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ZWEITER HINWEIS

51° 30' NB, 4° 47' OL PATER MICHEL VANHEYFTE DER FRÜHE SOMMER 1963

Beim ersten Blick auf die Koordinaten fühlte sich Thomas in der Zeit zurückversetzt und er war wieder der Junge in der Grundschule in Nijmegen. Er sah sich selbst in der hintersten Bank in einem muffig riechenden Klassenzimmer sitzen. Rechts an der Wand die Weltkarte in einem Format für den Unterricht, befestigt an hölzernen Stöcken und an einer Kordel hängend, links von ihm ein niedriger Schrank mit Atlanten und dem großen Globus darauf, woran er sich nie sattsehen konnte. Er hörte wieder die Stimme des Lehrers Kerstens während der Erdkundestunden mit seinen begeisterten Geschichten über entfernte Länder und Kulturen mit nicht aussprechbaren Namen, von denen er nachts träumte, wobei er die Abenteuer erneut erlebte. Einige dieser Geschichten hatte er nachgespielt, als Kapitän auf der Batavia Kurs Richtung Java setzend.

Begriffe wie Nord- und Südhalbkugel, nördliche Breite und östliche Länge, er hatte es alles wieder deutlich im Kopf. Maßlos neugierig, wohin dieser zweite Hinweis führte, suchte er den angegebenen Ort auf. Es brauchte nicht nach Java zu gehen, aber etwas weiter weg als Zeeuws-Vlaanderen dürfte es seiner Meinung nach schon sein.

Er kam in Meersel-Dreef aus, dem nördlichsten Dorf von Belgien. 'Ein kleiner Ort im Süden von Breda und direkt über der Grenze. Mit seiner Kapelle, Mariapark und Grotte das Lourdes der Noorderkempen', so eine der anpreisenden Websites.

Er hatte nicht die geringste Ahnung, was er hier zu suchen hatte und schon gar nicht, was dies mit ihm und der möglichen Erbschaft zu tun haben könnte. Mehr noch, er begann ernsthaft zu zweifeln, ob er wirklich die richtigen Koordinaten verwendet hatte. Diese waren groß und deutlich gedruckt, es konnte also kein Missverständnis geben. Er schaute noch einmal nach, aber er landete erneut in Meersel-Dreef, dies musste somit der Ort für seinen nächsten Schritt sein. Er wollte sein Glück versuchen und dorthin gehen, um zu sehen, welche Rolle der im Hinweis benannte Pater spielte.

Mit dem Auto würde die Strecke von Den Haag nach Meersel-Dreef, so der Routenplaner, etwas mehr als eine Stunde dauern. Zumindest, falls auf diesem verkehrsreichen Stück kein Stau war. Aber wie viel Zeit würde er benötigen, um diesen Hinweis zu entwirren? Er hatte keine Vorstellung, was auf ihn zukommen könnte, oder besser gesagt: Wer. Angenommen, er benötigte mehr als einen Tag. Vorsorglich packte er seinen Koffer.

Der Koffer lag schon eine Zeitlang offen auf dem Bett, halb gefüllt mit sauberer Kleidung und Toilettenartikeln. Um sicher zu gehen, warf er noch eine extra Garnitur Unterwäsche hinein und schmetterte diesen, irritiert durch seine eigene Trödelei, mit einem Schlag zu. Kleidung für vier Tage, er war wohl verrückt, aber man konnte nie wissen. Nun noch ein Hotel buchen und sich morgen auf den Weg machen.

In Meersel-Dreef selbst gab es kein Hotel. Er landete daher nach einigem Suchen in Hoogstraten, nicht weit entfernt davon.

„Wie lange gedachten der Herr zu bleiben?“ war natürlich wie erwartet die Frage.

Mit seiner vagen Antwort: „Ein paar Tage“, kam er vorläufig davon.

Das Hotel erfüllte mehr als seine Erwartungen. Ruhig in einem Wald gelegen und nicht weit weg von der Durchgangsstraße.

Nach dem Mittagessen fuhr er nach Meersel-Dreef. Er fand einen Parkplatz im Zentrum und hielt danach auf der Straße den Erstbesten an, um nach Pater Michel Vanheyfte zu fragen. Der Mann schaute ihn dösig an, zuckte mit den Achseln und das war alles. Offensichtlich sorgte der Name nicht für so etwas wie Wiedererkennung. Dies ließ Thomas das Schlimmste befürchten. Müsste er schon in der zweiten Runde die Segel streichen? Es wurde auch nicht besser, als eine junge Frau, die schon die Tür zur Bäckerei in der Hand hatte, ihn auf seine Frage hin genauso glasig anschaute und sagte, dass sie noch nie von dem Mann gehört hätte. Sie verwies ihn an den Pastor der Klosterkirche, der Gemeindekirche des Dorfes. Vielleicht konnte ihm dieser mehr erzählen.

