Читать книгу Die Affäre Schiwago - Peter Finn - Страница 11
|70|Kapitel 4
Оглавление„Der antisowjetische Inhalt ist Ihnen ja wohl bekannt?“
Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, war Pasternaks Ehe mit seiner zweiten Frau Sinaida schon lange zur langweiligen Routine geworden. Sinaida war eine tüchtige Hausfrau, und er schätzte sie dafür. „Der leidenschaftliche Fleiß meiner Frau, ihre feurige Geschicklichkeit in allem, im Waschen, im Kochen, im Reinigen, im Kindererziehen, hat das Heim geschaffen, den Garten, die Lebensweise, die Tagesordnung, die der Arbeit notwendige Stille und Ruhe.“ Einer Freundin sagte er, er liebe sie wegen ihrer „großen Hände“. Doch im Haus herrschte eine sehr bedrückte Atmosphäre – natürlich liebe er sie, meinte Pasternak, aber „nicht so leicht und glatt und so ursprünglich, wie das in einer nichtgespaltenen Familie möglich wäre, in einer nicht durch Leiden und den ewigen Seitenblick auf jene andren, ersten, zerschnittene“ Als Sinaida 1937 schwanger wurde, schrieb er seinen Eltern, dass ihr Zustand „eine vollkommene Überraschung“ sei, „und wäre die Abtreibung nicht verboten, hätte uns unsre zu geringe Freude über dieses Ereignis zurückgehalten und sie wäre zur Operation gegangen.“ Sinaida schrieb später, dass sie „Borjas Kind“ unbedingt gewollt, ihre Schwangerschaft aber nur schwer ertragen habe, weil sie fürchtete, ihr Mann könne jederzeit verhaftet werden – der Terror war auf seinem Höhepunkt angelangt, und Pasternak weigerte sich, irgendwelche Petitionen zu unterzeichnen.
Sinaida hatte wenig Interesse an Pasternaks Schriftstellerei und gab zu, dass sie seine Gedichte nicht verstand. Am liebsten saß sie am Küchentisch, rauchte eine Zigarette nach der anderen und spielte Karten oder Mah Jongg mit ihren Freundinnen. Achmatowa beschrieb |71|die kompromisslose, oft und schlecht gelaunte Sinaida als „Drachen auf acht Beinen“. Doch sie hatte sich ihr Unglück redlich verdient. 1937 wurde bei Adrian, dem älteren der beiden Söhne aus ihrer ersten Ehe mit Heinrich Neuhaus Knochentuberkulose diagnostiziert. Von da an ging es mit seiner Gesundheit bergab, und es folgte ein langes und qualvolles Krankenlager. 1942 wurde dem Jungen in einem Versuch, die Ausbreitung der Krankheit zu stoppen, oberhalb des Knies ein Bein amputiert, und der zuvor lebhafte Siebzehnjährige war untröstlich. Adrian starb im April 1945 an tuberkulöser Meningitis – sein Bettnachbar in einem Sanatorium hatte ihn angesteckt. Seine Mutter war bei ihm, als er starb. Sein Leichnam blieb vier Tage lang zu Untersuchungszwecken in der Leichenhalle. Als Sinaida ihn das nächste Mal sah, war er einbalsamiert. Zärtlich drückte sie Adrians Kopf an sich und stellte entsetzt fest, dass er so leicht war „wie eine Streichholzschachtel“. Man hatte ihm das Gehirn entfernt. Diese schreckliche Erfahrung ließ Sinaida nicht mehr los. Noch Tage nach Adrians Tod war sie selbstmordgefährdet, und Pasternak blieb in ihrer Nähe, erledigte mit ihr die Hausarbeit, um sie abzulenken und zu trösten. Adrians Asche wurde im Garten der Datscha in Peredelkino beigesetzt. Sinaida schrieb, dass sie ihren Mann vernachlässige und sich alt fühle. Intimität war ihr offenbar zuwider. Nicht immer könne sie „ihre eheliche Pflicht erfüllen“.
