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|7|Prolog
Оглавление„Das ist Doktor Schiwago. Möge der Text um die Welt gehen.“
Am 20. Mai 1956 bestiegen zwei Männer in der Kiewskaja die Moskauer Metro Richtung Peredelkino, eines 30 Minuten südwestlich von Moskau gelegenen Dorfes. Es war ein sonniger Sonntagmorgen. Der Frühling hatte den letzten Schnee erst einen Monat zuvor vertrieben, und die Luft war von süßem Fliederduft erfüllt. Wladlen Wladimirski, der etwas größere der beiden Männer, hatte hellblondes Haar und trug, wie die meisten sowjetischen Funktionäre, eine Reiterhose und einen Zweireiher. Sein schlanker Begleiter war offensichtlich ein Ausländer – Russen bezeichneten ihn wegen seiner westlichen Kleidung scherzhaft als stiljaga oder „Stilexperten“. Auch ließ Sergio D’Angelo sich leicht ein Lächeln entlocken – keine Selbstverständlichkeit in einem Land, dem die Vorsicht in Fleisch und Blut übergegangen war. Der Italiener war in Peredelkino, um einen Dichter zu bezirzen.
Einen Monat zuvor hatte D’Angelo, ein italienischer Kommunist, der bei Radio Moskau arbeitete, eine kurze Pressemeldung gelesen, in der angekündigt wurde, dass die Publikation des ersten Romans des russischen Dichters Boris Pasternak direkt bevorstehe. Die beiden Sätze, aus denen die Meldung bestand, ließen nicht darauf schließen, dass es sich bei Pasternaks Buch um ein weiteres russisches Epos handeln könnte. Der Roman hieß Doktor Schiwago.
Vor seiner Abreise aus Italien hatte D’Angelo sich bereiterklärt, für einen jungen Mailänder Verlag, den der Parteifreund Giangiacomo Feltrinelli gegründet hatte, nach neuer sowjetische Literatur Ausschau zu halten. Mit dem Erwerb der Rechte an dem Erstlingsroman |8|eines der populärsten russischen Dichter konnte D’Angelo womöglich für sich selbst und den neuen Verlag einen fulminanten Coup landen. Ende April schrieb er an einen Mailänder Lektor und bat, ohne eine Antwort abzuwarten, Wladimirski, einen Kollegen bei Radio Moskau, ein Treffen mit Pasternak zu vereinbaren.
Peredelkino war eine auf dem früheren Anwesen eines russischen Adligen errichtete Schriftstellerkolonie. Zwischen Sibirischen Zirbelkiefern, Linden, Zedern und Lärchen wurden 1934 die ersten Häuser erbaut, die den prominentesten Autoren der Sowjetunion eine Zuflucht boten, wenn sie ihren Stadtwohnungen entfliehen wollten. Auf rund 100 Hektar großen Grundstücken errichtete man etwa 50 Landhäuser oder Datschen. Schriftsteller lebten Seite an Seite mit Bauern, die in Holzhütten wohnten – die Frauen trugen Kopftücher, und die Männer fuhren auf Pferdeschlitten.
Einige der größten Vertreter der sowjetischen Literatur residierten in Peredelkino – die Romanciers Konstantin Fedin und Wsewolod Iwanow waren direkte Nachbarn Pasternaks. Kornei Tschukowski, der beliebteste Kinderbuchautor der Sowjetunion, und der Literaturkritiker Wiktor Schklowski wohnten nur ein paar Straßen weiter. Das idyllisch wirkende Dorf wurde jedoch von seinen Toten verfolgt – denjenigen, die während der Großen Säuberung Ende der 1930er-Jahre hingerichtet worden waren. Die Schriftsteller Isaak Babel und Boris Pilnjak waren beide in ihren Datschen in Peredelkino verhaftet worden. Ihre Häuser wurden anderen Schriftstellern zugeteilt.
Im Dorf ging die Kunde, dass der „Führer“ Josef Stalin Maxim Gorki, den „Vater“ der sowjetischen Literatur und Mitbegründer des sozialistischen Realismus in der Literatur, gefragt habe, wie seine Kollegen im Westen lebten. Als Gorki antwortete, sie lebten in Villen, ließ Stalin Peredelkino errichten. Ob diese Geschichte erfunden war oder nicht – Schriftsteller waren eine privilegierte Kaste. Sie waren in dem fast 4000 Mitglieder starken Allunionsschriftstellerverband organisiert und genossen Vorteile, von denen gewöhnliche Sowjetbürger, die oft sehr beengt lebten und für Alltagsgüter lange Schlange stehen mussten, nur träumen konnten. „Schriftsteller in einem Kokon aus Komfort zu fangen, sie mit einem Netz von Spionen zu umgeben“ – so beschrieb Tschukowski das System.
