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|36|Kapitel 2

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„Pasternak scheint mir, ohne sich darüber im Klaren zu sein, Zugang zu Stalins Privatleben erlangt zu haben.“

Auf die Revolution folgte ein verheerender und langwieriger Bürgerkrieg zwischen der Roten Armee und den antibolschewistischen Weißen. Die Winter waren ungewöhnlich streng. Lebensmittel waren knapp, und Pasternaks Familie war daran gewöhnt, Hunger zu leiden. Boris verkaufte Bücher für Brot und fuhr aufs Land, um bei Verwandten und Freunden Äpfel, trockene Brötchen, Honig und Fett zu erbetteln. Mit seinem Bruder sägte er Brennholz aus dem Gebälk des Dachbodens, um die zwei Zimmer, die ihnen die Behörden in der Wolkhonka-Straße noch zugestanden, heizen zu können. Nachts stahlen die Brüder manchmal Zaunelemente und anderes brennbares Material. Mit der Gesundheit ging es bei fast allen bergab, und 1920 erhielt Leonid die Erlaubnis, Rosa nach einem Herzinfarkt zur Behandlung nach Deutschland zu bringen. Auch ihre beiden Töchter zogen nach Deutschland, sodass die Familie für immer auseinandergerissen war. Pasternaks Eltern und Schwestern ließen sich schließlich vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in England nieder.

Boris Pasternak sah seine Eltern nur noch einmal, und zwar nach der Hochzeit mit seiner ersten Frau Jewgenia während eines Berlin-Besuchs. Dieser zehnmonatige Aufenthalt in der Hauptstadt der Russlandemigranten überzeugte Pasternak davon, dass seine künstlerische Zukunft in seiner Heimat lag und nicht in der der Nostalgie anheimgefallenen, zerstrittenen Exilgemeinschaft. „Pasternak fühlt sich in Berlin nicht wohl“, schrieb der Literaturtheoretiker und -kritiker Wiktor Schklowski, der später ebenfalls nach Moskau zurückkehrte. |37|„Mir scheint, dass er uns als antriebslos empfindet … Wir sind Flüchtlinge. Nein, keine Flüchtlinge, sondern Flüchtige – und nun illegale Siedler … Das russische Berlin geht nirgendwohin. Es hat keine Bestimmung.“ Pasternak fühlte sich Moskau und Russland tief verbunden. „In den Moskauer Straßen, Seitenwegen und Höfen fühlte er sich wie ein Fisch im Wasser; hier war er in seinem Element und sprach reines Moskowitisch … Ich erinnere mich, wie sehr mich seine umgangssprachliche Redeweise schockierte und wie organisch sie mit seiner ganzen moskowitischen Art verbunden war“, beobachtete Kornei Tschukowski.

Isaiah Berlin schrieb, Pasternak habe ein „leidenschaftliche[s], beinahe obsessive[s] Verlangen, als russischer, tief in russischem Boden verwurzelter Dichter gesehen zu werden“. Dies habe sich besonders deutlich gezeigt, „wenn er seine negativen Gefühle über seine jüdischen Ursprünge äußerte. … Er meinte, die Juden sollten sich assimilieren und als Volk verschwinden.“ In Doktor Schiwago artikuliert die Figur Mischa Gordons diesen Standpunkt, indem er von den Juden fordert: „Besinnt euch. Es genügt. Mehr ist nicht nötig. Nennt euch nicht mehr wie früher. Drängt euch nicht mehr zusammen, verstreut euch. Seid mit allen. Ihr seid die ersten und die besten Christen der Welt.“ Als Kind wurde Pasternak von seinem Kindermädchen in Moskau in orthodoxe Gottesdienste mitgenommen – es duftete nach Weihrauch, und über die Messe wachten Ikonostasen. Laut seinen Schwestern ließ ihn die russisch-orthodoxe Theologie vor 1936 jedoch kalt, und Isaiah Berlin sah noch 1945 keinerlei Anzeichen von Religiosität, woraus er schloss, dass Pasternaks Interesse am Christentum ein „später Zuwachs“ sei. Als älterer Mann hing Pasternak seiner persönlichen Version des Christentums an, ein Glaube, der durch die orthodoxe Kirche beeinflusst war, auch wenn er ihr formell nicht angehörte. „Ich bin als Jude geboren“, sagte er gegen Ende seines Lebens zu einem Journalisten. „Meine Familie interessierte sich für Musik und Kunst und widmete der religiösen Praxis wenig Aufmerksamkeit. Da ich ein dringendes Bedürfnis verspürte, einen Weg zu finden, mit dem Schöpfer zu kommunizieren, wurde ich zum russisch-orthodoxen Christentum bekehrt. Doch so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte keine vollkommene spirituelle Erfahrung erlangen. So bin ich noch immer ein Suchender.“

|38|Anfang 1921 siegten die Bolschewiken über die Weißen, und das literarische Leben in dem zerstörten Land kam langsam wieder in Fahrt. Die erste Auflage des Lyrikbandes Meine Schwester – das Leben, der auch in Berlin publiziert wurde, belief sich auf etwa 1000 Exemplare. Die Bücher waren in einen etwas ärmlich wirkenden, khakifarbenen Schutzumschlag gehüllt – „die letzte Wette eines schwarz sehenden Verlegers“. Meine Schwester – das Leben erhielt euphorische Besprechungen, die den Auftritt eines Giganten auf der literarischen Bühne ankündigten.

„Pasternaks Verse zu lesen heißt, sich zu räuspern, seine Atmung zu kräftigen, die Lungen zu füllen; mit solcher Poesie ließe sich Tuberkulose heilen. Keine Dichtung ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt gesünder! Sie ist Kumys [vergorene Stutenmilch], verglichen mit Büchsenmilch“, schrieb der Dichter Ossip Mandelstam.