An einem Oktobertag im Jahr 1946 – ein paar Schneeflocken kündeten vom nahenden Winter – begab sich Pasternak zur Redaktion von Nowy Mir. Er durchquerte den höhlenartigen, mit einem langen Teppich ausgelegten Empfangsbereich, einen umgebauten Ballsaal, in dem Puschkin einst getanzt hatte und der nun – in typisch sowjetischer Manier – kitschig dunkelrot gestrichenen war. Am Ende des Saals saßen die einfachen Redakteurinnen. Pasternak begegnete zwei Frauen, die im Begriff waren, zum Mittagessen zu gehen. Die ältere der beiden streckte ihm ihre Hand zum Kuss entgegen und sagte: „Boris Leonidowitsch, erlauben Sie mir, Ihnen eine Ihrer glühendsten Verehrerinnen vorzustellen.“ Diese Verehrerin war Olga Iwinskaja, die als Redakteurin bei Nowy Mir arbeitete. Sie war blond, trug einen alten Mantel aus Eichhörnchenfell und war mehr als 20 Jahre jünger als Pasternak. Später inspirierte sie ihn zur |72|Figur der Lara in Doktor Schiwago. Die hübsche, sinnliche und der allgemeinen Prüderie zum Trotz in sexueller Hinsicht selbstbewusste 34-Jährige spürte Pasternaks sehnsüchtiges Starren sofort – „so fordernd, so männlich prüfend, daß es überhaupt keinen Irrtum gab“. Als er sich verneigte und ihre Hand nahm, erkundigte sich Pasternak, welches seiner Bücher sie besitze. Nur ein einziges, gab sie zu. Pasternak versprach, ihr ein paar weitere Bände zu bringen. „Wie interessant, daß ich noch Anhängerinnen habe.“ Am nächsten Tag lagen fünf Bücher auf Iwinskajas Schreibtisch.
Iwinskaja hatte kurz zuvor eine Lesung Pasternaks im Historischen Museum besucht. Es war das erste Mal, dass sie ihn aus nächster Nähe gesehen hatte. „Er war schlank, gut gebaut, wirkte außerordentlich jugendlich, hatte den kräftigen Hals eines jungen Mannes. Zum Publikum sprach er mit tiefer, leiser Stimme, so wie man sich selbst oder einem nahen Freund etwas vorliest“, schrieb sie in ihren Erinnerungen. Als sie nach Mitternacht nach Hause kam, beschwerte sich ihre Mutter, dass sie habe aufstehen müssen, um sie hereinzulassen. „Lass mich in Frieden“, sagte Iwinskaja. „Ich habe eben mit Gott gesprochen.“
Pasternak empfand sich selbst als wenig reizvoll und beschrieb die „wenigen Frauen, die eine Affäre mit mir hatten“, als „edelmütige Märtyrerinnen, so unerträglich und uninteressant bin ich ‚als Mann‘“. Er bewunderte und idealisierte Frauen, deren Schönheit ihn nach eigener Aussage stets fassungslos machte und bestürzte. Unter seinen Schriftstellerkollegen war er bekannt für seine Affären; die Frauen flogen auf ihn. Laut Sinaida bekam er nach dem Krieg ständig Post von jungen Frauen, oder sie standen vor seiner Tür, und Sinaida jagte sie vom Hof. Pasternak nannte sie „die Ballerinas“. Eine von ihnen schrieb ihm, dass sie mit ihm einen Christus zeugen wolle.
Iwinskaja war zweimal verheiratet und hatte, wie sie in ihren Erinnerungen schreibt, viele Liebschaften. Ihr erster Mann erhängte sich 1940 mit 32 Jahren nach einer ihrer Affären – ihr Liebhaber wurde dann ihr zweiter Ehemann. „Die arme Mama trauerte“, schrieb Olgas Tochter Irina, doch ihr Kummer währte nicht lange. Kaum war die 40-tägigie Trauerzeit vorbei, „stand ein Kerl im Ledermantel auf der Türschwelle“. Iwinskajas zweiter Mann starb |73|während des Krieges an einer Krankheit – nicht ohne zuvor seine Schwiegermutter denunziert zu haben (womöglich, weil es ihm zu Hause zu eng war), die wegen einer abschätzigen Bemerkung über Stalin drei Jahre im Gulag verbrachte.
1946 lebte Iwinskaja mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater, den beiden Kindern, die sie mit ihrem ersten und zweiten Ehemann gezeugt hatte, der achtjährigen Irina und dem fünfjährigen Dimitri, sowie ein paar Katzen zusammen, die sie sehr liebte. Der 56-jährige Pasternak war für sie eine Chance, der häuslichen Enge zu entfliehen und in die Welt der Moskauer Salons einzutauchen. „Ich sehnte mich nach Anerkennung und wollte, dass die Leute mich beneiden“, sagte sie. Sie war verführerisch und hingebungsvoll, anhänglich und berechnend. Mit Pasternak hatte sie einen kapitalen Fang gemacht.
Iwinskaja hatte Pasternaks Gedichte schon als Mädchen gelesen, und nun hatte sie ihr Idol getroffen: „Der Magier, der mich verzaubert hatte, als ich sechzehn war, war leibhaftig in mein Leben getreten, er würde es in Zukunft bestimmen.“ Iwinskajas Tochter nannte Pasternak später „Classooscha“, ein Kosename, der sich aus der Verniedlichung des Wortes „klassisch“ ableitete und den ihre Mutter übernahm, wenn sie Pasternak direkt ansprach.
