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|24|Kapitel 1
Оглавление„Von Rußland ist das Dach heruntergerissen worden.“
Kugeln krachten gegen die Fassade des Wohnhauses in der Wolkhonka-Straße mitten in Moskau, in dem Pasternaks Familie lebte, durchschlugen die Fenster und schlugen pfeifend in die verputzten Decken ein. Die Schießerei, die mit ein paar vereinzelten Scharmützeln begonnen hatte, wuchs sich zu einem flächendeckenden Straßenkampf aus und trieb die Familie in die Hinterzimmer der geräumigen Wohnung im zweiten Stock. Auch dies schien gefährlich, als die Rückseite des Gebäudes im Sperrfeuer von Granatsplittern getroffen wurde. Die wenigen Zivilisten, die sich auf die Wolkhonka-Straße hinauswagten, hasteten seitwärts von Versteck zu Versteck. Einer von Pasternaks Nachbarn wurde erschossen, als er vor einem seiner Fenster die Straße überquerte.
Am 25. Oktober 1917 ergriffen die Bolschewiken in einem weitgehend unblutigen Staatsstreich die Macht in der russischen Hauptstadt Petrograd, vormals Sankt Petersburg, doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte die Beibehaltung eines deutschen Namens unmöglich gemacht. Andere Großstädte leisteten den Truppen des Revolutionsführers Wladimir Lenin, der die seit März im Amt befindliche Provisorische Regierung bekämpfte, länger Widerstand. In Moskau, dem Handelszentrum und der zweitwichtigsten Stadt des Landes, wurde über eine Woche lang gekämpft, und die Pasternaks fanden sich plötzlich mitten im Geschehen wieder. Das Mehrfamilienhaus, in dem sie wohnten, lag an einer hügelaufwärts führenden Straße. Die neun zur Straße gelegenen Fenster boten einen Ausblick auf die Moskwa und die riesige goldene Kuppel der Christ-Erlöser-Kathedrale. |25|Der Kreml lag nur ein paar hundert Meter weiter nach Nordosten an der Flussbiegung. Pasternak, der einen Raum auf dem Arbat gemietet hatte, war an dem Tag, an dem die Kämpfe begannen, zufällig zu Besuch bei seinen Eltern und kauerte schließlich mit ihnen und seinem jüngeren, 24 Jahre alten Bruder Alexander in der Parterrewohnung eines Nachbarn. Telefon und Licht waren ausgeschaltet, und Wasser tropfte nur gelegentlich für kurze Zeit aus den Hähnen. Boris’ Schwestern Josephina und Lydia waren in dem nahe gelegenen Haus ihres Cousins unter ähnlich elenden Umständen gefangen. Sie waren an diesem für die Jahreszeit ungewöhnlich milden Abend zu einem Stadtbummel aufgebrochen, als plötzlich gepanzerte Fahrzeuge durch die sich schnell leerenden Straßen rasten. Kaum hatten sie bei ihrem Vetter Unterschlupf gefunden, wurde ein Mann auf der anderen Straßenseite von einem Schuss niedergestreckt. Tagelang hörte man das ununterbrochene Prasseln von Maschinengewehrfeuer und das dumpfe Krachen explodierender Granaten, immer wieder unterbrochen vom „Geschrei kreisender Mauersegler und Schwalben“. Dann war auf einmal alles vorbei, ebenso schnell, wie es begonnen hatte: „Die Luft wurde wieder klar, und eine schreckliche Stille senkte sich herab“. Moskau war den Sowjets in die Hände gefallen.