|9|Romane, Theaterstücke und Gedichte waren entscheidende Instrumente der Massenpropaganda, die dazu beitragen sollten, den Massen den Sozialismus nahezubringen. Stalin erwartete von „seinen“ Autoren die fiktionale oder poetische Feier des kommunistischen Staats mit Geschichten, in denen Muskelkraft den Fortschritt in die Fabriken und auf die Felder trug. 1932 brachte Stalin bei einem Schriftstellertreffen bei Gorki zu Hause einen Toast auf die neue Literatur aus: „Die Produktion von Seelen ist wichtiger als die Produktion von Panzern … Hier sagte jemand ganz richtig, dass ein Schriftsteller nicht still sitzen darf, dass ein Schriftsteller das Leben eines Landes kennen muss. Und das stimmt. Der Mensch wird durch das Leben selbst erneuert. Doch auch Sie werden dabei helfen, seine Seele zu erneuern. Ich erhebe mein Glas auf Sie, Schriftsteller, auf die Ingenieure der menschlichen Seele.“
Nachdem sie den Bahnhof verlassen hatten, passierten D’Angelo und Wladimirski die ummauerte Sommerresidenz des Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche. Sie überquerten einen Bach in der Nähe eines Friedhofs, folgten etwas matschigen Straßen und bogen dann in die Uliza Pawlenko ein, die schmale Gasse am Rande des Dorfes, in der Pasternak wohnte. D’Angelo wusste nicht, was ihn erwarten würde. Aus seinen Recherchen war ihm bekannt, dass Pasternak als hochbegabter Dichter galt und von westlichen Wissenschaftlern als heller Stern am dunklen Firmament der sowjetischen Literatur gepriesen wurde. Doch D’Angelo hatte niemals etwas von Pasternak gelesen. Das sowjetische Establishment zweifelte an seiner politischen Einstellung, was seine Wertschätzung als literarisches Talent schmälerte, und seine Werke wurden lange nicht in seiner Muttersprache publiziert. Er verdiente seinen Lebensunterhalt als Übersetzer fremdsprachiger Literatur und machte sich mit der Übertragung von Shakespeares Dramen und Goethes Faust ins Russische einen Namen.
Die zwischen Tannen und Birken auftauchende Datscha Pasternaks war ein schokoladenbraunes, zweistöckiges Gebäude mit Erkerfenstern und einer Veranda. Manche Besucher erinnerte sie an ein amerikanisches Holzrahmenhaus. Als D’Angelo das hölzerne Tor erreichte, arbeitete der 66-jährige Schriftsteller gerade in seinem |10|Vorgarten, wo die Familie zwischen Obstbäumen, Büschen und Blumen ein Gemüsebeet angelegt hatte. Er trug Gummistiefel, eine einfache Hose und eine schlichte Jacke. Pasternak war ein körperlich beeindruckender, bemerkenswert jugendlich wirkender Mann, dessen langes Gesicht mit vollen, sinnlichen Lippen und lebhaften kastanienbraunen Augen wie aus Stein gemeißelt schien. Die Dichterin Marina Zwetajewa schrieb, er sähe aus wie ein Araber und sein Pferd. Olga Carlisle, die ihn in Peredelkino besuchte, stellte fest, dass ihm die Wirkung „seines außergewöhnlichen Gesichts“ manchmal bewusst wurde. Dann schien er „einen Moment lang innezuhalten, kniff seine schräg stehenden braunen Augen zusammen, drehte den Kopf weg und erinnerte entfernt an ein scheuendes Pferd“.
Pasternak begrüßte seine Besucher mit festem Händedruck. Sein Lächeln war überschwänglich, fast kindlich. Er genoss die Gesellschaft von Ausländern – in der Sowjetunion, die sich erst nach Stalins Tod 1953 wieder zu öffnen begann, zu dieser Zeit noch immer ein außergewöhnliches Vergnügen. Isaiah Berlin, der in Oxford lehrte und Pasternak ebenfalls im Sommer 1956 in Peredelkino besuchte, verglich eines seiner Gespräche im Kreise sowjetischer Schriftsteller mit einer Unterhaltung mit Schiffbrüchigen: „Es war, als spräche ich zu den Opfern einer Schiffskatastrophe, die, abgeschnitten von der Zivilisation, seit Jahrzehnten auf einer einsamen Insel lebten – alles war für sie neu, aufregend und faszinierend.“
Die drei Männer saßen im Garten auf zwei rechtwinklig zueinander aufgestellten Holzbänken, und Pasternak ergötzte sich an Sergios Nachnamen, den er mit seiner leisen, monotonen Stimme mit leicht nasalem Timbre in die Länge zog. Welchen Ursprungs der Name denn sei, fragte er. Byzantinisch, sagte D’Angelo, aber sehr verbreitet in Italien. Der Dichter plauderte ausführlich über seine eigene Italienreise im Sommer 1912, als er, gerade 22 Jahre alt, Philosophie an der Universität Marburg studiert hatte. In einem Vierte-Klasse-Abteil war er mit dem Zug nach Venedig und Florenz gefahren, doch für einen Rom-Besuch hatte das Geld nicht mehr gereicht. In einer autobiografischen Skizze hatte er einprägsam über Italien geschrieben, unter anderem über Mailand, wo er direkt nach der Ankunft einen halben Tag verschlafen hatte. Er erinnerte sich, auf |11|den Dom zugegangen zu sein und ihn im Näherkommen aus verschiedenen Blickwinkeln gesehen zu haben. „Wie ein schmelzender Gletscher wuchs er wieder und wieder in der tiefblauen Senkrechte der Augusthitze empor und schien die zahllosen Mailänder Cafés mit Eis und Wasser zu versorgen. Als ich schließlich auf einer schmalen Plattform zu seinen Füßen zu stehen kam und den Hals reckte, senkte er sich mit dem ganzen chorischen Raunen seiner Säulen und Türmchen in mich hinein, wie ein Schneeball in die Segmente eines Regenrohrs hinabgleitet.“
Vierundvierzig Jahre später war Pasternak wieder nach Mailand unterwegs. Durch die mit Glas überwölbte Galleria Vittorio Emanuele II und an der Scala vorbei gelangte man, unweit des Doms, in die Via Adegari. Das Haus Nummer 6 beherbergte den Verlag Feltrinellis – jenes Mannes, der der Sowjetunion die Stirn bieten und Doktor Schiwago als Erster publizieren sollte.