„Sie erfassten mich wie ein Platzregen … Ein Platzregen aus Licht“, schwärmte Zwetajewa 1922 in einer Rezension. „Bei Pasternak ist alles weit offen – Augen, Nasenlöcher, Ohren, Lippen, Arme.“

Die Gedichte schienen die Ereignisse von 1917 kaum zu berühren, sah man von „dezentesten Hinweisen“ ab, wie Zwetajewa es ausdrückte. Das Wort „Revolution“ wurde nur einmal verwendet – zur Beschreibung eines Heuhaufens. Die leichtfertige Gleichgültigkeit gegenüber der politischen Lage in dem Gedicht „Über diese Verse“, das am Anfang der Sammlung stand, führte dazu, dass Pasternak ein gewisser unzeitgemäßer Manierismus vorgeworfen wurde:

Mit vorgehaltener Hand, im Schal

Ruf ich durchs Klappfenster: He, ihr

Da draußen, Kinder, sagt doch mal –

Welches Jahrtausend haben wir?

Ein „Aristokratengewächs aus dem Treibhaus der Privatgemächer unserer Gesellschaft“, spottete der marxistische Kritiker Walerian Prawdukhin. Die Kritik wurde schließlich immer lauter, doch 1922 dämpfte die allgemeine Anerkennung der poetischen Vollkommenheit von Pasternaks Lyrik jede Spekulation über ideologische Mängel.

Pasternak hatte es geschafft, und es dauerte nicht lange, bis die sowjetische Führung es bemerkte. Im Juni 1922 wurde er zu einem |39|Treffen mit Leo Trotzki zum Revolutionären Militärrat zitiert. Der Chef der Roten Armee gehörte zu den führenden Theoretikern des neuen marxistischen Staates und war nach Lenin der bekannteste Vertreter der neuen Führung. Trotzki interessierte sich von allen Mitgliedern des Politbüros am meisten für Kultur und glaubte, dass Künstler und propagandistische Kunst für den Aufstieg der Arbeiterklasse eine entscheidende Rolle spielten. Sein Ziel war die Schaffung einer „klassenlosen Kultur, der ersten, die wahrhaft universal sein wird“. 1922 begann Trotzki, sich mit den Werken prominenter und angehender Schriftsteller vertraut zu machen, und im Jahr darauf publizierte er Literatur und Revolution. „ Es ist lächerlich, unsinnig und äußerst dumm“, schrieb er im Vorwort, „so zu tun, als könne die Kunst achtlos an den Erschütterungen unserer heutigen Epoche vorübergehen. […] Wären Natur, Liebe, Freundschaft nicht mit dem sozialen Geist der Epoche verbunden, so hätte die Lyrik schon längst ihre Existenz aufgegeben. Nur der tiefgehende Umbruch der Geschichte, d.h. die klassenmäßige Umgruppierung der Gesellschaft, rüttelt die Persönlichkeit auf, begründet einen neuen Blickwinkel der lyrischen Einstellung zu den Grundthemen der persönlichen Dichtung und bewahrt gerade dadurch die Kunst vor ewigen Wiederholungen.“

„Trotzki war in Kulturangelegenheiten kein Liberaler“, schrieb einer seiner Biografen. „Er war der Meinung, dass in Russland niemand, der die sowjetische Ordnung infrage stellte, sei es auch nur in einem Roman oder Gemälde, eine offizielle Duldung verdiente. Doch er wollte innerhalb dieses strengen Rahmens flexible Verfahrensweisen. Er strebte danach, die Sympathie jener Intellektueller zu gewinnen, die der Partei nicht feindlich gesinnt waren und zu Parteifreunden werden konnten.“

Trotzki wollte herausfinden, ob Pasternak gewillt war, sein lyrisches Talent und seine Individualität in den Dienst einer größeren Sache zu stellen: der Revolution. Pasternak erholte sich gerade von einer durchzechten Nacht, als die Vorladung kam. Wenig später wollte er mit Jewgenia nach Deutschland aufbrechen, um sie seinen Eltern vorzustellen, und die Abschiedsparty in der Wolkhonka-Straße hatte ihren Tribut von den Anwesenden gefordert. Pasternak lag noch im Bett, als um zwölf Uhr mittags das Telefon läutete. Er |40|solle in einer Stunde zu einer Audienz bei Trotzki beim Revolutionären Militärrat erscheinen. Pasternak rasierte sich schnell, goss Wasser über seinen hämmernden Schädel und spülte sich den Mund mit kaltem Kaffee aus, ehe er sich ein gestärktes weißes Hemd und eine frisch gebügelte blaue Jacke überwarf. Ein Dienstmotorrad mit Seitenwagen holte ihn ab.

Die beiden Männer begrüßten einander formell mit Vornamen und Vatersnamen.

Pasternak entschuldigte sich: „Es tut mir leid, ich komme von einer Abschiedsparty, auf der viel getrunken wurde.“

„Sie haben recht“, sagte Trotzki, „Sie sehen wirklich mitgenommen aus.“

Die beiden Männer unterhielten sich über eine halbe Stunde lang, und Trotzki frage Pasternak, warum er es „unterlassen habe“, auf gesellschaftliche Themen zu reagieren. Pasternak sagte, seine „Antworten und Erklärungen kämen einer Verteidigung des wahren Individualismus gleich, als einer neuen gesellschaftlichen Zelle in einem neuen gesellschaftlichen Organismus“. Trotzki habe ihn „entzückt und ziemlich gefesselt“, meinte er, gestand aber später einem Freund, dass er das Gespräch an sich gerissen und Trotzki daran gehindert habe, seine Meinung in Gänze zum Ausdruck zu bringen. Tatsächlich schien ihm das Kunststück gelungen zu sein, Trotzki sprachlos gemacht zu haben.