Russlands Revolutionsjahr hatte im vorausgegangenen Februar begonnen, als sich Zehntausende streikender Arbeiter den Frauen anschlossen, die in Petrograd gegen den Brotmangel protestierten, und die nationale Kriegsmüdigkeit sich in einer regelrechten Flut von Demonstrationen gegen die erschöpfte Autokratie Bahn brach. Zwei Millionen Russen sollten in dem Gemetzel an der Ostfront fallen, und weitere 1,5 Millionen Zivilisten starben an Krankheiten und bei Kampfmaßnahmen. Die Wirtschaft des riesigen, rückständigen russischen Reichs war am Zusammenbrechen. Als die zaristischen Truppen in die Menge feuerten und Hunderte töteten, brach in der Hauptstadt eine offene Revolte aus. Am 2. März dankte Nikolaus II., von seiner Armee im Stich gelassen, ab, und die 300 Jahre alte Romanow-Dynastie war am Ende.
Pasternak, der zur Unterstützung der Kriegsanstrengungen einem Chemiewerk im Ural zugewiesen worden war, eilte zurück nach Moskau. Einen Teil der Strecke legte er in einer Kibitka zurück, einem mit Matten abgedeckten und mit Heu ausgelegten |26|Schlitten, in dem er sich mit Schaffellmänteln gegen die Kälte wappnete. Pasternak und seine Geschwister begrüßten den Fall der Monarchie, die Bildung der neuen Provisorischen Regierung und vor allem die Aussicht auf eine konstitutionelle politische Ordnung. Aus Untertanen wurden Bürger, und sie freuten sich über die Veränderung. „Stell dir vor, ein Meer aus Blut und Schmutz begänne zu leuchten“, sagte Pasternak zu einem Freund. Seine Schwester Josephine schrieb, das Charisma von Alexander Kerenski, einem führenden Mitglied der Übergangsregierung, und seine Wirkung auf die Menschenmenge, die sich im Frühling vor dem Bolschoi-Theater versammelt hatte, habe ihren Bruder „überwältigt“ und „berauscht“. Die Provisorische Regierung schaffte die Zensur ab und führte die Versammlungsfreiheit ein.
Pasternak sollte die Euphorie des Aufbruchs später in seinem Roman thematisieren. Der Held von Doktor Schiwago ist fasziniert vom öffentlichen Diskurs, seiner Lebendigkeit, seiner Magie. „Gestern habe ich das nächtliche Treffen beobachtet. Ein erstaunliches Schauspiel“, schildert Juri Schiwago die ersten Monate nach dem Fall des Zaren. „Mütterchen Russland hat sich in Bewegung gesetzt, es mag nicht mehr stehenbleiben, es kann nicht genug gehen und reden. Und nicht nur die Menschen sind es, die reden. Sterne und Bäume versammeln und unterhalten sich, nächtliche Blumen philosophieren, und steinerne Gebäude halten Versammlungen ab. Es ist wie im Evangelium, nicht wahr? Wie zur Zeit der Apostel. Erinnern Sie sich, wie es bei Paulus heißt? ‚Redet mit Zungen und weissagt und betet um die Gabe der Deutung.‘“
Schiwago hat das Gefühl, „[v]on Rußland [sei] das Dach heruntergerissen worden“. Die politischen Unruhen schwächten auch die Provisorische Regierung, die unfähig war, ihre Beschlüsse durchzusetzen. Vor allem ihre weithin verhasste Entscheidung, den Krieg fortzusetzen, trug zu ihrem Untergang bei. Die Bolschewiken, die mit ihrem Versprechen „Brot, Frieden und Land“ beim Volk Zuspruch fanden und von Lenins Kalkül getrieben wurden, dass die Macht dazu da war, ergriffen zu werden, zettelten einen Aufstand und im Oktober eine zweite Revolution an. „Eine großartige Chirurgie!“, heißt es in Doktor Schiwago. „Kurzentschlossen werden die stinkenden alten Beulen kunstvoll herausgeschnitten!“
|27|Die Bolschewiken versprachen in ihrer Deklaration Utopia – „jede Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen, jede Teilung der Gesellschaft in Klassen abzuschaffen, allen Widerstand der Ausbeuter schonungslos zu unterdrücken, die sozialistische Organisation der Gesellschaft und den Sieg des Sozialismus in allen Ländern durchzusetzen“.