Unterhaltungen mit Pasternak endeten leicht in Selbstgesprächen. Wenn er einmal Feuer gefangen hatte, monologisierte der Dichter auf scheinbar chaotische Weise begeistert vor sich hin. Manchmal sei es kaum möglich gewesen, mit seinen Gedanken Schritt zu halten, und dann wieder sei alles ganz klar gewesen, schrieb Isaiah Berlin. „Er sprach in herrlichen, bedächtigen langen Sätzen, die gelegentlich von einem wahren Wortschwall unterbrochen wurden.“ D’Angelo war gefesselt und glücklich, zu Pasternaks Publikum gehören zu dürfen, während dieser sich für seine Tirade entschuldigte und seinen Besucher fragte, was ihn zu ihm führe.
D’Angelo erklärte, dass die Italienische Kommunistische Partei, die ihre führenden Aktivisten ermunterte, das Leben in der Sowjetunion kennenzulernen, seine Versetzung nach Moskau mitfinanziert habe. Er arbeitete als Sendeleiter und Reporter für Radio Moskau, den staatlichen Auslandssender der Sowjetunion, der in zwei Gebäuden hinter dem Puschkin-Platz in der Innenstadt residierte. Vorher hatte er die Libreria Rinascita, die Buchhandlung der Italienischen Kommunistischen Partei, in Rom geleitet. D’Angelo entstammte einer Familie von Antifaschisten und war der Partei 1944 beigetreten, doch manche seiner italienischen Genossen hielten ihn für ein bisschen zu büchernärrisch und meinten, ihm fehle der |12|nötige Biss. Ein Moskauaufenthalt, so hofften sie, würde seine schwelende Begeisterung zu einem Feuer entfachen. Die Parteiführung verschaffte ihm eine Stelle und schickte ihn für zwei Jahre in die sowjetische Hauptstadt. Er war seit März in der Sowjetunion.
D’Angelo, der gut Russisch sprach und Wladimirski nur gelegentlich nach einem Wort fragen musste, erzählte Pasternak, dass er nebenbei als Teilzeitliteraturagent für den Verleger Feltrinelli arbeite. Feltrinellei, so D’Angelo, sei nicht nur ein engagiertes Parteimitglied, sondern auch ein sehr reicher Mann, ein junger Multimillionär, der einer italienischen Unternehmerdynastie entstamme und während des Krieges radikalisiert worden sei. Vor Kurzem habe er ein Verlagshaus gegründet und interessiere sich vor allem für zeitgenössische Literatur aus der Sowjetunion. Neulich erst habe er von Doktor Schiwago gehört – ein ideales Buch für den neuen Verlag.
Pasternak unterbrach den Sermon des Italieners mit einer Handbewegung. „In der UdSSR“, sagte er, „wird der Roman nicht erscheinen. Er geht nicht mit den offiziellen Kulturrichtlinien konform.“
D’Angelo wandte ein, dass die Publikation des Buches schon angekündigt sei und sich die Lage in der Sowjetunion seit Stalins Tod deutlich entspannt habe – eine Entwicklung, die ihre Bezeichnung „Tauwetter“ dem Titel eines Romans von Ilja Ehrenburg verdankte. Der literarische Horizont schien sich zu erweitern, als die alten Dogmen infrage gestellt wurden. Es wurde wieder Prosa publiziert, die das System verhalten kritisierte, über die jüngste Vergangenheit der Sowjetunion reflektierte und komplexe, brüchige Charaktere enthielt.
Der Italiener sagte, er habe einen Vorschlag. Pasternak solle ihm eine Kopie von Doktor Schiwago geben, sodass Feltrinelli den Text übersetzen lassen könne. Natürlich würde er das Buch in Italien erst dann publizieren, wenn es in der Sowjetunion erschienen sei. Pasternak könne Feltrinelli vertrauen, denn dieser sei Mitglied der kommunistischen Partei. Für den eifrigen D’Angelo, der sehr darauf erpicht war, das Manuskript sicherzustellen und das Gehalt, das er von Feltrinelli bezog, zu rechtfertigen, klang das alles vernünftig.
D’Angelo konnte sich nicht vorstellen, welches Risiko Pasternak einging, wenn er sein Manuskript in fremde Hände gab. Pasternak war allzu bewusst, dass die ungenehmigte Publikation eines in der |13|Sowjetunion noch nicht erschienen Werks im Westen ihm den Vorwurf der Illoyalität einbringen und ihn und seine Familie in Gefahr bringen konnte. Im Dezember 1948 beschwor er seine in England lebenden Schwestern in einem Brief, die ersten Kapitel, die er ihnen geschickt hatte, auf keinen Fall drucken zu lassen: „[M]it seiner Veröffentlichung im Ausland würden mir die schlimmsten, ich sage nicht: Tödliche Folgen drohen“.