„Gestern habe ich damit begonnen, mich durch das Dickicht Ihres Buches zu kämpfen“, sagte Trotzki zu Meine Schwester – das Leben. „ Was versuchten Sie darin zum Ausdruck zu bringen?“

„Diese Frage müssen Sie dem Leser stellen“, entgegnete Pasternak. „Sie entscheiden selbst.“

„Nun, wenn das so ist, dann kämpfe ich weiter. Es war nett, Sie kennenzulernen, Boris Leonidowitsch.“

Pasternak fand keine Erwähnung in Literatur und Revolution – angesichts des aufkommenden Machtkampfs zwischen Trotzki und Stalin und Trotzkis späterem Sturz eine Brüskierung, die sich als glückliche Fügung erweisen sollte. Nach Lenins Tod 1924 schaltete Stalin seine Gegner innerhalb der Partei nach und nach aus und vernichtete sie.

|41|Pasternaks Begegnungen mit den Mächtigen, eine Konstante in seinen Beziehungen zum sowjetischen Staat, wurden faszinierenderweise nicht wahrgenommen. Er zeigte eine außergewöhnliche Bereitschaft, in einer Gesellschaft, in der die Menschen alles, was ideologisch oder sonstwie Missfallen erregen konnte, aus ihrer Sprache herauszufiltern versuchten, seine Meinung zu äußern. Pasternak stellte sich niemals offen gegen die Sowjetmacht, und seine Haltung gegenüber den Männern im Kreml pendelte zwischen Faszination und Abscheu. Diese seltsame Ambivalenz bediente keiner besser als Stalin, der ebenso verführerisch wie verabscheuungswürdig auf ihn wirkte und seinerseits von Pasternaks Ruf als Dichterprophet ein wenig fasziniert war. Ossip Mandelstams Frau Nadeschda beobachtete „eine bemerkenswerte Eigenschaft unserer Führer: ihre grenzenlose, ja allzu abergläubische Hochachtung der Dichtung gegenüber“. Dies galt in besonderem Maße für die Beziehung zwischen Stalin und Pasternak. Sie trafen sich nie und telefonierten nur einmal miteinander, doch zwischen ihnen gab es ein geheimnisvolles, unerklärliches Band. Pasternak idealisierte eine Zeitlang den Diktator. Stalin ließ den Dichter am Leben.

Am 11. November 1932 stand Boris Pasternak am Fenster seiner Wohnung in der Wolkhonka-Straße und sah auf den schwarzen, mit Zwiebeltürmchen geschmückten Leichenwagen herab, der Stalins verstorbene Frau auf den Nowodewitschi-Friedhof brachte. Jewgeni Pasternak schrieb später, sein Vater sei aufgewühlt gewesen. Dessen öffentliche Stellungnahme, die sechs Tage später publiziert wurde, sorgt bis heute für Spekulation, dass Stalin, ein einstiger Priesterseminarist, Pasternak unglaublicherweise seinen Segen erteilt hatte.

Am frühen Morgen des 9. November 1932 tötete Nadja Allilujewa, Stalins 31-jährige Ehefrau, sich selbst. Niemand hörte den Schuss. Als ein Dienstmädchen in einer Kreml-Wohnung auf dem Boden von Allilujewas Schlafzimmer ihre in einer Blutlache liegende Leiche fand, war sie schon kalt. Am anderen Ende des Flurs schlief ihr Mann nach einer feuchtfröhlichen Nacht seinen Rausch aus. Am Vorabend hatten die Parteibonzen der KPdSU im Haus des Verteidigungsministers Kliment Woroschilow den 15. Jahrestag der Revolution gefeiert. Die gesamte Führungsriege der Partei lebte in |42|klaustrophobischer Enge innerhalb der dicken roten Backsteinmauern des Kremls. Ihre Partys waren für gewöhnlich ausgelassen, der Alkohol floss in Strömen, und Stalin, dessen wölfische Bösartigkeit direkt unter der Oberfläche lauerte, war an diesem Abend besonders unausstehlich. Seine Frau, die sich selbst gegenüber den beiden Kindern, dem elfjährigen Wassili und der sechsjährigen Swetlana, abweisend und reserviert verhielt, war eine unbeugsame Bolschewikin, die das langweilige Aussehen einer pflichtbewussten Bediensteten bevorzugte. Bei ihrer Hochzeit mit dem 41-jährigen Stalin war sie erst 18, also noch ein Mädchen gewesen. Er vernachlässigte sie, und sie neigte zunehmend zu schwerer Migräne, hysterischen Anfällen und Erschöpfungszuständen. Einer von Stalins Biografen schrieb, dass Allilujewa „an einer ernsthaften Geisteskrankheit, vielleicht ererbter manischer Depression oder einer Borderline-Persönlichkeitsstörung“ gelitten habe.