Juri Schiwago hingegen ist schnell desillusioniert von der neuen Ordnung: „Aber erstens, die Ideen der allgemeinen Vervollkommnung, wie sie seit dem Oktober verstanden werden, können mich nicht hinreißen. Zweitens ist das alles von der Verwirklichung weit entfernt, und allein das Gerede darüber wurde mit solchen Strömen von Blut bezahlt, daß der Zweck gewiß nicht die Mittel heiligt. Drittens, und das ist die Hauptsache, wenn ich von der Umgestaltung des Lebens höre, verliere ich meine Beherrschung und falle in Verzweiflung.“
Das Wort Umgestalung hatte auch Stalin benutzt, als er sein Glas auf ausgewählte Schriftsteller, die er „Ingenieure der Seele“ nannte, erhob. Schiwago sagt an einer Stelle des Buchs zu einem Partisanenführer: „Von mir aus, ihr seid Fackeln und Befreier Rußlands, das ohne euch verloren wäre und in Armut und Unwissenheit versänke, und trotzdem habe ich nichts mit euch im Sinn, ich pfeife auf euch, ich kann euch nicht leiden und wünsche euch alle zum Teufel.“
Das sind Ansichten eines viel älteren Pasternak, der mehr als drei Jahrzehnte nach der Revolution in Sorge und Abscheu zurückblickt. Mit 27 war Pasternak verliebt, schrieb Gedichte und ließ sich von der „Größe des Augenblicks“ mitreißen.
Die Pasternaks waren prominente Mitglieder der westlich orientierten Moskauer Intelligenzija und bereit, die politische Reformierung eines autokratischen, sklerotischen Systems zu unterstützen. Boris’ Vater Leonid war ein bekannter impressionistischer Maler und unterrichtete an der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur. Sein Vater wiederum hatte in Odessa am Schwarzen Meer, einer dynamischen Vielvölkerstadt innerhalb des Ansiedlungsrayons, in dem die meisten russischen Juden leben mussten, ein Gasthaus geführt. In Odessa pulsierte das kulturelle Leben, und laut Alexander Puschkin, der Anfang des 19. Jahrhunderts dort gelebt hatte, war seine „Luft von ganz Europa erfüllt“. |28|Leonid zog 1881 nach Moskau, um Medizin zu studieren. Im Herbst 1882 brach er das Studium ab, weil ihm von der Arbeit mit Leichen übel wurde, und schrieb sich an der Königlichen Akademie der Bildenden Künste in München ein. Seine Tochter Lydia beschrieb ihn als „einen Mann von verträumtem, sanftem Charakter … langsam und unsicher in allem außer bei seiner Arbeit“.
Nach dem obligatorischen Militärdienst kehrte Leonid 1888 nach Moskau zurück. Mit dem Verkauf seines ersten Werkes – eines Gemäldes mit dem Titel Brief von zu Hause – an den Sammler Pawel Tretjakow konnte er als Künstler arrivieren. Darüber hinaus erwarb er sich einen Ruf als geschickter Illustrator und illustrierte 1892 eine Ausgabe von Leo Tolstois Krieg und Frieden. Im Jahr darauf lernten sich Leonid und Tolstoi persönlich kennen und wurden Freunde. Im Lauf der Jahre zeichnete Leonid den russischen Schriftsteller viele Male, auch 1910 als Verstorbenen im Astapowo-Bahnhof. Er war mit Boris im Nachtzug dorthin gefahren, um Tolstoi seinen Respekt zu erweisen, und Boris schrieb später, dass der große alte Mann ihm winzig und verhutzelt erschienen sei: „[…] dort in der Ecke lag kein Berg, sondern ein kleiner verrunzelter Greis – eine jener Greisengestalten, die Tolstoj so oft geschildert hat und immer wieder in seinen Werken auftreten läßt.“
Tolstoi hatte die Pasternaks in Moskau besucht. Das taten auch die Komponisten Sergei Rachmaninow, Alexander Scriabin und andere Kulturgrößen dieser Zeit, von denen Leonid viele malte. Die Kinder erlebten diese Besuche als Teil ihres Alltags. „Von Kindesbeinen an hatte ich Kunst und bedeutende Menschen vor Augen, und ich habe mich daran gewöhnt, das Sublime und Exklusive als etwas Natürliches, als Lebensnorm zu behandeln“, schrieb Pasternak in Erinnerung an die Koryphäen, die den Salon seiner Eltern und das Atelier seines Vaters mit ihrer Anwesenheit beehrten.