Pasternak begann Iwinskaja auf altmodische Weise zu umwerben. Beide hatten Familie und daher keinen gemeinsamen Rückzugsort. Für gewöhnlich erschien Pasternak kurz vor Arbeitsschluss in der Redaktion von Nowy Mir und spazierte dann mit Iwinskaja durch die Straßen. Sie unterhielten sich ausführlich, dann sagte er ihr vor ihrem Wohnhaus Lebewohl.
„Ich bin verliebt“, gestand Pasternak einer Bekannten. Wie sich das auf sein Leben auswirken würde, fragte diese. „Aber was ist denn Leben, was ist Leben anderes als Liebe?“, antwortete Pasternak. „Sie ist bezaubernd, so hell, so leuchtend. Und diese goldene Sonne ist in mein Leben gekommen. Das ist so herrlich, so herrlich. Ich habe nicht geglaubt, noch einmal solche Freude zu erleben.“ Alt zu werden war ihm ein Graus, und seine Geburtstage waren ein Anlass zur Trauer. Sie zu feiern erachtete er als unter seiner Würde. Diese unerwartete Liebesgeschichte war ein Elixier, das die Zeit stillstehen ließ.
Bis Anfang April blieb es bei regelmäßigen Spaziergänge und Unterhaltungen, doch dann fuhr Iwinskajas Familie für einen Tag in |74|einen nahe gelegenen Park. „Wie ein jung verheiratetes Paar seine erste Nacht miteinander verbringt, hatten wir unseren ersten gemeinsamen Tag. Ich bügelte seine zerknautschten Hosen. Er war entflammt und beseligt.“ An diesem Tag schrieb Pasternak in einen seiner Gedichtbände die Widmung: „Mein Leben, mein Engel. Ich liebe dich wahrhaft. 4. April 1947.“
Die beginnende Affäre ging – nach mehrfach gebrochenen Versprechen, einander wegen familiärer Schwierigkeiten nicht wiederzusehen – in einige von Schiwagos Gedichte ein:
Hör auf, sei still, heul nicht herum
Mit schiefgezogenem Munde.
In Moskau war diese wunderbar skandalöse Liaison bald in aller Munde, und Pasternaks „Freundinnen“ – die dem Dichter teilweise selbst starke Gefühle entgegenbrachten – waren von Iwinskaja alles andere als angetan. Manche fassten auch später kein Vertrauen zu ihr. Die Schriftstellerin Lydia Tschukowskaja, die mit Iwinskaja bei Nowy Mir arbeitete, sah Iwinskaja und Pasternak eines Abends zusammen, „ihre Gesichter Seite an Seite. Neben seinem natürlichen Gesicht war ihr Make-up ein schrecklicher Anblick.“ Die Literaturwissenschaftlerin Emma Gerstein bezeichnete Iwinskaja als „hübsche, aber schon leicht dahinwelkende Blondine“ und beobachtete, wie sie sich während einer Lesung „hinter einem Schrank versteckt, hastig die Nase puderte“. Doch der junge Dichter Jewgeni Jewtuschenko, der sie bei einer von Pasternaks Lesungen sah, erkannte in ihr „eine Schönheit“.
Sinaida kam im Winter 1948 hinter die Affäre, als sie beim Sauhermachen von Pasternaks Arbeitszimmer eine Nachricht Iwinskajas fand. Zunächst, so schrieb sie, habe sie sich selbst die Schuld daran gegeben. Auch habe sie den Eindruck, dass die Männer im Dorf die alten Frauen verließen und durch jüngere ersetzten. In Moskau sagte Sinaida Iwinskaja ins Gesicht, dass ihre Liebe ihr vollkommen egal sei und sie die Zerstörung ihrer Familie nicht dulden werde. Sie überreichte ihr einen Abschiedsbrief von Pasternak. Iwinskajas Kinder bekamen zufällig mit, wie darüber gesprochen wurde, dass „Mama versucht hat, sich zu vergiften“, wie ihre Tochter später festhielt.