Für den Abend bei Woroschilow hatte Allilujewa sich etwas Besonderes überlegt. Sie trug ein stilvolles schwarzes Kleid mit aufgestickten roten Rosen, das sie in Berlin gekauft hatte. Ihr Mann, der alleine zur Party kam, nahm es nicht zur Kenntnis, obwohl er ihr in der Mitte des Esstischs gegenübersaß. Stattdessen flirtete er mit der Frau eines Befehlshabers der Roten Armee, einer Filmschauspielerin, die er scherzhaft mit Brotstückchen bewarf. Das Essen wurde mit georgischem Wein hinuntergespült und häufig unterbrochen, um mit Wodka Toasts auszubringen. Irgendwann hob Stalin sein Glas auf die Vernichtung der Staatsfeinde, was Allilujewa absichtlich ignorierte. „He du!“, schrie Stalin, „trink!“ Sie schrie zurück: Wage es nicht, mich mit ‚he du‘ anzureden!“ Laut einigen Berichten schnippte Stalin eine brennende Zigarette nach ihr, die an ihrem Kleid herunterfiel. Allilujewa stürmte nach draußen, gefolgt von Polina Molotowa, der Frau von Wjatscheslaw Molotow, dem Vorsitzenden der Rats der Volkskommissare. Allilujewa beklagte sich bei Molotowa über das Benehmen ihres Mannes und sagte ihr, dass sie ihn verdächtige, mit anderen Frauen zu schlafen, unter anderem mit einer Friseuse aus dem Kreml. Als die beiden Frauen sich trennten, schien Allilujewa sich beruhigt zu haben. Nikita Chruschtschow sagte Jahre danach, als er seine Erinnerungen auf Tonbänder sprach, dass Allilujewa später am Abend versucht habe, ihren Mann |43|zu erreichen, und von einem einfältigen Wachmann erfahren habe, dass Stalin sich mit einer Frau in einer Datscha in der Nähe aufhalte. Najda soll Stalin einen letzten, leider nicht erhaltenen Brief geschrieben haben, in dem sie ihn persönlich und politisch aufs Schärfste verurteilte. Sie schoss sich ins Herz.

Auf dem Totenschein, den gefügige Ärzte unterschrieben, war als Todesursache Appendizitis eingetragen. Selbstmord war tabu. Das sowjetische Ritual verlangte kollektive Trauerbekundungen von den unterschiedlichsten Berufsgruppen. In einem gemeinsam verfassten Brief an die Zeitschrift Literaturnaja Gaseta schrieb eine Gruppe von Schriftstellern, dass Allilujewa „all ihre Kraft der Befreiung von Millionen unterdrückter Menschen“ gewidmet habe, „der Sache, die Sie selbst anführen und der wir unser eigenes Leben opfern würden, um die unbeugsame Lebendigkeit dieser Sache zu bekräftigen“. 33 Autoren hatten unterschrieben, unter anderem Pilnjak, Schkloswski und Iwanow, doch Pasternaks Unterschrift fehlte. Stattdessen hatte er es irgendwie geschafft, einen eigenen Text beizufügen. „Ich teile die Gefühle meiner Genossen“, schrieb er. „Am Abend zuvor dachte ich zum ersten Mal tief und intensiv als Künstler über Stalin nach. Am Morgen las ich die Nachricht. Ich war erschüttert, als wäre ich tatsächlich da gewesen, an seiner Seite, und hätte alles gesehen.“

Stalins Reaktion auf diese bizarre Mitteilung und ihren Anflug von Hellsichtigkeit ist nicht überliefert. Er war zutiefst bewegt, weinte offen und „sagte, er wolle auch nicht mehr leben“. Möglicherweise erschien ihm Pasternaks Text zwischen all den sterilen oder vor Imponiergehabe strotzenden Äußerungen wie die Erklärung eines Jurodiwy oder „heiligen Narren“ – eines Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten und der Gabe der Prophetie. In der russischsprachigen New Yorker Zeitschrift Novij Zhurnal schrieb der in die USA emigrierte Wissenschaftler Michail Korjakow: „Ab diesem Moment, dem 17. November 1932, scheint Pasternak mir, ohne sich darüber in Klaren zu sein, Zugang zu Stalins Privatleben erlangt zu haben und Teil seiner Innenwelt geworden zu sein.“ Wenn der Diktator als Reaktion auf diesen Text eine schützende Hand über den Dichter hielt, obwohl andere umgebracht wurden, konnte Pasternak das nicht ahnen. Auch er kannte die kalte Furcht, die Stalin auslöste.

|44|Eines Abends im April 1934 begegnete Pasternak zufällig Ossip Mandelstam auf dem Twerskoi-Boulevard. Der leidenschaftliche, eigensinnige Mandelstam war ein brillanter Gesprächspartner, den Pasternak als ebenbürtig anerkannte, auch er ein Meister seiner Kunst. Doch Mandelstam war auch ein pessimistischer und unvorsichtiger Regimekritiker. Weil „die Wände Ohren haben“, rezitierte er mitten auf der Straße ein neues Stalin-Gedicht:

Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr,

Wir reden, dass uns auf zehn Schritt keiner hört,

Doch wo wir noch Sprechen vernehmen, –

Betrifft’s den Gebirgler im Kreml.

Seine Finger sind dick und, wie Würmer, so fett,

Und Zentnergewichte wiegt’s Wort, das er fällt,

Sein Schnauzbart lacht Fühler von Schaben,

Der Stiefelschaft glänzt so erhaben.

Schmalnackige Führerbrut geht bei ihm um,

Mit dienstbaren Halbmenschen spielt er herum,

Die pfeifen, miaun oder jammern.

Er allein schlägt den Takt mit dem Hammer.

Befehle zertrampeln mit Hufeisenschlag:

In den Leib, in die Stirn, in die Augen, – ins Grab.

Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten –

Und breit schwillt die Brust des Osseten.

(Übersetzung: Kurt Lhotzky)

In der Version, die die Aufmerksamkeit der Geheimpolizei auf sich zog, wurde Stalin darüber hinaus als „Mörder und Bauernschlächter“ bezeichnet.