Auch die Musik spielte in Pasternaks Kindheit eine wichtige Rolle. Seine Mutter Rosalia, geborene Kaufman, hatte eine außerordentlich frühe Begabung gezeigt. Als sie im Alter von fünf Jahren zum ersten Mal am Piano saß, spielte sie Stücke, die ihr Cousin zum Besten gegeben hatte, aus dem Gedächtnis perfekt nach. Sie hatte ihn einfach nur beobachtet. Rosa, wie sie genannt wurde, war die Tochter eines wohlhabenden Sodawasser-Fabrikanten aus Odessa. |29|Mit acht trat sie zum ersten Mal auf, mit elf wurde sie von der Lokalpresse in den Himmel gehoben und zwei Jahre später tourte sie durch Südrussland. Sie gab in Sankt Petersburg Konzerte, studierte in Wien und wurde noch vor ihrem 20. Geburtstag zur Musikprofessorin am Konservatorium von Odessa ernannt. „Mutter war Musik“, schrieb ihre Tochter Lydia. „Es mag größere Virtuosen, brillantere Interpreten geben, aber niemanden von größerer Eindringlichkeit, etwas Undefinierbarem, das einen beim ersten Akkord in Tränen, bei jeder Bewegung in schiere Freude und Ekstase ausbrechen lässt.“ Ängstlichkeit, Herzprobleme und ihre Eheschließung verhinderten, dass Rosa ihr Talent voll ausschöpfte und als große Pianistin ihrer Generation in die Geschichte einging. 1886 lernte sie Leonid Pasternak in Odessa kennen; im Februar 1889 heirateten die beiden in Moskau. Boris wurde im Jahr darauf geboren. Sein Bruder Alexander kam 1893 zur Welt, Josephine 1900 und Lydia 1902.
Mit zwölf malte Boris sich eine Karriere als Pianist und Komponist aus. Die „Neigung zu improvisieren und zu komponieren wuchs […] zur glühenden Leidenschaft“. Als ihm klar wurde, dass ihm am Piano die Brillanz und die natürliche Begabung einiger von ihm vergötterter Komponisten wie zum Beispiel Scriabin fehlten, gab er auf. Pasternak konnte es nicht ertragen, dass er womöglich keine große Bedeutung erlangen würde. Als Junge war er daran gewöhnt gewesen, stets der Beste und Erste zu sein, und in Bezug auf seine Fähigkeiten war er selbstgefällig. Er besaß ebenso viel körperliches wie intellektuelles Selbstvertrauen. Nachdem er eines Sommers auf dem Land ein paar einheimische Bauernmädchen beim Reiten beobachtet hatte, redete er sich ein, dass auch er ohne Sattel reiten könne. Solche Selbstprüfungen wurden zu einer Obsession. Als der Zwölfjährige schließlich ein Mädchen dazu brachte, ihm ihr Pferd zu überlassen, wurde er beim Sprung über einen Bach von der in Panik geratenen jungen Stute abgeworfen und brach sich den rechten Oberschenkelknochen. Nach dem Verheilen des Bruchs war sein rechtes Bein leicht verkürzt, und die daraus resultierende Lahmheit, die er den größten Teil seines Lebens verschleierte, ersparte ihm den Militärdienst im Ersten Weltkrieg. Pasternaks Bruder sagte, dass seine natürlichen Begabungen „ihn in seinem starken Glauben an seine eigenen Kräfte, seine Fähigkeiten und seine |30|Bestimmung bestärkten“. Zweitbester zu sein war etwas, das man ärgerlich von sich abschüttelte und vergaß. „Ich verachtete alles Unschöpferische und Handwerkliche in der tollkühnen Meinung, daß ich mich in all diesen Dingen auskenne“, schrieb Pasternak viele Jahre später. „Im wirklichen Leben, dachte ich, gäbe es nur Wunder und göttliche Eingebungen, nichts Erdachtes, nichts Vorsätzliches und nichts Eigenmächtiges.“
Nachdem er das Klavierspielen aufgegeben hatte, wandte er sich der Dichtung zu.