Pilnjak, ehemals Pasternaks direkter Nachbar in Peredelkino (das Seitentor zwischen ihren Gärten war nie geschlossen), wurde im April 1938 mit einem Schuss in den Hinterkopf exekutiert. Er stand dem sowjetischen Projekt skeptisch gegenüber, behandelte in seinen Romanen Themen wie Inzest und geißelte Stalins und Gorkis Anweisungen zum Verfassen von Literatur als Kastration der Kunst. Möglicherweise war Pilnjaks Schicksal schon 1929 besiegelt, als er zu Unrecht beschuldigt wurde, mittels antisowjetischer Elemente die Publikation seiner Erzählung Mahagoni im Ausland eingefädelt zu haben. Die Handlung ist in einer postrevolutionären Provinzstadt angesiedelt, und es gibt einen Sympathieträger, der Leo Trotzki unterstützt – Stalins erbitterten Rivalen. Pilnjak wurde von der Presse öffentlich in den Dreck gezogen. „Für mich ist ein vollendetes literarisches Werk wie eine Waffe“, schrieb der unverfrorene, militante bolschewistische Dichter Wladimir Majakowski in einer Besprechung, in der er, ohne dass ihm die Schamesröte ins Gesicht gestiegen wäre, zugab, dass er Mahagoni gar nicht gelesen hatte. „Selbst wenn diese Waffe über den Klassenkampf erhaben wäre – was gar nicht möglich ist (obwohl Pilnjak es vielleicht denkt) –, verstärkt sie das Arsenal unserer Feinde, wenn sie der Weißen Presse übergeben wird. In dieser Zeit, in der Gewitterwolken den Himmel verdüstern, ist das dasselbe wie Verrat an der Front.“
Pilnjak versuchte, sich mit katzbuckelnden Sentenzen über Stalins Größe wieder lieb Kind bei der Partei zu machen, doch er konnte sich nicht retten. Sein illoyales Verhalten wurde aktenkundig. Als der Große Terror seinen Höhepunkt erreichte, lebte Pilnjak in stetiger Furcht vor sofortiger Verhaftung. Das Land befand sich im Würgegriff einer verrückten, mörderischen Säuberungsaktion, der einfache Parteimitglieder, Beamte, Angehörige des Militärs wie der Intelligenzija und ganze ethnische Gruppen zum Opfer fielen. |14|Zwischen 1936 und 1939 wurden Hunderttausende ermordet oder starben in Haft. Unter den Opfern waren Hunderte von Schriftstellern. Pasternak erinnerte sich, dass Pilnjak ständig aus dem Fenster schaute. Traf er auf der Straße Bekannte, wunderten diese sich, dass er noch nicht verhaftet worden war. „Bist du das wirklich?“, fragten sie. Am 28. Oktober 1938 kam die Geheimpolizei. Pasternak war mit seiner Frau zu Besuch im Nachbarhaus; Pilnjaks dreijähriger Sohn, der ebenfalls Boris hieß, hatte Geburtstag. An diesem Abend hielt ein Auto vor der Datscha, und ein paar uniformierte Männer stiegen aus. Es ging sehr höflich zu. Pilnjak werde in dringenden Angelegenheiten gebraucht, sagte ein Beamter.
Man beschuldigte ihn, einer „antisowjetischen, trotzkistischen, subversiven und terroristischen Organisation“ anzugehören, die die Ermordung Stalins plane, und für Japan als Spion tätig zu sein. 1927 war er nach Japan und China gereist und hatte seine Eindrücke in seinem Tagebuch festgehalten. Auch hatte er 1931 – mit Stalins Genehmigung – sechs Monate in den Vereinigten Staaten verbracht, war in einem Ford kreuz und quer durchs Land gefahren und hatte in Hollywood für kurze Zeit als Drehbuchautor für MGM gearbeitet. In seinem Reiseroman Okay warf er einen sehr kritischen Blick auf die amerikanische Lebensweise.
Pilnjak gab alles zu, bat das Militärgericht in einem Schlusswort aber um „Papier“, auf das er „etwas schreiben“ könne, „was dem sowjetischen Volk von Nutzen“ sei. Am 20. April 1938 wurde er nach einer 15-minütigen Verhandlung, die von 5.45 Uhr bis 6.00 Uhr dauerte, schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Die Strafe sollte am nächsten Tag durch den „Leiter der 12. Abteilung der ersten Spezialeinheit“, wie es in makabrem Bürokratenrussisch hieß, vollstreckt werden. Pilnjaks Frau verbrachte 19 Jahre im Gulag; ihr Sohn wuchs bei der Großmutter in der Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik auf. Sämtliche Werke Pilnjaks wurden aus Bibliotheken und Buchläden verbannt und vernichtet. 1938–1939 wurden laut einem Bericht der staatlichen Zensurbehörde 24 138 799 Exemplare „politisch schädlicher“ Werke oder Titel, die „für den sowjetischen Leser absolut wertlos“ waren, eingestampft.
Nach der Verhaftung Pilnjaks und anderer Autoren lebten die Pasternaks wie viele Dorfbewohner in Angst. „Es war schrecklich“, |15|sagte Pasternaks Frau Sinaida, die zu dieser Zeit mit ihrem ersten Sohn schwanger war. „Jede Minute rechneten wir mit Borjas Verhaftung.“
Selbst nach Stalins Tod konnte kein sowjetischer Schriftsteller mit dem Gedanken an eine Publikation im Ausland spielen, ohne sich Pilnjaks Schicksal vor Augen zu führen. Und seit 1929 hatte niemand mehr das ungeschriebene, aber eiserne Gesetz gebrochen, dass eine ungenehmigte Buchveröffentlichung im Ausland verboten war.
Während seines Gequassels wurde D’Angelo plötzlich klar, dass Pasternak in Gedanken versunken war. Seinem Nachbarn Tschukowski kam er zuweilen wie ein „Nachtwandler“ vor – „er hört[e], ohne zu hören“, während er seinen eigenen Gedanken und Berechnungen nachhing. Pasternak war sich seiner Literatur und ihrer Genialität sehr sicher und wollte, dass sie ein möglichst großes Publikum fand. Er war davon überzeugt, dass Doktor Schiwago die Krönung seines Lebenswerks sei, ein zutiefst authentischer Ausdruck seiner Weltsicht und all den hochgelobten Gedichten, die er viele Jahrzehnte lang geschrieben hatte, überlegen. Er bezeichnete das Buch als „letzte[s] Glück“ und letzten „Wahn“.