„Ich habe das nicht gehört, und Sie haben nichts rezitiert“, sagte Pasternak. „Sie wissen, es gehen jetzt seltsame, schreckliche Dinge vor, Menschen verschwinden“. Er bezeichnete das Gedicht als selbstmörderischen |45|Akt und beschwor Mandelstam, es vor niemand anderem aufzusagen. Mandelstam hörte nicht auf ihn, und natürlich wurde er verraten. Am frühen Morgen des 17. Mai stand die Geheimpolizei vor seiner Wohnung. Die Dichterin Anna Achmatowa war am Vorabend gekommen und wohnte bei den Mandelstams. Als die Durchsuchung begann, saßen die drei in stummer Angst beisammen. Es war so still, dass sie einen Nachbarn Ukulele spielen hörten. Auf der Suche nach einer Kopie des Gedichts schnitten die Geheimpolizisten Buchrücken auf, doch sie fanden nichts. Mandelstam hatte es nicht aufgeschrieben. Es war schon hell, als der Dichter in die Lubjanka gebracht wurde, das große Gebäude in der Moskauer Innenstadt, das das Gefängnis und die Vereinigte Staatliche politische Verwaltung (OGPU), die Vorläuferin des KGB, beherbergte. Sein Vernehmer konfrontierte ihn mit einer Kopie des Gedichts, die der Informant aus dem Gedächtnis niedergeschrieben haben musste. Mandelstam dachte, er wäre verloren.

Pasternak setzte sich bei Nikolai Bucharin für ihn ein, der kurz zuvor zum Chefredakteur der Tageszeitung Istwestija ernannt worden war – einer der altgedienten Bolschewiken aus der revolutionären Führungsriege von 1917, den Lenin als „Liebling der Partei“ bezeichnet hatte. Bucharin kannte und bewunderte die künstlerische Elite des Landes, auch wenn sie sich dem herrschenden Dogma nicht beugte, und war laut seinem Biografen ein „beharrlicher Gegner kultureller Reglementierung“. „Wir tischen eine erstaunlich monotone ideologische Kost auf“, klagte er. Als Chefredakteur der Istwestija hatte er den Inhalt des Blatts mit neuen Sujets und Schriftstellern aufgelockert. Pasternak hatte gerade einige Übersetzungen von Gedichten der georgischen Dichter Paolo Jaschwili und Tizian Tabidse beigesteuert.

Bucharin war nicht da, als Pasternak ihn besuchen wollte, und der Dichter hinterließ ihm eine Nachricht mit der Bitte, in Sachen Mandelstam zu intervenieren. Einer Mitteilung an Stalin fügte Bucharin im Juni 1934 folgendes Postskriptum an: „Pasternak ist völlig fassungslos wegen Mandelstams Verhaftung.“

Die inständigen Bitten halfen, und Mandelstam, der des Terrorismus angeklagt werden und in einem Zwangsarbeitslager am Weißmeer-Ostsee-Kanal hätte landen können, wo er mit hoher Wahrscheinlichkeit |46|gestorben wäre, durfte das relativ milde Vergehen, „konterrevolutionäre Werke verfasst und verbreitet“ zu haben, eingestehen. Stalin erteilte dazu einen eiskalten, entscheidenden Befehl, der nach unten weitergereicht wurde: „Isolieren, aber erhalten.“ Am 26. Mai wurde Mandelstam für drei Jahre in die im nordöstlichen Ural gelegene Stadt Tscherdyn verbannt. Er wurde praktisch sofort abtransportiert, und seine Frau begleitete ihn.

In Tscherdyn stürzte Mandelstam sich im zweiten Stock des Krankenhauses aus dem Fenster. Glücklicherweise landete er in einem Erdhaufen, in dem ein Blumenbeet angelegt werden sollte, und renkte sich nur die Schulter aus. Seine Frau schickte eine Flut von Telegrammen nach Moskau, um unmissverständlich klarzumachen, dass er in eine größere Stadt verlegt werden musste, wo er psychiatrisch betreut werden konnte. Die OGPU war bereit zuzuhören; Stalin hatte ja angeordnet, ihn zu „erhalten“. Außerdem sollte bald der erste sowjetische Schriftstellerkongress in Moskau stattfinden, und die Führung wollte nicht, dass er vom Tod eines berühmten Schriftstellers überschattet wurde.

1934 war das Gebäude in der Wolkhonka-Straße der kommunalen Wohnraumbewirtschaftung unterstellt worden. Die Familien hatten nun jeweils einen Schlafraum und mussten sich Bad und Küche teilen. Das Telefon stand im Flur. Ein Anruf von Stalin war durchaus bemerkenswert, um nicht zu sagen, äußerst ungewöhnlich, doch Pasternak hub – wie immer bei Telefonaten – zunächst zu einer seiner üblichen Beschwerden über den allgegenwärtigen Kinderlärm an.

Stalin sprach Pasternak mit dem vertraulichen „Du“ an und sagte ihm, dass Mandelstams Fall überprüft worden sei und „alles gut“ werde. Er fragte Pasternak, warum er nicht den Schriftstellerverband gebeten habe, sich für Mandelstam zu verwenden.

„Wenn ich ein Dichter wäre und meinen Dichterfreund ein solches Unglück träfe, so würde ich alles tun, um ihm zu helfen“, sagte Stalin.

Pasternak erwiderte, dass der Schriftstellerverband schon seit 1927 nicht mehr versucht habe, verhafteten Mitgliedern zu helfen, „und wenn ich mich eingesetzt hätte, so hätten Sie wahrscheinlich nichts davon erfahren.“

|47|„Aber schließlich ist er dein Freund“, sagte Stalin.

Pasternak faselte etwas über die Art seiner Beziehung zu Mandelstam und dass Dichter, wie Frauen, immer eifersüchtig aufeinander seien.

Stalin unterbrach ihn: „Aber er ist doch ein Genie, nicht wahr, ein Genie?“

„Darum geht es nicht“, sagte Pasternak.

