Читать книгу ROOTS - Ein Mann auf der Suche nach seinen Wurzeln - Peter Frantz - Страница 12
ОглавлениеDRITTER HINWEIS
SALFORD ONTARIO KANADA THE TREMBLAY FARMYARD16 SOMMER 1963
In der linken Hand einen weißen Briefumschlag, in der rechten Hand einen Brieföffner, saß Thomas bewegungslos an seinem Schreibtisch. Wie in Stein gemeißelt starrte er auf den Umschlag, der das Geheimnis des dritten Hinweises enthüllen sollte. Einige Minuten saß er schon da, aber er konnte sich nicht dazu durchringen den Brief zu öffnen.
Es beschlich ihn der leidige Gedanke, dass dieser wieder hinter den Erwartungen zurückbleiben würde. So wie ihn die ersten zwei Hinweise enttäuscht hatten. Voller Zuversicht hatte er seine Suche begonnen, ohne irgendeine Idee, wohin dies führte. Er hätte nun doch schon ein beträchtliches Stück seines Weges auf der Fährte des Erblassers zurückgelegt haben müssen. Aber seine ersten Entdeckungen gaben ihm dieses Gefühl nicht. Zeeuws-Vlaanderen und Meersel-Dreef bedeuteten zwar keine weiten Reisen und hatten ihn nicht all zu viel Zeit gekostet, sie hatten jedoch bei Weitem weniger ergeben als er gehofft hatte.
Die Botschaft am Ende der beiden Spurensuchen war deutlich gewesen. Niemand hatte David jemals wiedergesehen oder etwas von Bernadette gehört. Daher konnte er nur feststellen, dass beide Spuren in einer Sackgasse endeten.
Zwanzig Prozent seiner Suche hatte er hinter sich und er war noch nicht weiter als am Anfang. Er konnte die Zielsetzung der ersten beiden Aufgaben nur erraten. Vielleicht waren diese als Aufwärmübung gedacht, um in Stimmung zu kommen, und bestenfalls brauchbar als Hintergrundinformation? Oder vielleicht eher, um ihn auf eine falsche Fährte zu bringen, aber warum?
Aus Furcht vor einer erneuten Enttäuschung zögerte er nach wie vor. Er hoffte so, dass es ihn dieses Mal weiterbringen würde. Die 'Schulpause' war, was ihn anbetraf, vorbei und es wurde Zeit für ernsthaftere Arbeit. Aber um damit beginnen zu können, sollte er doch wirklich den Umschlag öffnen und sehen, was es ihm brachte.
Er wollte es riskieren! Etwas anderes blieb ihm schließlich nicht übrig? Im äußersten Fall konnte er immer noch einen Schlusspunkt hinter das Abenteuer setzen und mitteilen, dass er von der Erbschaft Abstand nahm. Aber dafür war es jetzt doch noch zu früh, oder? Mit einer heftigen Bewegung schlitzte er darum den Umschlag in einem Zug auf und verschlang den dritten kurzen Hinweis mit gespanntem Blick.
Er war begeistert, das war genau das, was er meinte. Es war etwas anderes als ein Besuch in einem Pflegeheim an der Grenze zu Belgien oder in einem Kloster an der Grenze zu den Niederlanden. Die Spur führte nach Kanada! Welche Überraschung! Er war dort noch niemals gewesen, obwohl es von vielen niederländischen Bauern als das gelobte Land angesehen wurde, denn die dürftigen Preise und die einengenden Vorschriften im eigenen Land waren sie mehr als leid.
‘Kanada, es ist ein ganzes Stück weit weg, aber mehr als jede Mühe wert’, hatten Kollegen gesagt, die dort auf Dienstreise gewesen waren, an der er wegen der Erkrankung seiner Frau nicht teilnehmen konnte. Ihre begeisterten Berichte konnte er jetzt selbst nachvollziehen. Seine Feststimmung dauerte jedoch nur kurz, denn er vermisste einen Anknüpfungspunkt. Der einzige Zusammenhang, den er sah, könnte mit David bestehen, obwohl das weit hergeholt war, denn dieser war nach Amerika gereist und hier wurde Kanada genannt. Wie dem auch sei, er würde es schon sehen. Es kam ihm in jedem Fall ein ganzes Stück herausfordernder vor als die Polder oder Meersel-Dreef.