Als Thomas den Namen nannte, nickte der Pfarrer und lud ihn nach drinnen ein. „Ich bin selbst erst ein paar Jahre in dieser Pfarrei, der Hinweis auf den frühen Sommer von 1963 sagt mir daher nichts“, sagte der Pastor. Thomas' Hoffnung verwandelte sich daher in Enttäuschung. Vielleicht verlief seine Spur hier doch im Nichts.

Der Pfarrer, der offenbar ein langsamer Erzähler war, nahm den Faden wieder auf: „Aber dies wird Pater Michel Vanheyfte wohl etwas sagen, denn dieser ist in jenem Jahr direkt nach seiner Priesterweihe als junger Kaplan hier in Meersel-Dreef eingesetzt worden.“ Thomas entspannte sich. Mit Recht, denn der Pastor hatte noch mehr zu erzählen: „Pater Michel ist kürzlich achtzig Jahre alt geworden und ist schon seit Jahren emeritiert. Er hat zuerst Ruhe in einem Haus der Kapuziner in Brugge gesucht und anschließend noch in Herentals. Mittlerweile wohnt er schon einige Jahre im Kapuzinerkloster des Dorfes. Zurück an dem Ort, an dem er sein Leben als Priester begann.“ Zum Abschluss sagte der Pfarrer noch: „Ich weiß nur, dass Pater Michel immer noch gesund ist und auch in Anbetracht seines Alters noch klar im Kopf. Zumindest war dies in der letzten Woche noch so, als ich ihn besucht habe.“

Nach einem herzlichen Abschied reiste Thomas guten Mutes in Richtung Kloster ab, auf dem Weg zu dem Pater.

Thomas blieb vier Tage in Belgien. Ein Tag oder höchstens zwei Tage hätten schon genügt, wäre der Pater nicht so ausführlich und weitschweifig gewesen. Er begab sich ständig auf Nebenschauplätze, wodurch Thomas mit Informationen überschüttet wurde. Aber das lag wohl auch an ihm selbst, musste Thomas zugeben, denn alleine nach 'dem frühen Sommer von 1963' zu fragen gab dem Pater allen Raum, um groß und breit auszuholen. Er fügte sich seinem Schicksal, denn dieser Pater war seine einzige Chance. Schließlich waren alle anderen Personen, die in dieser Zeit in der Pfarrei von Meersel-Dreef eine Rolle spielten, zwischenzeitlich tot. Das Benennen dieser bewussten Zeit brachte einen bekümmerten Zug in das Gesicht des ansonsten gut gelaunten Paters.

„Ich habe als junger Kaplan kurz zuvor in Meersel-Dreef begonnen, es aber dort nicht lange ausgehalten.“

Ein ziemlich einschneidendes Ereignis mit einem jungen Mädchen aus den Niederlanden, das bei seiner Seelsorge anvertrauten Gemeindemitgliedern wohnte, erwies sich dafür als die Ursache. Deshalb hatte es eine Reiberei zwischen ihm und dem Pastor gegeben. Der Pastor hatte ihn in der fraglichen Sache außen vor gelassen und er hatte den Schluss gezogen, dass er seine Aufgabe als Hüter der Herde nicht gebührenderweise ausüben konnte, wenn er nicht wissen durfte, was da los war. Das war der Anlass für seinen schnellen Wechsel in eine andere Pfarrei gewesen, in der er mit viel Freude seine Priesterlaufbahn fortgesetzt hatte. „Also“, sagte der Pater entschuldigend, „alles weiß ich auch nicht und ob dir das was ich weiß genügt, das weiß ich auch nicht. Aber wenn du mir zuhören willst, werde ich dir gerne alles das erzählen, was ich tatsächlich über diese Zeit in der Pfarrei Meersel-Dreef weiß.“

Thomas lauschte atemlos und unterbrach ihn kaum. Mit seinen ellenlangen Geschichten gab der Pater eine ganze Menge Einblicke in die Ereignisse des frühen Sommers 1963 und Stück für Stück half ihm dieses auf die Fährte bei seiner Suche zum zweiten Hinweis.

Mit einer Mappe voller Aufzeichnungen kam er wieder nach Hause. Übrigens nicht genug, um alle seine Fragen zu beantworten.

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