weise nicht Herr meiner Zeit“. Die Gralshüter der Ideologie mochten unter den Veränderungen ins Taumeln geraten sein, doch den Rückzug angetreten hatten sie nicht. Als neue, unbequeme Prosa und Lyrik zu erscheinen begann, wandte Surkow sich an die Prawda, um die Schriftsteller vor derlei Experimenten zu warnen und sie über ihre Pflichten aufzuklären. „Die Partei hat sowjetische Schriftsteller immer daran erinnert, dass die Stärke der Literatur in ihrer Vertrautheit mit dem Leben der Menschen liegt, von dem sie nicht entfremdet werden kann. … Wir haben dagegen angekämpft, literarischen Einflüssen zu erliegen, die nicht oder nicht länger die unsren sind – gegen den bürgerlichen Nationalismus, gegen Großmachtchauvinismus, gegen die antipatriotischen Aktivitäten der Kosmopoliten.“ Einen Monat später griff ein anderer konservativer Kritiker Pasternaks Gedicht „Hochzeit“ als repräsentatives Beispiel für die um sich greifende falsche Aufrichtigkeit heraus. Andere taten weiter so, als sei Pasternak bedeutungslos. Boris Polewoi, der die Auslandsabteilung des sowjetischen Schriftstellerverbands leitete, gab bei einem Besuch in New York zum Besten, dass er noch nie von einem Roman Pasternaks gehört habe. Ein mitreisender sowjetischer Journalist sagte, Pasternak sei durch die Arbeit als Übersetzer so „reich und träge“ geworden, dass er gar nicht in der Lage sei, den Roman zu vollenden.

Einen großen Teil des Winters 1954 verbrachte Pasternak in Peredelkino, wo er intensiv an den letzten Kapiteln von Doktor Schiwago arbeitete. Von seinem Arbeitszimmer aus konnte er über den Garten und eine breite Wiese bis zu der kleinen Kirche blicken, die er gelegentlich aufsuchte. In dem Zimmer standen eine Pritsche, ein Kleiderschrank, ein Schreibtisch, ein Stehpult und ein schmales, dunkel gebeiztes Bücherregal mit einer kleinen Auswahl an Büchern, zu der auch ein großes russisch-englisches Wörterbuch und eine russische Bibel gehörten. „Ich persönlich hebe weder Familienerbstücke noch Archive, noch irgendwelche Sammlungen, auch keine Bücher und Möbel, auf. Briefe oder Entwurfskopien von meiner Arbeit bewahre ich ebenfalls nicht auf. In meinem Zimmer stapelt |93|sich nichts; es ist leichter sauberzumachen als ein Hotelzimmer. Ich lebe wie ein Student.“

Pasternak legte Wert auf einen regelmäßigen Tagesablauf. Er stand früh auf und wusch sich draußen an einer Wasserpumpe, sogar im Winter, wenn sein Gesicht und seine Brust in der Kälte dampften. Als jüngerer Mann hatte er regelmäßig im Fluss gebadet, und noch immer tauchte er den Kopf ins Wasser, wenn im Frühjahr das Eis aufbrach. Er machte gerne täglich einen langen, schnellen Spaziergang, auf dem er immer Süßigkeiten für die Dorfkinder dabei hatte.

Wenn Pasternak in seinem Arbeitszimmer im Obergeschoss schrieb, sorgte Sinaida dafür, dass Besucher ihn nicht störten und seine Privatsphäre gewahrt blieb. Im Winter 1954 war sie besonders wachsam, da sie erfahren hatte, dass ihr Mann seine Beziehung zu Iwinskaja wiederaufgenommen hatte. Achmatowa beschrieb Pasternak als halbkranken Gefangenen und hielt fest, dass Sinaida grob zu ihm war. Ein Besucher beobachtete, dass sie „ihre Lippen gekränkt zum Amorbogen geschürzt“ hatte. Pasternak selbst war manchmal gereizt, wenn er die Arbeit an Doktor Schiwago unterbrechen musste. Widerwillig übersetzte er die Rede Bertolt Brechts, der gerade in Moskau war, um den Stalinpreis in Empfang zu nehmen, doch als der sowjetische Schriftstellerverband ihm vorschlug, auch einige von Brechts Gedichten ins Russische zu übertragen, machte er seinem Ärger Luft: „Sicherlich ist Brecht klar, dass Übersetzungsaufträge eine Schande sind. Ich bin mit einem bedeutenden Werk beschäftigt, für das die Zeit noch nicht gekommen ist – im Gegensatz zu Brechts altem Plunder.“ Er weigerte sich, zum Empfang des deutschen Autors nach Moskau zu fahren.

Im Sommer 1955 fuhr Pasternak mit der Überarbeitung seines fast fertigen Manuskripts fort. Nach der Lektüre einer frisch abgetippten Version kam er zu dem Schluss, dass einige „schwierige und komplizierte Passagen vereinfacht und aufgelockert werden müssen“. Selbst während der relativ entspannten Phase des „Tauwetters“ war er hinsichtlich einer Veröffentlichung nicht optimistisch. Als er eines schönen Herbstabends mit Iwinskaja die Fußgängerbrücke über den Ismalkowo-See überquerte, sagte er zu ihr: „Glaub mir – um nichts in der Welt werden sie den Roman drucken. Sie können |94|es gar nicht! Wir müssen ihn deshalb überhallhin zum Lesen ausleihen. Jeder, der möchte, soll in lesen, denn er wird ganz bestimmt nie gedruckt werden.“

Im November überarbeitete er den Roman ein letztes Mal, und am 10. Dezember 1955 erklärte er ihn für vollendet: „Sie können sich nicht vorstellen, was ich geschafft habe! Ich habe für dieses ganze Hexenwerk, das jahrzehntelang für Leid, Verwirrung, Verwunderung und Streit gesorgt hat, Benennungen gefunden. Alles ist mit einfachen, transparenten und traurigen Worten benannt. Auch habe ich noch einmal die liebsten und wichtigsten Dinge erneuert und neu definiert: Land und Himmel, große Leidenschaft, Kreativität, Leben und Tod.“

Die Affäre Schiwago

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