„Worum dann?“

Pasternak spürte, dass Stalin eigentlich herausfinden wollte, ob er von Mandelstams Gedicht wusste. „Warum sprechen Sie die ganze Zeit über Mandelstam?“, fragte Pasternak. „Schon lange möchte ich Sie gerne treffen, um eine ernsthafte Diskussion mit Ihnen zu führen.“

„Worüber?“

„Über das Leben und den Tod.“

Stalin hängte ein.

Pasternak versuchte, ihn zurückzurufen, doch Stalins Sekretär erklärte ihm, sein Chef sei beschäftigt. (Vielleicht war er das – aber es könnte genauso gut sein, dass er verärgert war.) Die OGPU erlaubte Mandelstam, in das etwa 300 Kilometer südlich der Hauptstadt gelegene Woronesch umzusiedeln, verfügte jedoch, dass er sich weder in Moskau noch in Leningrad, wie Petrograd nun hieß, noch in einer der zehn weiteren Großstädte niederlassen dürfe. Die Nachricht von Pasternaks Gespräch mit Stalin verbreitete sich in Moskau wie ein Lauffeuer, und manche dachten, Pasternak habe die Nerven verloren und seinen Kollegen nicht eifrig genug verteidigt. Doch als Ossip Mandelstam von dem Telefonat erfuhr, sagte er, er sei zufrieden mit Pasternak: „Er hatte vollkommen recht, als er sagte, daß es hier gar nicht darauf ankommt, ob ich ein Genie bin oder nicht. Warum hat Stalin solche Angst vor einem Genie? Das wächst sich bei ihm ja schon zu einem Aberglauben aus. Er glaubt, wir könnten ihn wie Zauberer verhexen.“ Pasternak bedauerte immer noch, dass Stalin ihn nicht treffen wollte.

„Wie viele andere Leute bei uns, so interessierte sich auch Pasternak schon nahezu krankhaft für den Einsiedler im Kreml“, so Nadeschda Mandelstam. „Ich glaube, für Pasternak verkörperte sein Gesprächspartner damals die Zeit, die Geschichte und die Zukunft, |48|und er wollte ein solch lebendes, atmendes Wunder nur einmal aus der Nähe bestaunen.“ Er hatte das Gefühl, „den Herrschern Russlands etwas zu sagen zu haben, etwas von enormer Bedeutung, das nur er allein sagen konnte“ – ein Gedanke, der seinem Gesprächspartner Isaiah Berlin „dunkel und zusammenhanglos“ erschien.

Der erste Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller – mit vielen Reden, Seminaren und jeder Menge Pomp – begann am 17. August 1934 und dauerte bis zum Ende des Monats. Zwei Lager standen einander gegenüber: jene, die eine strikte Kontrolle der Literatur durch die Partei befürworteten, und die Liberalen, die für eine gewisse künstlerische Autonomie eintraten. Das künstlerische Establishment der Sowjetunion debattierte fast ständig über die Form der Literatur, ihre Beziehung zum Publikum und ihre Verpflichtungen gegenüber dem Staat. Diese Dispute nahmen oft den bitteren Charakter religiöser Zerwürfnisse an – Konservative und Andersgläubige kämpften ununterbrochen um die Vorherrschaft. In einer dreistündigen Ansprache referierte Bucharin über „Dichtung, Poetik und die Aufgaben des dichterischen Schaffens in der UdSSR“. Pasternak gehörte zu jenen, die er lobend hervorhob. Pasternak sei „ein Dichter, der sich besonders weit vom Tagesgeschehen im allgemeinen Sinn entfernt hat … vom Lärm der Schlachten, von der Leidenschaft des Kampfes“. Doch habe er nicht nur „eine ganze Kette lyrischer Perlen auf dem Faden seines Werkes aufgereiht“, sondern auch „eine Reihe revolutionärer Arbeiten von tiefer Aufrichtigkeit“ geschaffen. Für die Verfechter einer populistischen, engagierten Dichtung war das Häresie. Alexei Surkow, Dichter, Liedtexter und angehender Funktionär, der Pasternak beneidete und allmählich zu hassen lernte, hielt dagegen, dass dessen Kunst sich nicht als Vorbild für aufstrebende sowjetische Dichter eigne:

„Das riesige Talent B. L. Pasternaks wird sich erst dann gänzlich entfalten, wenn er sich mit dem gigantischen, bedeutenden und strahlenden Gegenstand, den die Revolution [darbietet], vollständig verbunden hat, und er wird nur ein großer Dichter werden, wenn er die Revolution organisch in sich aufgenommen hat“.

Schließlich erklärte Stalin im Dezember 1935, dass Wladimir Majakowski, der 1930 Hand an sich gelegt hatte, „der beste und talentierteste Dichter unserer Epoche ist und bleibt“. Diese Äußerung |49|veranlasste Pasternak, ein Dankesschreiben an Stalin zu verfassen: „Ihre Zeilen über ihn hatten eine rettende Wirkung auf mich. In letzter Zeit haben [die Leute] unter dem Einfluss des Westens [meine Bedeutung] schrecklich überhöht und übertrieben dargestellt (das hat mich sogar krank gemacht): Sie haben angefangen, in mir einen bedeutenden Künstler zu vermuten. Nun, da Sie Majakowski an die erste Stelle gerückt haben, ist dieser Verdacht von mir genommen, und ich kann leichten Herzens leben und arbeiten wie vorher, in bescheidener Stille, mit den Überraschungen und Geheimnissen, ohne die ich das Leben nicht lieben würde.

Im Namen dieser Unergründlichkeit, in inniger Liebe, Ihr ergebener B. Pasternak.“

Der Führer kritzelte „Mein Archiv. I Stalin“ auf den Brief.