Der autobiografisch inspirierte Roman handelt von dem Arzt und Dichter Juri Schiwago, seiner Kunst, seinen Liebesbeziehungen und Verlusten in den Jahrzehnten vor und nach der Oktoberrevolution von 1917. Nach dem Tod seiner Eltern wächst Schiwago bei einer Pflegefamilie auf, die zur bürgerlichen Moskauer Intelligenzija gehört. In diesem vornehmen und aufgeklärten Umfeld entdeckt er seine Begabung für Dichtung und Heilkunst. Nach dem Medizinstudium heiratet er Tonja, die Tochter seiner Pflegeeltern. Im Ersten Weltkrieg lernt er in einem Feldlazarett in Südrussland die Krankenschwester Lara Antipowa kennen und verliebt sich in sie.
Als Schiwago 1917 zu seiner Familie zurückkehrt, hat sich in Moskau alles verändert. In der von den Bolschewiken kontrollierten Stadt herrschen nach der Revolution chaotische Zustände, und die Bürger hungern. Die alte Welt der Kunst, der Muße und intellektuellen Kontemplation ist ausgelöscht. Schiwagos anfängliche Begeisterung für die Bolschewiken schwindet schnell. Um dem Hunger zu entfliehen, fährt er Frau und Schwiegervater in den Ural nach Warykino, wo die Familie ein Gut besitzt. In der nahe gelegenen |16|Stadt Jurjatin begegnen Schiwago und Lara sich wieder. Laras Ehemann hat sich der Roten Armee angeschlossen. Schiwago fühlt sich noch immer zu ihr hingezogen, doch wegen seiner Untreue plagen ihn Gewissensbisse.
Eines Tages wird Schiwago von bewaffneten Partisanen entführt, die ihn dazu zwingen, als Feldarzt zu arbeiten. Er wird Zeuge von Gräueltaten der Roten Armee wie der antibolschewistischen „Weißen“. Schließlich „desertiert“ er und kehrt nach Hause zurück. Seine Familie, die ihn für tot hielt, ist zwischenzeitlich geflohen. Schiwago zieht mit Lara zusammen. Als der Krieg näher rückt, sucht das Paar Zuflucht in Warykino. Einen kurzen Moment lang bleibt die Welt außen vor, und Schiwago beginnt, von einem kreativen Rausch erfasst, wieder Gedichte zu schreiben. Vor der Tür heulen die Wölfe – ein Omen drohenden Unheils. Das Ende des Krieges und die Festigung der bolschewikischen Macht besiegeln Laras und Schiwagos Schicksal: Lara bricht auf in den fernen Osten Russlands; Schiwago kehrt nach Moskau zurück und stirbt dort 1929. Er hinterlässt ein lyrisches Werk, dem das letzte Kapitel des Romans gewidmet ist – sein künstlerisches Vermächtnis, Spiegel seiner Lebensphilosophie.
Schiwago ist in gewisser Weise Pasternaks Alter Ego. Wie der Schriftsteller wurzelt die literarische Figur in einer verlorenen Vergangenheit, dem kulturellen Milieu der Moskauer Intelligenzija. In der sowjetischen Literatur war diese Welt, wenn überhaupt, mit Geringschätzung zu behandeln. Pasternak wusste, dass die sowjetische Verlagslandschaft vor dem fremdem Ton, der offenen Religiosität und Gleichgültigkeit, die Doktor Schiwago gegenüber den Erfordernissen des sozialistischen Realismus und dem obligarorischen Kotau vor der Oktoberrevolution zum Ausdruck brachte, zurückschrecken würde. Der Roman war in vielerlei Hinsicht unverhüllt ketzerisch, und manche Sätze und Gedanken waren für „gläubige“ Sowjets wie ein Schlag ins Gesicht. Eine frühe offizielle Rezension konstatierte einen „zoologischen Glaubensabfall“. Er zeige die Revolution nicht als „Kuchen mit Sahnehäubchen“, räumte Pasternak ein, kurz bevor er seinen Roman vollendete. „Jeder, der möchte, soll ihn lesen“, sagte er, „denn er wird ganz bestimmt nie gedruckt werden.“
|17|Pasternak hatte eine Veröffentlichung im Westen nicht in Betracht gezogen, doch als D’Angelo an sein Gartentor klopfte, wartete er bereits fünf Monate lang vergeblich auf eine Antwort des Staatsverlags Goslitisdat, dem er den Roman zugesandt hatte. Snamja (Die Fahne) und Nowy Mir (Neue Welt), zwei führende Zeitschriften, von denen er sich einen auszugsweisen Abdruck Doktor Schiwagos erhoffte, hatten ebenfalls nicht geantwortet. D’Angelo hatte genau den richtigen Moment erwischt; als Pasternak sein unerwartetes Angebot erhielt, hielt ihn nichts mehr zurück. In der totalitären sowjetischen Gesellschaft hatte er sich lange ungewöhnlich furchtlos gezeigt – indem er, anders als viele andere, die ihren Ruf nicht beflecken wollten, Angehörige von Gulag-Verbannten besucht und finanziell unterstützt hatte, bei den Behörden intervenierte, um für jene um Gnade zu bitten, die politischer Verbrechen angeklagt waren, und sich weigerte, Petitionen zu unterzeichnen, in denen die Hinrichtung namentlich genannter Staatsfeinde gefordert wurde. Das Herdengebaren vieler seiner Schriftstellerkollegen schreckte ihn ab. „Schreien Sie mich nicht an“, maßregelte er seine Kollegen, die ihn bei einer öffentlichen Veranstaltung in die Zange nahmen, weil er darauf bestand, dass man Schriftstellern keine Befehle erteilen dürfe. „Aber wenn Sie schon schreien müssen, dann wenigstens nicht alle gleichzeitig.“ Pasternak sah keinen Anlass, seine Kunst auf die politischen Anforderungen des Staats zuzuschneiden. Mit der Opferung seines Romans hätte er sich, wie er fand, an seinem eigenen Genie versündigt.