Kanada, selbst blind könnte er es auf der Weltkarte zeigen. Was dies anbetraf, trug der Unterricht bei Lehrer Kerstens nach wie vor Früchte. Genauso wie er noch in der Lage war abzuspulen, dass Ontario eine der zehn Provinzen des Landes war und Toronto eine der größten Städte.
Aber von Salford hatte er noch nie gehört. Über das Internet stellte sich heraus, dass es in der Welt mehrere Orte mit diesem Namen gab, wovon – um die Verwirrung nicht zu groß zu machen – glücklicherweise nur einer im kanadischen Ontario lag. Auf den globalen Übersichtskarten konnte man ihn nicht finden, also musste es ein kleinerer Ort sein. Das stimmte, der Name Dorf war noch zu viel Ehre. Es war mehr ein Weiler oder vielleicht musste er es eher einen Flecken nennen. Was sollte er dort zu suchen haben, überlegte er. Sein begeistertes Gefühl verschwand wieder so schnell, wie es gekommen war. Hätte es sich nun um ‘The Dhondt Farm‘ oder ‘The Quaak Farm‘ gehandelt, ja dann hätte er es verstanden. Aber ‘The Tremblay Farmyard‘ in einem Kaff am anderen Ende der Welt, es würde ihn nicht verwundern, wenn der Erblasser hier wieder einen Haken schlagen würde.
'Tremblay' hörte sich nicht niederländisch an, eher französisch, auch da sah er keine Verbindung zu David oder Bernadette. Der einzige winzige Berührungspunkt bestand immerhin darin, dass sein Opa, sein Vater und auch er selbst Landwirtschaft studiert hatten. Und dieser Tremblay wohnte auf einem Bauernhof. Das konnte das verbindende Thema sein, in jedem Fall eine Sache, die sie gemeinsam hatten. Wer weiß, was sonst noch alles.
Er hatte keine Lust auf Zwischenstopps, also buchte er den erstbesten verfügbaren durchgehenden Flug von Amsterdam nach Toronto mit Rückflug nach einer Woche. Die Zeit, die er vor Ort war, musste ausreichend sein, denn was sollte ihm jemand in sieben Tagen nicht alles erzählen können. Und wenn sein Vorgefühl ihn nicht täuschte, dann war ein Tag möglicherweise schon genug. Drei Tage später bestieg er mit Sack und Pack einen Frühzug in Den Haag und stand um halb sieben in Schiphol, bereit für den geplanten Start um viertel vor zehn nach Toronto.
Nach einem Flug von rund acht Stunden kam er am überfüllten Flughafen von Toronto an, froh, dass dieser Teil der Reise geschafft war. Das Nichtstun, hoch in der Luft gefesselt an einen Flugzeugsitz, hatte zu viel Grübelei geführt. War es wirklich vernünftig die Spurensuche fortzusetzen? Was würde er in Salford vorfinden? Würden die Menschen wirklich begreifen, was seine Absicht war?
Der Übergang von der erzwungenen Ruhe im Flugzeug in das Gedränge im Flughafen war groß. Aber er hatte zumindest etwas zu tun und dies stoppte das Gedankenkarussell in seinem Kopf. Dank der Zeitverschiebung war seine Ankunft etwa mittags ein prima Zeitpunkt. Konnte er doch in aller Ruhe auf sein Gepäck warten, ein Auto leihen, etwas essen und danach Richtung Salford fahren, wo er im Laufe des Nachmittags ankommen konnte. Und dann sah er schon weiter. Endlich etwas zu tun!
'The Tremblay Farmyard' war nicht schwer zu finden. Der Text auf einem großen glattgehobelten Brett über dem Zugang zum Hof war nicht zu übersehen. Er hatte sein Ziel erreicht und dies erleichterte ihn. Das Schild mit den Namen der Bewohner – Phil und Shannan Johnson – machte dies unmittelbar wieder zunichte. Kein Tremblay, also was tat er hier eigentlich? Seine erste Neigung war zurückzufahren, aber dies wurde durch einen langen, mageren Mann verhindert, der vom Geräusch des Autos angelockt wurde und ihn mit einem Winken begrüßte. Thomas erzählte, weshalb er kam und sah an Phils Gesicht, dass diesem die Geschichte unbekannt war.
