Читать книгу ROOTS - Ein Mann auf der Suche nach seinen Wurzeln - Peter Frantz - Страница 8
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WEST-ZEEUWS-VLAANDEREN3 DIE POLDER4 MIT DEN BAUERNHÖFEN DE STIERSHOEK5 UND HET KRAAIJENNEST6 SPÄTES FRÜHJAHR 1963
Thomas las den kurzen Text laut vor, um sicher zu sein, dass er die Worte nicht allein sah, sondern sie auch hörte und verstand. Vielleicht in der Hoffnung, etwas anderes zu hören als das, was er meinte zu sehen. Ein Versuch, der zu nichts führte, denn da stand, was da stand. Danach starrte er andauernd lange darauf. Das Wort Desillusion war zwar übertrieben, aber etwas Enttäuschung überkam ihn doch. Was sollte er jetzt hiermit? Die letzten zwei Monate waren hektisch gewesen, jeder Tag ein Abschied von etwas oder jemandem aus seinem Beamtenleben. Wodurch er sich täglich etwas weiter von seinem alten Leben entfernte. Es war schwer für ihn gewesen, sich jeden Tag noch mit dem alten Dasein verbunden zu wissen, aber sich gleichzeitig bewusst zu sein, dass das endgültige 'Auf Wiedersehen' immer näher kam.
Er würde es niemals zugeben, aber am ehesten hatte ihn das Gefühl gestört, dass er für die meisten im Ministerium in dem Moment schon weg war, als er sein Dienstende ankündigte. Die Wahrheit des Spruchs 'Der König ist tot, es lebe der König!' hatte er am eigenen Leib erfahren. Und nach der schnellen Ernennung seines Nachfolgers hatte er bemerkt, dass er zwar noch geduldet war, aber dass er keine Position mehr hatte.
Heute war es dann endlich so weit. Heute war der erste Tag seines restlichen neuen Lebens. Der Tag, den er so sehr herbeigesehnt hatte - der Tag, an dem sein Abenteuer beginnen konnte. Euphorisch und mit zitternden Fingern hatte er den weißen Umschlag des Notariats aufgerissen. Er hatte sich Vorstellungen davon gemacht, wo der Erblasser gewohnt haben konnte. Wer weiß, ob es ihn nach Australien oder Neuseeland führte, Länder in die er schon lange einmal hin gewollt hatte. Oder etwas näher an zuhause hatte er die besten Erinnerungen an die Veluwe7, Drenthe8 und Süd-Limburg9.
Aber Zeeuws-Vlaanderen, darauf wäre er niemals gekommen. Er wusste, wo es lag, aber das war auch alles. Er war dort in seinem ganzen Leben noch niemals gewesen. Die Polder - es klang nach Landwirtschaft, das dann schon. Wie diese Gegend mit ihm in irgendeiner Verbindung stehen konnte, da hatte er nicht die geringste Ahnung. Er hatte von seinen Eltern niemals etwas über Familienmitglieder oder Bekannte in diesem Teil der Niederlande gehört.
Drei Tage schloss er sich in seinem Arbeitszimmer ein, um ungestört seine Hausaufgaben machen zu können. Mittels Internet reiste er durch diesen besonderen Teil der Niederlande, welcher an Belgien grenzt. Seine Kenntnis des Gebietes nahm enzyklopädische Ausmaße an. Aber immer noch ohne dass er irgendeine Vorstellung des möglichen Erblassers bekam oder davon, was dies mit ihn zu tun haben könnte.
Dass es historische Städtchen gab, das war schön, das glaubte er schon gerne. Ihm ging es jedoch vor allem um die Polder mit den zwei großen namentlich genannten Bauernhöfen.
Nach diesen drei Tagen im Internet, am Telefon und dem Wühlen in Nachschlagewerken hatte er immer noch kaum Anknüpfungspunkte. Außer dem Namen einer alten Frau, die seinerzeit auf einem der zwei Höfe gearbeitet und nicht weit davon gewohnt hatte. Inzwischen war sie 94 Jahre alt, sie sei noch klar im Kopf und lebte in einem Pflegeheim in Sluis.
Er buchte ein Hotel und machte sich auf den Weg nach Zeeuws-Vlaanderen. Unterwegs um den ersten Hinweis zu entschlüsseln. Auf dem Weg nach Sluis, auf der Suche nach der alten Frau, die ihm vielleicht zu der Frage helfen konnte, was an dem späten Frühjahr des Jahrs 1963 so außergewöhnlich war, dass es ausdrücklich genannt wurde. Er hoffte doch, dass ihre Erinnerung noch gut genug war, um etwas, das mehr als fünfzig Jahre zurück lag, erneut zum Leben zu erwecken.