„Lassen wir die Frage, ob die sowjetische Ausgabe letztlich erscheinen wird oder nicht, einmal beiseite“, sagte er zu D’Angelo. „Ich bin bereit, Ihnen den Roman zu geben, wenn Feltrinelli verspricht, anderen Verlagen in bedeutenden Ländern, sagen wir innerhalb der nächsten paar Monate, eine Manuskriptkopie zuzuschicken, zuallererst Frankreich und England. Was meinen Sie? Können Sie in Mailand nachfragen?“ D’Angelo antwortete, dass dies nicht nur möglich, sondern unumgänglich sei, da Feltrinelli mit Sicherheit die Rechte an dem Buch ins Ausland verkaufen wolle.
Pasternak hielt erneut einen Moment inne, ehe er sich entschuldigte und ins Haus ging, wo er im zweiten Stock ein spartanisch eingerichtetes Arbeitszimmer hatte. Im Winter schaute man von |18|dort aus auf „eine weite weiße Fläche, die von einem kleinen Friedhof auf einem Hügel beherrscht wird, ein bisschen so wie der Hintergrund eines Chagall-Gemäldes.“ Kurze Zeit später tauchte Pasternak mit einem großen, in Zeitungspapier gewickelten Päckchen wieder auf. Das Manuskript bestand aus 433 eng mit der Maschine beschriebenen Seiten und hatte fünf Teile. Jeder dieser Teile war in weiches Papier oder Karton gebunden und wurde von einer Schnur zusammengehalten, die durch grob gestanzte Löcher in den Seiten gefädelt und dann verknotet worden war. Der erste Abschnitt war mit 1948 datiert, und der Text war übersät mit Pasternaks handschriftlichen Korrekturen.
„Das ist Doktor Schiwago“, sagte Pasternak. „Möge der Text um die Welt gehen.“
Trotz allem, was noch kommen sollte, ließ Pasternak nie von diesem Wunsch ab.
D’Angelo erkärte, dass er das Manuskript Feltrinelli schon in wenigen Tagen geben könne, denn er plane eine Reise in den Westen. Es war kurz vor Mittag, und die Männer unterhielten sich noch ein Weilchen.
Als sie am Gartentor standen – D’Angelo mit dem Roman unter dem Arm – und einander auf Wiedersehen sagten, lag ein seltsamer Ausdruck auf Pasternaks Gesicht – bitter, ironisch. Er sagte zu dem Italiener: „Hiermit sind Sie zu meiner Hinrichtung eingeladen.“
Die Publikation von Doktor Schiwago im Jahr 1957 im Westen und die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Boris Pasternak im Jahr darauf lösten einen der größten kulturellen Gewitterstürme des Kalten Krieges aus. Aufgrund seiner anhaltenden Beliebtheit und der Verfilmung von David Lean im Jahr 1965 ist und bleibt Doktor Schiwago ein Meilenstein der Romanliteratur. Doch nur wenige Leserinnen und Leser kennen die schwierigen Umstände seiner „Geburt“ und wissen um die elektrisierende Wirkung des Buchs auf die damalige Welt, in der zwei konkurrierende Supermächte um die ideologische Vorherrschaft kämpften.
Doktor Schiwago durfte in der Sowjetunion nicht erscheinen, und der Kreml versuchte über die Italienische Kommunistische Partei, die Erstpublikation in italienischer Sprache zu verhindern. Moskauer |19|Funktionäre und führende italienische Kommunisten bedrohten sowohl Pasternak als auch Giangiacomo Feltrinelli, seinen Mailänder Verleger. Die beiden Männer, die einander nie persönlich kennenlernten, widerstanden dem Druck und schmiedeten einen der größten Bünde in der Geschichte des Verlagswesens. Ihre heimliche Korrespondenz, die zuverlässige Kuriere in die Sowjetunion hinein- beziehungsweise aus ihr herausschmuggelten, ist ein eigenständiges Manifest der künstlerischen Freiheit.
Die überall kursierende Nachricht, dass die Sowjetunion Doktor Schiwago ablehnte, sorgte dafür, dass der Roman, der sonst vielleicht nur ein kleines, elitäres Publikum gefunden hätte, zum internationalen Bestseller wurde. Als Pasternak 1958 von der Schwedischen Akademie mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt wurde, stiegen die ohnehin schon erstaunlichen Verkaufszahlen noch weiter. Der Schriftsteller war für sein lyrisches Werk schon mehrmals nominiert worden, doch das Erscheinen des Romans machte seine Wahl praktisch unumgänglich. Der Kreml verurteilte Pasternaks Nobelpreis als antisowjetische Provokation und zettelte eine gnadenlose internationale Hetzkampagne an, um ihn als Verräter zu verunglimpfen. Pasternak wurde bis an den Rand des Selbstmords getrieben. Das Ausmaß und die Brutalität der Angriffe auf den betagten Autor schockierte Menschen rund um die Welt, darunter auch viele Schriftsteller, die mit der Sowjetunion sympathisierten. Persönlichkeiten, die unterschiedlicher kaum hätten sein können, so zum Beispiel Ernest Hemingway und der indische Premierminister Jawaharlal Nehru, ergriffen das Wort zu Pasternaks Verteidigung.