Wie schrieb noch der Literaturwissenschaftler Grigori Winokur, der Pasternak kannte: „Ich bin nie ganz sicher, wo Bescheidenheit endet und absolutes Selbstwertgefühl beginnt.“

Pasternak publizierte in der Neujahrsausgabe 1936 der Istwestija zwei Gedichte, die Stalin als „Genie der Tat“ rühmten, und brachte einen vagen Wunsch nach „gegenseitiger Wahrnehmung“ zum Ausdruck. Später charakterisierte er diese schmeichlerischen Zeilen als „ehrliche[n] Versuch – einer der intensivsten überhaupt – und der letzte in dieser Periode, die Gedanken der Epoche zu denken und im Einklang mit ihr zu leben.“

1936 zettele Stalin eine Reihe von Schauprozessen an, maykabre Theaterstücke, in deren Verlauf in den folgenden zwei Jahren die alte Revolutionsgarde niedergemetzelt wurde – unter ihnen Kamenew, Sinowjew, Rykow und, 1938, Bucharin. „Koba, warum ist es für dich erforderlich, dass ich sterbe?“, fragte Bucharin Stalin in einer letzten Nachricht. Am 15. März 1938 wurde er in einem Gefängnis in Orjol erschossen. In den Reihen der Partei, des Militärs, der Verwaltung und der Intelligenzija folgte landesweit eine Verhaftungs- und Hinrichtungswelle auf die andere. Fast eine Viertelmillion Menschen wurde getötet, weil sie nationalen Minderheiten angehörten, die eine Bedrohung der Staatssicherheit darzustellen schienen. Das Land befand sich in der Gewalt eines geistesgestörten, mitleidlosen Schlächters. Mit jeder Folterung stieg die |50|Zahl der Staatsfeinde exponentiell. Laut dem Historiker Robert Conquest, der sich mit dem Großen Terror befasst hat, unterzeichnete Stalin 1937 und 1938 persönlich Hinrichtungslisten, die insgesamt 40.000 Namen enthielten. Am 12. Dezember 1937 habe Stalin die Vollstreckung von 3 167 Todesurteilen genehmigt. Dabei „kümmerte“ er sich nur um mittlere und höhere Beamte sowie Prominente. Die unteren Chargen des Systems – die regionalen Führer – ließen wie im Rausch auf eigene Faust Menschen exekutieren, um sich in Moskau einzuschmeicheln. Fieberhaftes Denunzieren wurde auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu einem integralen Bestandteil der politischen Kultur. Bürger hatten das Gefühl, andere anschwärzen zu müssen, um nicht selbst angeschwärzt zu werden.

In der Prawda vom 21. August 1936 erschien unter dem Titel „Löscht sie vom Angesicht der Erde“ ein von 16 Schriftstellern unterschriebener Brief zum ersten großen Schauprozess, in dem für 16 Angeklagten das Todesurteil gefordert wurde. Zu ihnen gehörten Grigori Sinowjew, der frühere Vorsitzende der Kommunistischen Internationalen, und Lew Kamenew, der vor Lenins Tod stellvertretender Vorsitzender des Politbüros gewesen war. Pasternak hatte sich geweigert, zu unterschreiben, doch der Schriftstellerverband fügte seinen Namen hinzu, ohne ihn zu informieren. Er erfuhr davon erst in letzter Minute und beugte sich dem Druck, seine Unterschrift stehen zu lassen. Seine Frau Sinaida unterstützte diese Entscheidung, weil sie alles andere als selbstmörderisch erachtete. Doch Pasternak schämte sich, dass er seinen Namen nicht hatte streichen lassen. Alle 16 Angeklagten wurden für schuldig befunden, an einer trotzkistischen Verschwörung zur Ermordung Stalins beteiligt gewesen zu sein, und in den Katakomben der Lubjanka erschossen. Anatoli Tarasenkow, Herausgeber der Zeitschrift Snamja, sprach Pasternak in einem Brief darauf an, auf den dieser nicht antwortete. Bei einer persönlichen Konfrontation versuchte Pasternak sich herauszureden, und ihre Freundschaft ging in die Brüche. In Zukunft, beschloss Pasternak, würde er sich nicht mehr kompromittieren lassen.

Die Angst schnürte den Menschen die Luft ab. Gewöhnliche Dinge erhielten auf einmal einen seltsamen Beigeschmack. Pasternaks Cousine Olga Freudenberg erinnerte sich, dass im Radio jeden |51|Abend über den blutigen und perfiden Gerichtsprozess berichtet wurde – und danach „wurde jedesmal eine Platte mit der Kamarinskaja oder einem Hopak aufgelegt. Das Glockenspiel des Kreml, das Mitternacht anzeigt, hat seit jener Zeit für mich einen bedrückenden Gefängnisklang“, schrieb sie in ihr Tagebuch. „Wir hatten kein Radio, doch von den Nachbarn dröhnte es herüber, hämmerte mir ins Hirn, ins Mark. Besonders unheilvoll schlug die Mitternachtsglocke nach den grauenhaften Worten: ‚Das Urteil wurde vollstreckt.‘“

Obwohl Pasternaks Unterschrift letztlich stehenblieb, hatte ihn sein Widerwille, den Brief an die Prawda zu unterzeichnen, verdächtig gemacht, und er sah sich zunehmend ideologischen Attacken vonseiten regimetreuer Literaten ausgesetzt. Der Generalsekretär des Schriftstellerverbands und eifrige Denunziant Wladimir Stawski beschuldigte ihn, in einigen seiner Gedichte über Georgien „das sowjetische Volk zu beleidigen“. Pasternak schrieb später, dass zu dieser Zeit alles in ihm zerbrach. „Die Übereinstimmung mit der Epoche verkehrte sich in ihr Gegenteil, und ich machte keinen Hehl daraus. Ich beschränkte mich aufs Übersetzen. Meine eigene Arbeit blieb liegen […].“