Sie hieß Marie Verkeste und erwies sich als das Gegenteil einer lieben alten Oma. Es war eine überraschend rüstige Frau, die sich trotz des harten Lebens, das sie geführt hatte, noch ziemlich guter Gesundheit erfreute. Ein bisschen taub war sie wohl, was Thomas heimlich schmunzeln ließ, wenn sie etwas nicht gut verstanden hatte und Antwort auf eine Frage gab, die nicht gestellt war. Vielleicht tat sie es absichtlich, dachte er später.
Am ersten Tag, als er sie besuchte, schaute sie ihn mit ihren kleinen Knopfaugen giftig an und musterte ihn prüfend. Sie hörte ihm zwar zu, aber reagierte kaum und er beschloss, es sei besser abzufahren und morgen eine neuen Versuch zu starten.
Am zweiten Tag war sie etwas entspannter, aber viel mehr als ein Gespräch über dieses und jenes ergab sich an diesem Tag auch nicht. Was war es wieder, was er wissen wollte, fragte sie ihn zum soundsovielten Male, als ob er es nicht schon erzählt hätte. Er antwortete immer wieder geduldig, dass er auf der Suche war nach dem, was nun genau in den Poldern im späten Frühjahr des Jahrs 1963 vorgefallen war.
Sie würde darüber nachdenken, sagte sie, und vielleicht käme sie ja auch noch darauf und dann würde er es sicher erfahren, wenn er wiederkam. Damit musste er sich in diesem Moment zufrieden geben.
Erst bei seinem dritten Besuch gab sie ihre Zurückhaltung auf und offenbarte, was sie wusste. Sie begann mit etwas, das eine Rechtfertigung für ihr Schweigen an den ersten zwei Tagen zu sein schien.
„Hören, sehen und schweigen,“ sagte sie, „das war das, was wir tun mussten, mein Mann Peetje und ich, unser ganzes Leben lang. Zumindest falls du bei dem Bauern bleiben wolltest. Sprechen über das, was du sahst und hörtest, war verboten und wenn du es dennoch getan hast, konntest du gehen, weißt du.“
Sie schaute ihn entschuldigend an, auf Verständnis hoffend, welches er zu Genüge hatte und das versicherte er ihr auch. Es entstand eine lange Stille, während der er davon ausging, dass auch dieser Tag nichts einbringen würde.
Ihre Frage durchbrach das Schweigen: „Also, nur über das Frühjahr von 1963?“
Er versicherte es und sagte noch einmal, dass er sehr froh sein würde, wenn sie ihm helfen könnte.
Sie schaute ihn scharf an, seufzte und sagte mehr zu sich selbst als zu ihm: „Der Bauer und seine Frau sind schon lange tot, also was das betrifft …“ Es schien ihm weise zu sein zu schweigen und nach einigem Zögern fügte sie hinzu: „Nun los, wenn du mir versprichst, dass du danach abhaust und mich nicht mehr belästigst, erzähle ich dir alles, was ich über diesen Zeitraum weiß. Dabei bleibt es dann auch und nur falls du mir gelobst, mich nicht zu unterbrechen.“ Er versprach es und sie erzählte.
Zwei Tage waren notwendig, denn als sie einmal begonnen hatte, schien es kein Halten mehr zu geben. In dieser Zeit war ihr nichts entgangen, wobei selbst das kleinste Detail sich noch scharf vor ihrem Geist abzeichnete. Es handelte sich daher wohl eher um Misstrauen oder um Loyalität, die sie davon abgehalten hatten, direkt alles zu offenbaren, als dass sie es nicht mehr gewusst hätte. Sie erzählte und erzählte und Thomas hatte Mühe, sein Versprechen zu halten, sie nicht zu unterbrechen.
Am Ende ihrer Geschichte sagte sie entschlossen mit krächzender Stimme: „So, nun weißt du, was sich in dieser traurigen Zeit auf 'De Stiershoek' und 'Het Kraaijennest' abgespielt hat. Das ist, was du wissen wolltest, damit musst du jetzt zufrieden sein, mehr erzähle ich nicht.“
Er fuhr aus Sluis mit einem Schatz an Informationen weg. Genug, um den ersten Hinweis zu entwirren. Genug für das erste Kapitel seines Buches.