Pasternak lebte in einer Gesellschaft, in der Romanen, Gedichten und Schauspielen als Form des Ausdrucks und der Unterhaltung ungemeine Bedeutung zukam. Über Themen, ästhetische Konzepte und die politische Rolle der Literatur wurden erbitterte ideologische Auseinandersetzungen geführt, und manchmal bezahlten die Verlierer dieser Kontroversen ihre Niederlage mit dem Leben. Nach 1917 wurden fast 1 500 Schriftsteller in der Sowjetunion wegen angeblicher Gesetzesverstöße exekutiert oder starben in Arbeitslagern. Autoren hatten entweder ihren Beitrag zur Schaffung des neuen „Sowjetmenschen“ zu leisten oder waren zu isolieren, in manchen |20|Fällen auch zu vernichten, und die Literatur konnte entweder der Revolution oder den Staatsfeinden dienen.
Die sowjetischen Führer schrieben lange Traktate über die revolutionäre Kunst, hielten stundenlange Reden über das Ziel der Erzählliteratur und die Dichtung und zitierten Autoren in den Kreml, um sie über ihre Pflichten aufzuklären. Die Schriftstellerei lag ihnen nicht zuletzt deshalb so am Herzen, weil sie am eigenen Leib erfahren hatten, welche Kraft zur Veränderung ihr innewohnte. Der Revolutionär Wladimir Lenin wurde von Nikolai Tschernyschewskis Roman Was tun? radikalisiert. „Die Kunst gehört dem Volk“, sagte Lenin. „Sie muss von den Massen verstanden und geliebt werden. Sie muss in ihrem Fühlen, Denken und Wollen verbinden und emporheben. Sie muss Künstler in ihnen erwecken und entwickeln. Sollten wir erlesenen süßen Kuchen einer kleinen Minderheit servieren, während es den Massen der Arbeiter und Bauern an Schwarzbrot fehlt?“
Als Stalin Anfang der 1930er-Jahre seine Macht festigte, unterwarf er das literarische Leben einer strikten Kontrolle. Die Literatur war nicht länger die Verbündete der Partei, sondern ihre Dienerin. Das künstlerische Leben, das in den 1920er-Jahren noch pulsiert hatte, erstarb. Stalin, der als Jugendlicher gedichtet hatte, war ein unersättlicher Romanleser, der manchmal Hunderte von Seiten an einem Tag verschlang. Passagen, die ihm missfielen, strich er rot an. Er bestimmte mit, welche Theaterstücke aufgeführt werden sollten. Eines Tages rief er Pasternak an, um zu erörtern, ob der Dichter Ossip Mandelstam seine Kunst beherrsche – ein Gespräch, in dem Mandelstams Schicksal auf dem Spiel stand. Stalin entschied, welche Schriftsteller den höchsten Literaturpreis des Landes erhalten sollten, der, wie sollte es anders sein, „Stalinpreis“ genannt wurde.
Die sowjetische Öffentlichkeit verzehrte sich nach großer Literatur mit einem Hunger, der kaum je gestillt wurde. Die Regale des Landes ächzten unter dem langweiligen, nach Schema F zusammengeschusterten Mist, der auf Bestellung produziert wurde. Isaiah Berlin fand das alles „rettungslos zweitklassig“. Jene Schriftsteller, die unverdrossen an ihrer individuellen Stimme festhielten – Pasternak und die Dichterin Anna Achmatowa sowie ein paar andere – wurden geradezu vergöttert. Ihre Lesungen Füllten Konzertsäle, |21|und das Publikum fühlte ihre Worte auf den Lippen, selbst wenn sie verboten waren. Im Zwangsarbeitslager Oboserka am Weißen Meer vertrieben sich manche Insassen die Zeit und machten einander Mut, indem sie herauszufinden versuchten, wer am meisten Pasternak rezitieren konnte. Der emigrierte russische Kritiker Victor Frank erklärte Pasternaks Anziehungskraft damit, dass in seinen Gedichten „der Himmel größer, die Sterne strahlender, der Regen lauter und die Sonne grausamer“ sei. „Kein anderer Dichter in der russischen Literatur – und vielleicht in der ganzen Welt – ist fähig, die langweiligen Gegenstände unseres langweiligen Lebens mit so viel Magie aufzuladen wie er. Für seinen durchdringenden Blick, den Blick eines Kindes, den Blick eines Menschen, der als Erster einen neuen Planeten betritt, ist nichts zu klein und zu unbedeutend: Regenpfützen, Fensterbänke, Spiegelstützen, Schürzen, Türen von Eisenbahnwaggons, die kleinen Härchen, die von einem nassen Mantel abstehen – all dieser Krimskrams, das Strandgut des Alltags, verwandelt er in eine immerwährende Freude.“
Pasternaks Beziehung zur kommunistischen Partei, ihren Führern und dem literarischen Establishment der Sowjetunion war zutiefst ambivalent. Vor dem Großen Terror Ende der 1930er-Jahre hatte er Lobgedichte auf Lenin und Stalin geschrieben, und eine Zeitlang war er fasziniert von Stalins Arglist und Macht. Doch als das Land im Zuge der Säuberungen in einem Strom von Blut ertrank, war er bitter enttäuscht vom sowjetischen Staat. Warum er den Terror überlebte, während so viele andere in seinen gnadenlosen Schlund gerieten und wahllos verschluckt wurden, lässt sich nicht in einem Satz erklären. Der Terror wütete zuweilen auf bizarre Weise nach dem Zufallsprinzip – metzelte Regimetreue nieder und ließ Verdächtige am Leben. Pasternak hatte einfach Glück. Darüber hinaus schützte ihn sein internationales Renommee und – vielleicht der entscheidende Faktor – Stalin selbst, der interessiert beobachtete, wie sich das einzigartige und bisweilen exzentrische Talent des Dichters entfaltete.