Mit einer Reihe von Protestbekundungen brachte Pasternak sich in große Gefahr. Als Bucharin Anfang 1937 unter Hausarrest gestellt wurde, sandte Pasternak ihm folgende Nachricht in den Kreml: „Keine Kraft wird mich von Ihrem Verrat überzeugen.“ Pasternak war sicher, dass die Nachricht auch von anderen gelesen wurde. Bucharin wiederum, ein lebender Toter, war von dieser Unterstützungsbekundung so gerührt, dass ihm die Tränen kamen, und sagte: „Das hat er gegen sich selbst geschrieben.“ In der 1937 angelegten Akte über den Dichter Benedikt Liwschitz, der kurzerhand als Volksfeind hingerichtet wurde, steht Pasternaks Name auf einer Liste von Schriftstellern, deren Verhaftung offenbar ins Auge gefasst wurde.

Im Juni 1937 wurde Pasternak gebeten, eine Petition zur Verhängung der Todesstrafe für eine Gruppe von Militärs zu unterschreiben, unter ihnen Marschall Michail Tuchatschewski. Als ein Beamter ihn in seiner Datscha in Peredelkino aufsuchte, verscheuchte er ihn schreiend: „Ich weiß nichts über sie, ich schenke ihnen nicht |52|das Leben, und ich habe nicht das Recht, es ihnen zu nehmen!“ Unter Führung des abstoßenden Stawski, der herumbrüllte und Pasternak bedrohte, übte eine Delegation des Schriftstellerverbands weiter Druck auf den Dichter aus. Die schwangere Sinaida bat ihn inständig, zu unterschreiben. „Sie warf sich mir zu Füßen, flehte mich an, sie und das Kind nicht zu vernichten“, sagte Pasternak. „Doch ich ließ nicht mit mir reden.“ Er sagte ihr, er wolle Stalin schreiben, dass er mit „tolstoi’schen Grundsätzen“ erzogen worden sei, und fügte hinzu: „Ich halte mich nicht für berechtigt, über das Leben und den Tod anderer zu Gericht zu sitzen.“ Dann sagte er, er ginge nun zu Bett, und fiel in einen seligen Schlaf: „Das passiert immer, wenn ich etwas Unwiderrufliches getan habe.“ Stawski beunruhigte sein misslungener Versuch, Pasternak gefügig zu machen, wahrscheinlich mehr, als dessen Haltung es tat. Als die Petition am nächsten Tag veröffentlicht wurde, war Pasternaks Unterschrift angefügt worden. Er war wütend, aber in Sicherheit.

Pasternak konnte sich nicht erklären, wieso er überlebte. „In diesen schrecklichen, grausamen Jahren hätte jeder verhaftet werden können“, erinnerte er sich. „Wir wurden wie ein Kartenspiel gemischt.“ Dass er lebte, schürte zugleich die Angst, dass irgendjemand glauben könnte, er habe konspiriert, um sich selbst zu retten. „[A]nscheinend fürchtete er, dass man allein aus der Tatsache seines Überlebens den Schluss ziehen könnte, er habe die Machthaber durch irgendein verächtliches Manöver beschwichtigt und sei der Verfolgung nur entgangen, weil er seine Integrität geopfert habe. Immer wieder kam er auf diesen Punkt zu sprechen und verwahrte sich grimmig gegen die Unterstellung eines Verhaltens, dessen ihn niemand, der ihn kenne, auch nur ansatzweise für schuldig halten könne“, schrieb Isaiah Berlin. Das Töten erfolgte ohne offenkundige Logik. Ilja Ehrenburg fragte: „Warum zum Beispiel verschonte Stalin Pasternak, der seinen eigenen unabhängigen Weg beschritt, vernichtete aber [den Journalisten Michail] Koltsow, der ehrenhaft jede ihm anvertraute Aufgabe ausführte?“

Um Pasternak herum verschwanden Menschen, über deren Schicksale man spekulierte, ohne Genaues zu wissen – Pilnjak, Babel und der Georgier Tizian Tabidse, mit dem Pasternak befreundet war und dessen Gedichte er übersetzt hatte. Paolo Jaschwili, ein |53|weiterer Freund, erschoss sich bei einem Treffen des georgischen Schriftstellerverbandes selbst, ehe die Inquisitoren ihn umzingelten.

Das einzige Glück war die Geburt von Pasternaks Sohn Leonid, die im Moskauer Abendblatt Wetschernjaja Moskwa gemeldet wurde: „Das erste Baby, das im Jahr 1938 geboren wurde, ist der Sohn von Frau S. N. Pasternak. Er ist um 0:00 Uhr des 1. Januars zur Welt gekommen.“

Ossip Mandelstam wurde im selben Jahr verhaftet, um „in den Flammen verzehrt zu werden“, wie Pasternak es ausdrückte. Er verhungerte im Dezember 1938 in einem sibirischen Lager. „Ich bin bei sehr schlechter Gesundheit. Ich bin extrem abgemagert, sehr dünn geworden, fast nicht mehr wiederzuerkennen“, schrieb er in einem letzten Brief an seinen Bruder und bat ihn, Nahrungsmittel und Kleidung zu schicken, weil „mir schrecklich kalt ist ohne irgendwelche [warmen] Sachen“. Seine Frau erfuhr 1939 von seinem Tod, als eine für ihn bestimmte Postanweisung mit dem Vermerk „Empfänger verstorben“ zurückkam.

„Der einzige Mensch, der mich besucht hatte, war Pasternak. Als er von O. M.s Tod gehört hatte, war er zu mir gekommen“, schrieb Nadeschda Mandelstam später. „Niemand außer ihm hatte das gewagt.“

Die Affäre Schiwago

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