Als Student an der Moskauer Universität, wo er Jura und dann Philosophie studierte und ein erstklassiges Examen ablegte, verkehrte er in einem Salon junger Autoren, Musiker und Dichter – eine „beschwipste Gesellschaft“, die künstlerische Experimente und Einfälle mit Rum-Tee begoss. In Moskau gab es zahllose sich überschneidende und miteinander verfeindete Salons mit konkurrierenden künstlerischen Philosophien, und Pasternak war ein begeisterter, wenn auch kaum bekannter Teilnehmer. „Sie ahnten nicht, dass ein großer Dichter vor ihnen saß, und behandelten ihn unterdessen wie ein faszinierendes Kuriosum, ohne ihm irgendeine ernsthafte Bedeutung beizumessen“, meinte sein Freund Konstantin Loks. Marina Zwetajewa schrieb über den Besuch einer Lesung: Er „sprach mit einer tonlosen Stimme und vergaß fast den ganzen Text … Er vermittelte einen Eindruck gequälter Konzentration, man wollte ihn anschieben wie einen Wagen, der nicht fuhr – ‚Los jetzt!‘ –, und als kein einziges Wort (nur Gemurmel wie bei einem Bär, der gerade aufwacht) über seine Lippen kam, dachte man ungeduldig: ‚O Gott, warum quält er sich und uns nur so.‘“ Pasternaks Kusine Olga Freudenberg beschrieb ihren Vetter als geistesabwesend und egozentrisch – er sei „nicht von dieser Welt“: „Er redete gewöhnlich stundenlang“, schrieb sie nach einem langen Spaziergang in ihr Tagebuch.
Pasternak neigte dazu, sich unglücklich zu verlieben – eine deprimierende Erfahrung, die seine Dichtkunst befeuerte. An der Universität Marburg, wo er im Sommer 1912 Philosophie studierte, bekam er von Ida Wisotskaja, der Tochter eines reichen Moskauer Teehändlers, der er seine Liebe erklärt hatte, einen Korb. „Versuche einfach, normal zu leben“, sagte Ida zu ihm. „Deine Lebensweise hat dich irregeleitet. Jeder, der nicht zu Mittag gegessen und zu wenig geschlafen |31|hat, entdeckt in sich selbst jede Menge wilder und unglaublicher Gedanken.“ Idas Zurückweisung führte dazu, dass er statt eines Referats für seinen Philosophiekurs, das er noch am selben Tag abliefern sollte, Gedichte schrieb. Schließlich entschied er sich dagegen, an der deutschen Universität in Philosophie zu promovieren. „Gott, wie erfolgreich meine Reise nach Marburg ist. Doch ich gebe alles auf – die Kunst ist es, sonst nichts.“ Pasternak redete gerne auf seine Traumfrauen ein, spickte die schwärmerischen Bekenntnisse seiner Zuneigung mit philosophischen Traktaten. Eine andere junge Frau, die keine intimere als eine freundschaftliche Beziehung mit ihm eingehen wollte, beklagte sich, bei ihren Treffen hätte er „monologisiert“. Diese Niederlagen in Liebesdingen setzten Pasternak emotional zu und lösten intensive Schreibphasen aus.