„Aber vielleicht sagt es meiner Frau Shannan etwas, da es aus der Zeit vor unserer Hochzeit ist“, sagte er Hoffnung weckend, „es kann sein, dass sie dir etwas mehr erzählen kann. Ich frage sie einmal.“
Er stiefelte los und je länger er wegblieb, desto mehr fürchtete Thomas, dass er wieder unverrichteter Dinge nach Hause müsste. Nach ein paar Minuten war Phil mit der Antwort zurück, dass sie dies vielleicht konnte, aber nicht sofort. Sie hatten noch zu viel Arbeit auf der Farm zu erledigen.
„Komm heute Abend vorbei“, bat er ihn, „dann könnt ihr darüber sprechen.“
„Das ist großartig“, sagte Thomas und fuhr weg.
An drei Abenden besuchte er Phil und Shannan, die, wie sich herausstellte, eine Tremblay war, 1947 auf der Tremblay Farm geboren und mittlerweile siebzig Jahre alt. Sobald deutlich wurde, warum Thomas zu ihnen gekommen war, erzählte sie das, woran sie sich erinnern konnte. Es war zwar nicht so, dass sie Dinge verschwieg, aber wirklich befriedigend war es für Thomas nicht. Obwohl sie eine ganze Menge Fakten aus der Versenkung holen konnte, die für seine Spurensuche von Belang waren, stellte dies nur einen Teil der Geschichte dar, die er verfolgte. Über die Fortsetzung und den möglichen Ausgang konnte sie nichts mitteilen.
Sie war damals schnell aus dem Haus gegangen, verheiratet mit ihrem ersten Mann – nicht Phil, dieser war ihre zweiter Mann – und aus Salford weggezogen. Sie hatte diesen Gast aus den Niederlanden nur kurz während seines Aufenthaltes bei ihren Eltern miterlebt, aber wo er anschließend gelandet ist und was aus ihm wurde, nachdem er bei ihnen weggegangen war, das wusste sie nicht. Sie hatte darüber niemals mehr etwas gehört.
Eine Woche später saß Thomas wieder im Flugzeug, nun auf dem Weg zurück nach Hause. Während der Stunden in der Luft gingen seine Gedanken ruhelos zu den Ereignissen der letzten Tage.
Dass seine Reise nach Kanada etwas mit David zu tun haben sollte, hatte er nicht erwartet, daher war es sicherlich eine Überraschung, dass er bei 'The Tremblay Farmyard' dessen Spur tatsächlich wiedergefunden hatte. Diese versandete also auf keinen Fall, was ihn zuversichtlich machte, dass er sich doch in der richtigen Richtung bewegte.
Aber vielleicht war dies auch zu positiv ausgedrückt. Doch, es war eine Enttäuschung gewesen, dass ihm Shannan nur ein kleines Stückchen hatte weiterhelfen können. Nun, vielleicht sah er dies auch wieder einmal zu schwarz, denn es hatte ihn zumindest etwas weitergebracht.
Trotzdem konnte er es als kleinen Rückschlag bezeichnen, denn ob er jetzt gut lag, das müsste sich erst noch zeigen. Faktisch hatte er noch nichts, er musste schon abwarten, ob und wie die Spur danach weitergehen würde.
Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass es sich beim nächsten Hinweis ohne Zweifel zum Guten wenden würde. Er erwartete, dass die Geschichten von Shannan eine Fortsetzung bekommen würden. Was diese enthielten, das wusste er nicht, aber dass es so war, davon ging er ganz sicher aus. Dieser Gedanke beruhigte ihn und er saß plötzlich etwas vergnügter in der Maschine. Er machte sogar schon Pläne für seine Ankunft zu Hause.
Zuerst sich so schnell als möglich an die Arbeit machen, um alles was ihm Shannan erzählt hatte, zum dritten Kapitel seines Buches zu verarbeiten. Danach wollte er mit dem neuen Hinweis die Spur von David weiter verfolgen. Darauf bekam er Lust.