|75|Pasternak schwankte zwischen seiner Familie und seiner neuen Flamme und empfand seine Loyalität zu Sinaida und ihrem gemeinsamen Sohn zunehmend als Belastung. Die Aussicht auf eine zweite Scheidung, eine dritte Heirat und das bevorstehende schmerzhafte Chaos waren wohl mehr, als er ertragen wollte. Das Paar verkroch sich in Hauseingänge, um zu streiten. Wenn Iwinskaja nach einer solchen Auseinandersetzung nach Hause kam, war sie so wütend, dass sie Pasternaks Bild von der Wand nahm. „Wo ist dein Stolz geblieben, Mama?“, fragte ihre Tochter, wenn sie es wieder aufhängte. Iwinskajas Mutter nahm ihre Tochter gemeinsam mit Pasternak ins Gebet, weil er sie nicht heiratete. „Ich liebe Ihre Tochter mehr als mein Leben“, sagte Pasternak, „doch Sie dürfen nicht erwarten, dass unser Leben sich nach außen hin von heute auf morgen ändert.“ Irgendwann schien die Affäre vorbei zu sein. In einem Brief an seine Cousine bekannte Pasternak im August 1949, dass er „erneut eine tiefe Leidenschaft erlebt“ habe, doch, „da mein Leben mit Sina echt ist, mußte ich die erste früher oder später zum Opfer bringen. Merkwürdig, solange mich Zwiespälte, Gewissensbisse und sogar Schreckensvisionen peinigten, ertrug ich alles leicht, und mir erschien sogar als Glück, was mich jetzt, da ich wieder ununterbrochen und reinen Gewissens bei den Meinen bin, in trostlose Schwermut stürzt, nämlich meine Einsamkeit und mein Balancieren auf Messers Schneide in der Literatur, die letztliche Zwecklosigkeit meiner Bemühungen als Schriftsteller, die seltsame Gespaltenheit meines Schicksals ‚hier‘ und ‚dort‘ usw. usf.“ Einmal stellte er sich vor, in trauter Eintracht mit Sinaida, Olga und seiner ersten Frau Jewgenia auf der Veranda seiner Datscha zu sitzen. „Er wollte nie jemandem Kummer bereiten, aber er tat es“, sagte eine Freundin.
1949 hatte Pasternak bereits eine gewisse internationale Berühmtheit erlangt, auch wenn er in Moskau eine literarische Randexistenz führte. Cecil Maurice Bowra, der Oxford Professor of Poetry, hatte Pasternak 1946 für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen, eine Ehre, die ihm 1947 und 1949 erneut zuteil wurde. Bowra hatte darüber hinaus 17 Gedichte Pasternaks in den von ihm herausgegebenen Band A Second Book of Russian Verse aufgenommen, der 1948 in London erschienen war. Eine amerikanische Ausgabe mit Selected Writings Pasternaks wurde 1949 in New York publiziert. Ein führender westlicher |76|Wissenschaftler bezeichnete Pasternak als „größten russischen Dichter“. Im Juli 1959 bat die International Conference of Professors of English den sowjetischen Botschafter in Großbritannien, Pasternak nach Oxford einzuladen. In ihrem Schreiben hieß es: „Es besteht unserer Ansicht überhaupt kein Zweifel daran, dass der angesehenste Literat … in der Sowjetunion gegenwärtig Boris Pasternak ist.“
Die Kreml-Führung, die in einen globalen ideologischen Kampf mit dem Westen verstrickt war, reagierte auf Äußerungen über die sowjetische Kultur, die von außen kamen, höchst empfindlich und setzte alles daran, die intellektuellen Leistungen des Landes hervorzuheben. Gleichzeitig führte die Regierung einen immer unheimlicheren Feldzug gegen „wurzellose Kosmopoliten“, eine Politik, die eine hässliche antisemitische Gesinnung verriet. Immer wieder machten Gerüchte, dass Pasternak von der Geheimpolizei aufgegriffen würde, die Runde; einmal rief Achmatowa aus Leningrad bei ihm an, um sich zu versichern, dass ihm nichts passiert war. Ein Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, der 1949 das Amt eines ranghohen Ermittlers bekleidete, sprach davon, dass es Pläne gegeben habe, Pasternak zu verhaften. Als Stalin darüber informiert wurde, begann er „Himmlische Farbe, Farbe blau“ zu rezitieren, eines von Barataschwilis Gedichten, die Pasternak übersetzt und 1945 in Tiflis vorgetragen hatte. Dann sagte er: „Lasst ihn, er lebt in den Wolken.“
