Читать книгу ROOTS - Ein Mann auf der Suche nach seinen Wurzeln - Peter Frantz - Страница 7
ОглавлениеAUFTAKT
Thomas van Rijckevorsel, Direktor im Ministerium für Wirtschaft, Landwirtschaft und Innovationen, war durcheinander. Seiner direkten Umgebung fiel es unmittelbar auf. War ihr Direktor sonst immer die Ruhe selbst, so reagierte er nun auf einmal ungeduldig und gereizt. Da so etwas selten vorkam, respektierte man es. Als er bei der täglichen Besprechung mit seinem Stab nicht als Erster, sondern als Letzter und auch noch fünf Minuten zu spät kam, wusste man es mit Bestimmtheit.
Am Anfang wurde es geflüstert, später laut gesagt: ‘Irgendetwas ist mit unserem Chef los.‘
Erstaunlicherweise bemerkte er selbst nichts. Erst als er bei einem Termin außer Haus auf die Frage, ob er Milch in seinen Kaffee wollte, vollmundig „ja“ sagte, begriff er allmählich, dass er nicht mehr ganz er selbst war. Er trank schon seit mehr als dreißig Jahre seinen Kaffee schwarz und es graute ihm allein schon bei dem Gedanken an Kaffee mit Milch. 'Milch ist für Katzen', war seit Jahren seine Standardreaktion.
Sein nicht wieder zu erkennendes Verhalten war auf den Anruf eines Notariats an seinem Wohnort Den Haag an einem frühen Montagmorgen zurückzuführen. Während er verbunden wurde, überlegte er, worum es sich handeln könnte. Seine Eltern waren schon vor drei Jahren bei einem Autounglück umgekommen und ihr Nachlass war durch einen Notar aus Nijmegen1 geregelt worden. Das konnte es also nicht sein. Und nach dem Tod seiner Frau im vorigen Jahr war die Frage über die Erbschaft schnell beantwortet. In Anbetracht der Tatsache, dass sie keine Kinder hatten, war alles an ihn als den länger Lebenden gegangen. Übrigens hatte er damals zu dieser Frage auch mit einem anderen Notar als diesem Kontakt aufgenommen. Diese Möglichkeit konnte er also auch abhaken.
Die Stimme des Notars unterbrach seine Überlegungen: „Ob Sie an einem der nächsten Tage vorbeikommen können, um ein Gespräch über einen Nachlass zu führen, für den Sie, Herr Van Rijckevorsel, der einzige potentielle Erbe sind?“
Nach diesem förmlichen Satz blieb es still. Nicht allein von Seiten des Notars, der offensichtlich nicht mehr erzählen wollte. Auch Thomas schwieg, überrumpelt durch die Frage. Eine Erbschaft, von wem? Trotz seiner Verwunderung sondierte er die Möglichkeiten, aber er kam nicht weit. Als einziges Kind und ohne nächste Familie hatte er keine Idee, wer ihm etwas nachlassen könnte.
Daher stellte er die naheliegende Frage: „Und von wem werde ich erben?“
Die Antwort kam schnell und überraschte ihn noch mehr: „Selbst wenn ich es wüsste, dürfte ich es Ihnen nicht sagen. Der Erblasser hat an das Erbe eine Anzahl von Bedingungen geknüpft, auch diese. Es geht daher darum, genau diese mit Ihnen zu erörtern, damit Sie erwägen können, ob Sie das Erbe annehmen wollen oder nicht.“
Thomas wurde es schwindelig und in der Stille, die folgte, hörte er schlussendlich den Notar äußerst formell und in Notarsprache fragen: „Also, Herr Van Rijckevorsel, wann können Sie hier persönlich erscheinen?“
Neugierde und Pflichtgefühl kämpften um den Vorrang, es gewann sein enger Terminkalender. Darum war es erst am Mittwochnachmittag so weit.
Je mehr sich dieser Mittwoch näherte, desto geringer wurde seine Konzentration. Seine Gedanken schweiften ständig ab und kreisten nur um eine einzige Sache. Würde es sich um einen größeren Geldbetrag handeln oder um ein Haus, das er vielleicht als Ferienwohnung gebrauchen konnte? Und falls es um Geld ging, könnte es dann eine stattliche Summe sein? Vielleicht konnte er aufhören zu arbeiten? Diese Idee ließ ihn schmunzeln, was erstaunte Blicke in seiner Umgebung hervorrief. Er sah es und wurde wieder ernst. Aber er war tatsächlich froh bei dem Gedanken, denn dies würde ihn von all den Veränderungen erlösen, die 'De Kamer'2 dem Ministerium aufbürdete. Immer ohne das beabsichtigte Ergebnis, wodurch die eine Reorganisation die nächste nach sich zog. In einem Leben als Privatmann könnte er alle die Auslandsreisen machen, die durch die Krankheit seiner Frau nicht mehr möglich gewesen waren. Und Bücher schreiben, das wollte er schon seit Jahren. Zuerst über seine Erfahrungen als höherer Beamter. Erfahrungen, die nützlich sein konnten für die zurückbleibenden Arbeitstiere. Er fing wieder starre Blicke auf und ermahnte sich streng: 'Stoppen mit Tagträumen Thomas, es ist nur noch ein einziger Tag bis Mittwoch.'