Sein erstes eigenständiges Werk erschien im Dezember 1913, nachdem er im vorausgegangenen Sommer zum ersten Mal im Leben Verse „nicht vereinzelt, sondern ohne Unterbrechung in einem Zug“ geschrieben hatte, „wie man malt oder komponiert“. Der daraus resultierende Lyrikband mit dem Titel Zwilling in Wolken wurde kaum beachtet und mit wenig Begeisterung aufgenommen, und Pasternak tat ihn später als furchtbar prätentiös ab. Ein zweiter Gedichtband, Über die Barrieren, kam Anfang 1917 heraus. Einige Gedichte hatte ein zaristischer Zensor schwer verstümmelt, das Buch wimmelte von Satzfehlern und wurde von der Kritik ebenfalls kaum wahrgenommen. Doch für Über die Barrieren erhielt Pasternak zum ersten Mal ein Honorar – 150 Rubel –, ein denkwürdiger Moment für jeden Autor. Der russische Schriftsteller Andrei Sinjawski bezeichnete die ersten beiden Gedichtbände Pasternaks als „Einstimmung“, als Bestandteile seiner „Suche nach einer eigenen Stimme, einer eigenen Sicht auf das Leben, einem eigenen Platz in der Vielfalt literarischer Strömungen.“
Im Sommer 1917 war Pasternak in die Studentin Jelena Winograd verliebt, eine junge Kriegswitwe und begeisterte Befürworterin der Revolution. Sie nahm den Dichter mit zu Demonstrationen und politischen Zusammenkünften, genoss seine Gesellschaft, fühlte sich aber sexuell nicht zu ihm hingezogen. „Die Beziehung blieb platonisch, körperlich und emotional unerfüllt, was für Pasternak sehr quälend war“, schrieb der Pasternak-Biograf Christopher |32|Barnes. Angetrieben von Leidenschaft und Frustration, verfasste Pasternak vor dem Hintergrund einer Gesellschaft im Umbruch einen Gedichtzyklus, der ihn in die vorderen Reihen der russischen Literatur katapultieren sollte: Meine Schwester – das Leben (im Original mit dem Untertitel Sommer 1917). Zunächst zirkulierten nur handschriftliche Kopien, die Pasternaks Werk so populär machten, wie es „keinem Dichter nach Puschkin mit von Hand verfassten Abschriften gelungen war“.
Aufgrund der Revolutionswirren und des darauf folgenden entbehrungsreichen Bürgerkriegs, in dem wegen Papiermangels kaum noch Literatur publiziert wurde, erschien das Buch erst 1922 – lange nachdem Winograd Pasternak verlassen hatte und dieser schließlich mit der Malerin Jewgenia Lurié die Liebe gefunden hatte.
Boris und Jewgenia lernten sich bei einer Geburtstagsfeier kennen, wo Jewgenia in einem auffallenden grünen Kleid die Aufmerksamkeit mehrerer junger Männer auf sich zog. Pasternak rezitierte seine Gedichte, doch die junge Frau war abgelenkt und hörte nicht zu. „Recht haben Sie, warum sollten Sie sich solchen Unsinn anhören?“, sagte Pasternak.
Sie wollte ihn wiedersehen und war empfänglich für die Bekundungen seiner Leidenschaft. „Ach, besser wäre es, dieses Gefühl niemals zu verlieren“, schrieb er ihr vor ihrer Hochzeit, als sie zu Besuch bei ihren Eltern war, und schilderte ihr, wie sehr er sie vermisste. „Es ist wie eine Unterhaltung mit dir, ein tiefes Raunen, ein stummes, heimliches – und wahres – Tröpfeln … Was soll ich tun, wie soll ich diesen Magnetismus und dieses Von-deiner-Melodie-Erfülltsein anders nennen als die Aufregung, die du erzwingst und die ich vertreiben würde – wie jemand, der sich im Wald verirrt hat.“
Sie heirateten 1922. Pasternak ließ die Goldmedaille, die er auf dem Gymnasium als bester Schüler erhalten hatte, einschmelzen, um daraus Eheringe anfertigen zu lassen, in die er grob „Schenja und Borja“ eingravierte. Ihr nach seiner Mutter genannter Sohn Jewgeni wurde 1923 geboren. Sie lebten recht beengt in der alten Wohnung der Pasternaks, die sich nun sechs Familien teilten. „Da ich von allen Seiten von Lärm umgeben bin, kann ich mich kraft in |33|höchstem Maße geläuterter, der Selbstvergessenheit ähnelnder Verzweiflung immer nur kurze Zeit konzentrieren“, beklagte er sich beim Allunionsschriftstellerverband. Oft konnte er nur nachts arbeiten, wenn Stille sich über das Haus senkte, und hielt sich mit Zigaretten und heißem Tee wach.