Über Iwinskaja hielt niemand eine schützende Hand; sie war das Bauernopfer, das dazu benutzt werden konnte, Pasternak zu treffen. Nach dem gleichen gnadenlosen Prinzip verfuhr man auch gegenüber Achmatowa, deren Ehemann und Sohn in der zweiten Hälfte des Jahres 1949 nacheinander verhaftet wurden, während sie physisch unangetastet blieb. Am 9. Oktober 1949 stürmte die Geheimpolizei in Iwinskajas Wohnung. Fast ein Dutzend Agenten in Uniform durchsuchten ihre mit Zigarettenqualm geschwängerten Räume, beschlagnahmten jedes Buch, jeden Brief, jedes Dokument und jeden Papierfetzen, auf dem der Name Pasternak stand. Iwinskaja wurde unmittelbar darauf zum Hauptquartier der Geheimpolizei gebracht, in die furchterregende Lubjanka, wo man sie einer Leibesvisitation unterzog, ihr Schmuck und BH abnahm und sie in eine dunkle, fensterlose Einzelzelle sperrte. Drei Tage lang ließ man sie schmoren, dann wurde sie mit 14 anderen weiblichen Gefangenen |77|zusammengelegt. Die überfüllte Zelle war grell beleuchtet, damit die Frauen nicht schlafen konnten und die Orientierung verloren, ehe sie zu nächtlichen Verhören abgeholt wurden. „Die Zeit schien still zu stehen, und die Welt brach über ihnen zusammen. Sie wußten nicht mehr, wessen man sie beschuldigte, hörten auf, sich unschuldig zu fühlen, wußten nicht mehr, was sie zugegeben hatten, wen sie zusammen mit sich selbst vernichteten. Sie unterschrieben die unsinnigsten Protokolle …“
Unter Iwinskajas Zellengenossinnen befand sich auch Trotzkis 26 Jahre alte Enkelin Alexandra, die gerade ihr Geologiestudium abgeschlossen hatte und beschuldigt wurde, ein verbotenes Gedicht abgeschrieben zu haben. Noch lange nach Alexandras Entlassung erinnerte Iwinskaja sich an ihr verzweifeltes Weinen, als man sie wegbrachte, um sie nach Kasachstan in ein Lager zu schicken. Eine andere Mitgefangene, mit der Iwinskaja sich anfreundete, war Ärztin im Kreml-Krankenhaus gewesen und hatte eine Feier besucht, auf der Stalins Unsterblichkeit angezweifelt worden war.
Zwei Wochen nach ihrer Verhaftung wurde Iwinskaja aus ihrer Zelle geholt und über endlos lange Flure an verschlossenen Türen vorbeigeführt, aus denen dumpfe Schmerzenzschreie drangen. Man setzte sie in eine Art Drehschrank, und als die Tür aufging, befand sie sich in einem Vorzimmer. Die anwesenden Agenten verfielen bei ihrem Anblick in Schweigen und traten zur Seite, als sie in ein großes Büro geführt wurde. Hinter einem mit grünem Tuch bedeckten Schreibtisch saß Stalins Minister für Staatssicherheit, Wiktor Abakumow, ein gefährlicher Scherge des „Führers“. Während des Krieges hatte Abakumow die SMERSCH (Smert Schpionam: „Tod den Spionen“) geleitet. Diese militärische Abwehr, die direkt hinter den Frontlinien Blockaden errichtete, vereitelte Rückzugsversuche sowjetischer Soldaten durch gezielte Tötungen. Auch Deserteure brachte sie zur Strecke, und deutsche Kriegsgefangene wurden von ihr brutal verhört. Abakumow war bekannt dafür, dass er, bevor er seine Opfer quälte, zum Schutz seines glänzenden Bürofußbodens einen blutbefleckten Teppich ausrollte.
„Nun, wie verhält sich das? Ist Boris Ihrer Meinung nach antisowjetisch eingestellt oder nicht?“, begann Abakumow. Er trug einen Uniformrock, der bis zu seinem Stiernacken zugeknöpft war.
|78|Ehe Iwinskaja antworten konnte, fuhr Abakumow fort: „Warum sind Sie denn so erbost? Sie fürchten für ihn? Geben Sie’s nur zu. Wir wissen alles. Was fürchten Sie?“
Iwinskaja hatte noch nicht begriffen, wer sie da verhörte, und antwortete unbesonnener, als es die Begegnung mit diesem Monster eigentlich erfordert hätte.
„Um einen geliebten Menschen ist man immer in Sorge. … Was Ihre Frage betrifft, ob Boris Leonidowitsch antisowjetisch eingestellt ist, muß ich Ihnen sagen, daß Ihre Palette viel zu wenig Farben hat: nur schwarz und weiß. Leider fehlen die Zwischentöne.“
Die Bücher und Materialien, die bei der Durchsuchung ihrer Wohnung beschlagnahmt worden waren, stapelten sich auf Abakumows Schreibtisch: laut Aufzeichnungen des KGB Gedichte von Pasternak, Achmatowa und Lydia Tschukowskaja (meiner lieben O. W Iwinskaja), ein Tagebuch (30 Seiten), verschiedene Gedichte (460 Seiten), ein „pornografisches“ Gedicht, Briefe (157 Stück), Fotos von Iwinskaja und Gedichte, die sie selbst geschrieben hatte. Unter den Sachen befand sich auch der kleine rote Gedichtband, in dem Pasternak Iwinskaja seine Liebe erklärt hatte, nachdem sie sich zum ersten Mal geliebt hatten.