Pasternak suchte die Konfrontation mit den Behörden nicht, lebte aber bewusst in der Isolation seiner Kreativität und von der Welt abgeschnitten auf dem Land. Er begann Doktor Schiwago 1945 niederzuschreiben und brauchte zehn Jahre, um das Werk zu vollenden. |22|Krankheitsphasen, die Übersetzung fremdsprachiger Werke zur Sicherung des Lebensunterhalts, wachsender Ehrgeiz und Verwunderung, was da aus seinem Füller floss, waren mit dafür verantwortlich, dass es so langsam voranging.
Doktor Schiwago war faktisch ein Erstlingsroman, und Pasternak war 65, als er ihn vollendete. Viele seiner Erfahrungen und Ansichten flossen darin ein. Weder war das Werk eine Polemik noch ein Angriff auf die Sowjetunion, noch diente es der Verteidigung irgendeines anderen politischen Systems. Seine Kraft lag in seinem individuellen Geist, Pasternaks Wunsch, an der Welt teilzuhaben, ein wenig Wahrheit im Leben zu finden, ein wenig Anerkennung zu erfahren. Wie Dostojewski wollte er mit der Vergangenheit abrechnen und diese Periode der russischen Geschichte durch „Treue zur poetischen Wahrheit“ zum Ausdruck bringen.
Beim Fortspinnen der Handlung wurde Pasternak klar, dass Doktor Schiwago ein harsches Urteil über die kurze Geschichte des sowjetischen Staates fällte. Handlung, Figuren und Atmosphäre verkörperten vieles, was der sowjetischen Literatur fremd war. Man konnte Verachtung für die „abstumpfende und gnadenlose“ Ideologie, die so viele von Pasternaks Zeitgenossen beseelte, aus dem Text herauslesen. Doktor Schiwago war Pasternaks letztgültiges Testament, eine Verneigung vor einer ihm teuren Epoche und Sensibilität, die nun zerstört war. Er war wild entschlossen, das Buch zu publizieren – anders als einige seiner Kollegen, die im Geheimen „für die Schublade“ schrieben.
Doktor Schiwago erschien nacheinander in Italienisch, Französisch, Deutsch und Englisch und in vielen anderen Sprachen, nicht aber – zumindest vorläufig – in Russisch.
Im September 1958 wurde auf der Weltausstellung in Brüssel im Pavillon des Vatikans eine schöne, in blaues Leinen gebundene russischsprachige Ausgabe von Doktor Schiwago an russische Besucher verteilt. Fast augenblicklich kamen Gerüchte über das Zustandekommen dieser mysteriösen Ausgabe auf. Im November 1958 wurde die CIA zum ersten Mal verdächtigt, das Buch in aller Heimlichkeit gedruckt zu haben. Sie streitet das bis heute ab.
Im Laufe der Jahre kamen reihenweise Theorien auf, wie die CIA in den Besitz eines Originalmanuskripts von Doktor Schiwago gelangt |23|sein könnte und warum sie den Roman auf Russisch habe drucken lassen. Es hieß, der britische Geheimdienst habe ein Flugzeug aus Moskau mit Feltrinelli an Bord in Malta zur Landung gezwungen, den Roman aus dem im Frachtraum verstauten Koffer des Verlegers entwendet und heimlich fotografiert. Das ist nie geschehen. Einige von Pasternaks französischen Freunden sollen – irrtümlicherweise – der Meinung gewesen sein, dass eine originalsprachige Ausgabe von Doktor Schiwago die Voraussetzung zu einer Nominierung für den Nobelpreis war. Auch diese Theorie wurde immer wieder aufgewärmt. Der Nobelpreis interessierte den amerikanischen Geheimdienst nicht, und aus einer internen Abrechnung über den Vertrieb des Buchs durch die CIA geht hervor, dass kein Exemplar nach Stockholm gesandt wurde. Die CIA wollte einfach, dass Doktor Schiwago in die Sowjetunion gelangte und sowjetischen Bürgern zugänglich gemacht wurde.
Es wurde ebenfalls gemutmaßt, dass russische Emigranten in Westeuropa den Druck lanciert hätten und die CIA nur eine marginale Rolle gespielt habe, indem sie die beteiligten Organisationen finanzierte. Tatsächlich war die CIA tief in die Angelegenheit verstrickt. Druck und Vertrieb von Doktor Schiwago wurden von der Soviet Russia Division in die Wege geleitet, vom Direktor der CIA, Allen Dulles, überwacht und durch Präsident Eisenhowers Operations Coordinating Board, das dem National Security Council (Nationalen Sicherheitsrat) im Weißen Haus berichtete, genehmigt. Die CIA arrangierte 1958 den Druck einer Hardcoverausgabe in den Niederlanden und druckte 1959 in ihrem Hauptquartier in Washington D.C. eine Ausgabe von Miniaturpaperbacks.
Doktor Schiwago als Waffe im ideologischen Machtkampf zwischen Ost und West – auch dies ist Teil seiner außergewöhnlichen Geschichte.