Sowohl Boris als auch Jewgenia verfolgten eigene künstlerische Ziele, und ihre Ehe zeichnete sich durch ihren Konkurrenzkampf auf kreativem Gebiet und ihre Unfähigkeit zu Zugeständnissen aus. Dazu kam die zwangsläufige und sich drohend abzeichnende Erkenntnis, dass Pasternak, wie ihr Sohn später schrieb, zweifelsfrei „mehr Talent“ besaß.
Pasternaks Beziehungen zu Frauen blieben angespannt. Seine Ehe geriet wegen eines leidenschaftlichen Briefwechsels mit der Dichterin Marina Zwetajewa, über den sich Jewgenia sehr ärgerte, in Turbulenzen. Im Sommer 1930 fühlte er sich stark zu Sinaida Neuhaus, der Frau seines besten Freundes, des Pianisten Heinrich Neuhaus, hingezogen. Beide Familien machten zusammen in der Ukraine Urlaub. Sinaida, die Tochter eines russischen Fabrikbesitzers und einer Halbitalienerin, war 1897 in Sankt Petersburg geboren worden. Mit 15 Jahren hatte sie ein Verhältnis mit einem Cousin, einem verheirateten Mann in den Vierzigern und Vater zweier Kinder gehabt – eine Affäre, die Pasternak zu einigen fiktiven Erfahrungen der jungen Lara in Doktor Schiwago inspirierte. 1917 zog Sinaida nach Jelisawetgrad, wo sie Neuhaus kennenlernte – ihren künftigen Klavierlehrer und späteren Ehemann.
Noch ehe er sich Sinaidas Gefühle sicher war, gestand Pasternak seiner Frau, dass er verliebt sei. Anschließend informierte er Heinrich. Beide Männer weinten, doch Sinaida blieb erst einmal bei ihrem Mann. Zu Beginn des folgenden Jahres schliefen Boris und Sinaida miteinander, und Sinaida beichtete ihrem Mann, der auf Konzerttournee in Sibirien war, die Affäre in einem Brief. Unter Tränen verließ er eine Vorstellung und kehrte nach Moskau zurück.
Pasternak ging mit narzisstischer Selbstüberschätzung davon aus, er könne seine Ehe und die Freundschaft mit Heinrich aufrechterhalten, seine Affäre fortführen und dabei stets über jeden Tadel erhaben bleiben. „Ich habe mich N[euhaus’] unwürdig erwiesen, den ich weiterhin liebe und immer lieben werde“, schrieb er in |34|einem Brief an seine Eltern. „[I]ch habe Schenja anhaltende, schreckliche und bis heute nicht nachlassende Qualen bereitet – und bin reiner und unschuldiger, als ich vor dem Eintritt ins Leben war.“
Die komplizierte Menage à trois wurde eine Weile fortgeführt. Jewgenia reiste mit ihrem kleinen Sohn nach Deutschland, sodass Boris und Sinaida frei füreinander waren. In einem Gedicht ermutigte Pasternak Jewgenia zu einem Neuanfang ohne ihn:
Gräm dich nicht, weine nicht, greif den Verlust
Der Kräfte nicht an, schenk dir die Herzqual.
Du lebst, du bist in mir, in meiner Brust,
Als Stütze, als Freund, und auch als Zufall.
Mein Zukunftsvertrauen ist frei von Furcht
Daß ich als Schwätzer vor dir erschiene.
Nicht Leben noch Seelenbund schlagen wir durch
– sondern die gegenseitige Lüge.