„Ich rate Ihnen, gründlich über den Roman von Pasternak, der jetzt die Runde macht, nachzudenken. Ausgerechnet jetzt, in einer Zeit, in der wir von so viel Übelwollenden und Feinden umgeben sind“, sagte Abakumow. „Der antisowjetische Inhalt ist Ihnen ja wohl bekannt?“
Iwinskaja protestierte und begann den Inhalt des fertigen Romanteils wiederzugeben, wurde aber unterbrochen.
„Sie werden genug Zeit bekommen, um über diese Fragen nachzudenken und sie zu beantworten. Persönlich rate ich Ihnen, sich klar zu machen, daß wir alles wissen und daß von Ihrer Aufrichtigkeit sowohl Ihr wie auch Pasternaks Schicksal abhängt. Ich hoffe, wenn wir uns das nächste Mal sehen, werden Sie nicht versuchen, Pasternaks Antisowjetismus abzustreiten.“
Dann rief Abakumow die Wache: „Abführen.“
Das nächste Verhör wurde von Anatoli Semjonow, einem viel jüngeren Beamten, durchgeführt. Auch er verzichtete auf die |79|Anwendung physischer Gewalt. Er beschuldigte Iwinskaja, gemeinsam mit Pasternak ins Ausland fliehen zu wollen. Pasternak sei ein britischer Spion, von anglophiler Gesinnung und tafele mit Engländern und Amerikanern, ernähre sich aber von „russischem Speck“. Die Tatsache, dass ein Teil von Pasternaks Familie in England lebte und er sich 1946 mehrmals mit dem britischen Diplomaten Isaiah Berlin getroffen hatte, schien den Inquisitoren des KGB Beweis genug für seine Illoyalität. Fast jede Nacht wurde Iwinskaja verhört. Mit der Zeit gewöhnte sie sich daran.
„Wie würden Sie Pasternaks politische Haltung beschreiben? Was wissen Sie über sein feindseliges Werk, seine pro-englische Haltung, seine Absicht, Landesverrat zu begehen?“
„Er gehört nicht zu der Sorte Mensch, die eine antisowjetische Einstellung haben. Er hegt keinerlei Absicht, Verrat zu begehen. Er hat sein Land immer geliebt.“
„Aber in Ihrer Wohnung wurde eine englische Ausgabe von Pasternaks Werken gefunden. Wie ist es dahin gekommen?“
„Es stimmt, dieses Buch habe ich von Pasternak bekommen. Es ist eine Monografie über seinen Vater, den Maler, und wurde in London veröffentlicht.“
„Wie ist es in Pasternaks Hände gelangt?“
„Simonow [der gefeierte Kriegsdichter und Chefredakteur von Nowy Mir] hat es ihm von einer Auslandsreise mitgebracht.“
„Was wissen Sie noch über Pasternaks Verbindung mit England?“
„Ich glaube, einmal hat er ein Paket von seinen Schwestern bekommen, die dort leben.“
„Wie kam Ihre Beziehung zu Pasternak zustande? Er ist immerhin viel älter als Sie.“
„Durch Liebe.“
„Nein, Sie haben die gleichen politischen Ansichten und verräterischen Absichten. Das hat Sie aneinander gebunden.“
„Wir hatten niemals verräterische Absichten. Ich habe ihn als Mann geliebt, und ich liebe ihn immer noch.“
Iwinskaja wurde darüber hinaus beschuldigt, schlecht über Surkow gesprochen zu haben, obwohl der Name des regimetreuen Dichters in der Mitschrift des Verhörs – aus der zweifellos einige Drohungen des KGB-Beamten gelöscht wurden – falsch geschrieben ist.
|80|„Zeugenaussagen belegen, dass Sie die Werke Pasternaks im Vergleich zu dem Werk patriotischer Schriftsteller wie Surikow und Simonow systematisch in den Himmel gehoben haben, obwohl Pasternaks künstlerische Methoden zur Schilderung der sowjetischen Realität falsch sind.“
„Es ist wahr, dass ich mit Hochachtung von ihm spreche und der Meinung bin, alle sowjetischen Schriftsteller sollten sich ein Beispiel an ihm nehmen. Sein Werk ist ein großer Gewinn für die sowjetische Literatur, und seine künstlerischen Methoden sind nicht falsch, sondern subjektiv.“
„Sie haben behauptet, das Surikow keinerlei literarische Kompetenz hat und seine Lyrik nur gedruckt wird, weil sie ein Loblied auf die Partei singt.“
„Ja, meiner Ansicht nach kompromittieren diese mittelmäßigen Gedichte die Idee. Doch Simonow habe ich immer als talentiert erachtet.“
Iwanskaja wurde angewiesen, eine Zusammenfassung von Doktor Schiwago zu schreiben, und sie begann das fiktive Leben des Arztes und Intellektuellen Schiwago in den Jahren zwischen den Revolutionen von 1905 und 1917 zu schildern. Ihr Vernehmungsbeamter spottete: „Sie müssen klipp und klar zugeben, daß Sie dieses Produkt gelesen haben und daß es eine Verleumdung der sowjetischen Wirklichkeit darstellt.“ Auch das Gedicht „Magdalena“ und die Möglichkeit, dass es sich auf Iwinskaja beziehen könnte, irritierte Semjonow: „Auf welche Epoche bezieht sich denn dieses Gedicht? Und außerdem, warum haben Sie Pasternak nie gesagt, daß sie eine sowjetische Frau sind und keine ‚Magdalena‘, daß es einfach ungehörig ist, so einen Titel über ein Gedicht zu schreiben, das von einer Geliebten handelt?“ In einem anderen nächtlichen Verhör zweifelte er an ihrer Liebesbeziehung als solcher: „Was habe Sie denn schon miteinander gemein? … Ich glaube ganz einfach nicht, daß Sie, eine russische Frau, einen alten Juden wirklich lieben können“. Als es während einer Sitzung draußen einmal laut polterte, lächelte Semjonow: „Haben Sie gehört? Das ist Pasternak, der Einlaß verlangt! Machen Sie sich nichts draus, der hat bald lange genug geklopft!“
|81|Als Pasternak von Iwinskajas Verhaftung erfuhr, rief er eine gemeinsame Freundin an und bat sie, zur Metrostation „Palast der Sowjets“ zu kommen. Sie fand ihn weinend auf einer Bank sitzen. „Nun ist alles zu Ende. Man hat sie mir genommen. Ich werde sie nie wiedersehen. Das ist wie der Tod. Schlimmer noch.“
Nach mehreren Wochen Haft war nicht mehr zu übersehen, dass Iwinskaja schwanger war. Die Haftbedingungen wurden ein wenig erleichtert. Sie durfte länger schlafen, und zu ihrem Haferbrei bekam sie Salat und Brot. Die strapaziösen Verhöre gingen weiter, doch Semjonow hatte nichts davon – weder brach Iwinskaja zusammen, noch unterschrieb sie irgendetwas, das Pasternak hätte schaden können.
Wahrscheinlich war sie im Spätsommer schwanger geworden, als sie sich nach langer „Funkstille“ wieder mit Pasternak versöhnt hatte. Dieser schrieb dazu das Gedicht „Herbst“:
Verwirrt wirfst du dein Kleid zu Boden,
Wie seine Blätter läßt der Hain,
Wenn du in meine Arme torkelst,
Im Schlafgewand, so seidenweich.
(Achmatowa lästerte über Liebesgedichte wie diese: „Das über den Schlafrock mit den Bommeln, wie sie in seine Arme fällt, das ist über Olga, ich kann es nicht ausstehen. Mit 60 sollte man über so etwas nicht mehr schreiben.“)
Iwinskaja wurde schließlich mitgeteilt, sie solle sich auf ein Treffen mit ihrem Geliebten vorbereiten. Sie war hin und her gerissen zwischen der Angst, dass er in irgendeiner Nachbarzelle misshandelt wurde, und der Freude, dass sie ein paar Worte mit ihm würde wechseln, ihn vielleicht sogar würde umarmen können. Für Iwinskaja wurde ein Passierschein ausgestellt, man setzte sie in einen Wagen mit verdunkelten Fenstern und fuhr sie zu einem anderen Gebäude der Geheimpolizei am Stadtrand. Dort wurde sie in einen Keller geführt und durch eine Metalltür gestoßen, die sich laut knallend hinter ihr schloss. Es war kaum etwas zu sehen. Ein sonderbarer Geruch lag in der Luft. Auf dem gekalkten Boden standen |82|Wasserlachen. Als Iwinskajas Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah sie eine Reihe von Tischen, auf denen mit grauen Planen bedeckte Körper lagen. „Der spezifisch süßliche Geruch einer Leichenhalle, Leichen … war einer davon mein Liebster?“
Iwinskaja blieb eine Weile in der Leichenhalle eingeschlossen, doch auch dieser Versuch, sie einzuschüchtern oder zur Verzweiflung zu treiben, fruchtete nichts: „[A]uf einmal fühlte ich mich ganz ruhig. Als habe Gott es mir eingegeben, wußte ich, daß dies alles nichts weiter war als ein diabolisches Theater, inszeniert, um mich ‚weich zu machen‘, daß aber Borja hier nicht war.“
Zitternd vor Kälte wurde sie zu ihrem Vernehmungsbeamten geleitet. „Entschuldigen Sie, wir haben Sie versehentlich in den falschen Raum gebracht“, sagte Semjonow. „Kleiner Irrtum des Begleitsoldaten. Machen Sie sich zurecht, man erwartet Sie.“
Es folgte ein weiteres Ritual der sowjetischen Verhörpraxis: die inszenierte Konfrontation mit einem Zeugen, der – sehr wahrscheinlich unter der Folter – instruiert worden war, Beweise für Iwinskajas Verrat auf den Tisch zu legen. Es wurde ein betagter Mann in den Raum geführt: Sergei Nikiforow, der Englischlehrer von Iwinskajas Tochter. Er war kurz vor ihr verhaftet worden und wirkte teilnahmslos und zerzaust.