Viele Jahre später schilderte er seine Ehe als unglücklich und leidenschaftslos. „Schönheit“, schrieb er, sei „das Charakteristikum wahrer Gefühle, das Symbol ihrer Stärke und Ernsthaftigkeit“. Und er fand es unfair, dass die Spur seines Liebesversagens sich in dem rötlichen, von Sommersprossen übersäten „hässlichen Gesicht“ seines Sohnes manifestierte.
Mit Jewgenias Rückkehr nach Moskau – einer Stadt, in der Wohnungen sehr kostspielig waren – verloren Boris und Sinaida Anfang 1932 ihre Bleibe. Sinaida, die sich „schrecklich unbehaglich“ fühlte, kehrte zu Heinrich zurück, bat ihn, sie als „Kindermädchen“ wieder aufzunehmen und bot ihm an, „ihm im Haushalt zu helfen“. Pasternak zog wieder bei Jewgenia ein – für drei Tage. „Ich küsste ihr die Hände wie einer Retterin und flehte sie an zu begreifen, dass ich Sina vergöttere, dass es Niedertracht wäre, gegen dieses Gefühl anzukämpfen“. Wenn er sich mit Freunden traf, erging er sich in langen, weinerlichen Schilderungen seiner komplizierten Familienangelegenheiten.
Obdachlos und verliebt, begann Pasternak zu verzweifeln. „Es war etwa Mitternacht und Frost. In meinem Innern wuchs rasend |35|schnell der Stachel schmerzlichster Hoffnungslosigkeit. Ich sah plötzlich das Scheitern meines gesamten Lebens“. Er lief durch die Straßen zur Wohnung der Neuhausens. „Ein später Gast?“, begrüßte ihn Heinrich beim Öffnen der Tür lakonisch und brach kurz darauf zu einem Konzert auf. Pasternak entdeckte eine Flasche Jod auf einem Regalbord und trank es in einem Zug aus. „Was kaust du? Warum riecht es so nach Jod?“, fragte Sinaida und begann zu schreien. Ein Arzt, der im Haus wohnte, wurde gerufen. Pasternak wurde wiederholt zum Erbrechen gebracht und dann ins Bett verfrachtet. Er war noch immer sehr schwach. „Und in dieser Seligkeit des beinahe aussetzenden Pulses spielte in meinem Innern eine Welle reiner, unberührter, durch nichts gebrochene Freiheit. Ich wünschte mir lebhaft, doch unangestrengt den Tod, wie eine Torte; hätte ein Revolver neben mir gelegen, ich hätte die Hand danach ausgestreckt wie nach einer Süßigkeit“. Heinrich, der in diesem Moment offenbar froh war, Sinaida loswerden zu können, sagte: „Und, bist du jetzt zufrieden? Hat er dir seine Liebe bewiesen?“
Für Pasternak war seine zweite Gattin Sinaida eine Hausfrau, die ihm den physischen und emotionalen Raum gab, den er zum Arbeiten brauchte – etwas, zu dem Jewgenia weniger Lust verspürt hatte.
Jewgenia „ist viel cleverer und reifer [als Sinaida] und vielleicht auch gebildeter“, schrieb er in einem Brief an seine Eltern. Jewgenia „ist reiner, schwächer und kindlicher, aber mit den lauten Waffen ihres hitzigen Temperaments, anstrengender Sturheit und substanzloser Theoretisiererei besser gerüstet.“ Sinaida habe „ein starkes [aber ruhiges und stilles] Temperament mit einem arbeitsamen, fleißigen Kern“.
Jewgenia, so ihr Sohn, „liebte meinen Vater noch für den Rest ihres Lebens“.
Mit Pasternaks komplizierten Frauenbeziehungen war es damit längst nicht vorbei. Das gilt auch für seine Neigung, sich der Vorsehung zu ergeben. Vielleicht vergalt ihm das Schicksal dieses Vertrauen, indem es dafür sorgte, dass er Stalins Säuberungen in den folgenden Jahren unerwarteterweise überlebte.