„Sie bestätigen Ihre gestrige Aussage, daß Sie Zeuge von antisowjetischen Gesprächen zwischen Pasternak und Iwinskaja gewesen sind?“
„Ja, das bestätige ich, ich war Zeuge“, sagte Nikiforow.
Iwinskaja begann zu protestieren, wurde aber zum Schweigen verdonnert.
„Berichten Sie, was Iwinskaja Ihnen über Ihre Pläne, mit Pasternak zu emigrieren, erzählt hat, davon, daß sie einen Piloten überredet hat, sie im Flugzeug mitzunehmen. Stimmt das?“
„Ja, so war es.“
„Schämen Sie sich denn nicht, Sergej Nikolajewitsch?“, schrie Iwinskaja.
„Aber Sie haben das doch selbst gestanden, Olga Wsewolodowna“, antwortete er.
Iwinskaja wurde klar, dass Nikiforow mit der Behauptung, sie habe bereits gestanden, zu der Falschaussage verleitet worden |83|war. Jahre später schrieb er ihr: „Ich habe gezögert, ob ich Ihnen schreiben darf? Schließlich nötigte mich mein Gewissen als anständiger Mensch, über jene Situation Rechenschaft abzulegen, in die ich Sie gegen meinen Willen gebracht habe, gezwungen durch die Umstände, glauben Sie mir. Ich weiß, Sie kennen die damaligen Umstände und haben sie in gewissem Maße an sich selbst erfahren. Aber Männer wurden von ihnen härter und gewaltsamer betroffen als Frauen. Vor meiner Gegenüberstellung mit Ihnen hatte ich mich von zwei Dokumenten, obwohl von mir unterschrieben, distanziert.
Aber wieviele Menschen bringen es fertig, kühn und aufrecht zum Schafott zu gehen. Zu meinem Leidwesen gehöre ich nicht dazu, denn ich bin nicht allein, ich muß an meine Frau denken.“
Iwinskaja wurde zurück in die Lubjanka gebracht und brach dort zusammen – ihrer Meinung nach infolge des grausamen Schmierentheaters mit der Leichenhalle und der erschöpfenden Konfrontation mit Nikiforow. Sie sei plötzlich von Schmerzen überfallen und ins Gefängniskrankenhaus gebracht worden, schrieb sie. „Dort nahm man mir mein und Borjas Kind, ohne ihm die Chance zu geben, geboren zu werden.“ Sie war im fünften Monat gewesen.
Laut Iwinskaja erfuhr ihre Familie durch eine ehemalige Zellengenossin von ihrer Schwangerschaft, und diese erzählte Pasternak davon. Die Nachricht von der Fehlgeburt hingegen drang nicht nach draußen. Im Frühling 1950 sollte Pasternak sich auf Befehl der Geheimpolizei im Gefängnis melden. Er ging davon aus, dass man ihm das Baby übergeben würde.
„Ich habe Sina gesagt, daß wir es versorgen müssen, solange Olja nicht da ist“, sagte er zu einer Freundin. Seine Frau habe ihm daraufhin eine schreckliche Szene gemacht.
In der Lubjanka händigte man Pasternak ein Bündel Bücher und Briefe aus. Er weigerte sich zunächst, sie anzunehmen, und beschwerte sich schriftlich bei Abakumow. Es half nichts. Am 5. Juli 1950 wurde Iwinskaja „wegen enger Verbindung zu Personen, die unter Spionageverdacht stehen“, zu fünf Jahren Straflager verurteilt.