Endlich war der Augenblick gekommen und er saß dem Notar gegenüber. Dieser sah ihn über den Rand seiner Brille an, stieß die Fingerspitzen ein paarmal gegeneinander und hüstelte nervös.
„Tja, Herr Van Rijckevorsel, wir haben es hier mit einer äußerst kuriosen Angelegenheit zu tun, wie ich diese in all meinen Jahren als Notar noch nicht erlebt habe.“
Er blätterte in einer Mappe, hüstelte noch einmal und schaute ihn wieder an. Thomas war schon gespannt hereingekommen, aber dieser erste Satz beruhigte ihn gewiss nicht.
„Wo soll ich anfangen?“, fragte der Notar mehr sich selbst als Thomas und legte los: „Wie ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, hat der Erblasser Sie in dieser Sache als einzigen potentiellen Erben angegeben, aber daran auch drei Bedingungen geknüpft. Die erste Bedingung ist, das Sie weder wissen dürfen, wer der Erblasser ist, noch was das Erbe umfasst. Diese Daten sind nur dem Notar- und Rechtsanwaltsbüro bekannt, welches die Geschäfte des Erblassers führt, und zu aller Deutlichkeit: Wir sind dies nicht. Wir sind dabei nur der Vermittler zwischen diesem Büro und Ihnen. Im Auftrag des Erblassers wurde diese Konstruktion gewählt, um zu verhindern, dass Sie auf die eine oder andere Weise mehr erfahren könnten, als vorläufig beabsichtigt ist.“
Thomas lauschte mit steigender Verwunderung und fragte sich, wohin dies führte.
Der Notar fuhr fort: „Dies bringt mich zur zweiten Bedingung, die beinhaltet, dass Sie eine Anzahl von aufeinanderfolgenden Hinweisen bekommen werden, die Sie jeweils näher an den Erblasser und dessen Erbe bringen werden. Der zehnte und letzte Hinweis wird Ihnen letzten Endes den vollständigen Einblick geben.“ Thomas wollte etwas fragen, aber der Notar ließ durch eine Geste erkennen, dass er fortfahren wollte: „Die dritte Bedingung ist, dass falls Sie den Nachlass akzeptieren, Sie sich zu den gemachten Bedingungen und dem Ablauf mit allen zehn Hinweisen verpflichten, ohne eine einzige Ausnahme. Aber, und dass muss ich Ihnen ausdrücklich sagen, es steht Ihnen selbstverständlich vollkommen frei, das Erbe auszuschlagen. Falls Sie sich hierzu entschließen, dann teile ich dies mit und die Sache ist definitiv erledigt. Falls Sie akzeptieren, dann haben Sie vom ersten Tag des ersten Hinweises maximal ein einziges Jahr Zeit, um zum Ziel zu kommen.“ Er sah Thomas direkt in die Augen und sagte mit einigem Nachdruck: „Es beinhaltet für Sie folglich schon ein Risiko, denn auch wenn Sie beschließen zu akzeptieren, haben Sie das Rennen noch immer nicht gewonnen. Es könnte sein, dass Sie unterwegs eine falsche Spur verfolgen und nicht beim Erblasser und dessen Erbschaft ankommen, welche dann für Sie verloren geht.“ Der Notar schwieg hiernach und seufzte tief, sichtbar froh, dass er bis dahin die Sache haargenau hatte erklären können.
Thomas hatte atemlos und total überrascht zugehört. „Sie werden verstehen, dass ich noch Fragen habe.“
Der Notar dachte kurz mit geschlossenen Augen nach und reagierte: „Sofern ich es kann, will ich diese beantworten, aber ich bitte Sie um Verständnis für die Tatsache, dass ich nur wenig mehr sagen kann als ich bereits getan habe. Es geht in der Tat um eine Art Glücksrad, wenn ich dies so offen ausdrücken darf. Ein Abenteuer, das Sie selbst zu einem guten Ende bringen müssen, oder auch nicht. Aber, nachdem dies erläutert ist, was sind Ihre Fragen?“
„Warum hat der Erblasser diese Form gewählt?“, fragte Thomas, noch verdattert von allen Informationen.
„Auch darüber kann ich nichts sagen, denn ich weiß es nicht“, sagte der Notar während er seine Hände hilflos anhob, „das werden Ihnen die Hinweise verdeutlichen müssen.“
„Ist die Erbschaft die Mühe wert?“, war Thomas' zweite Frage, denn wenn er die Herausforderung annahm, kam da ordentlich etwas auf ihn zu. Vollständig abschätzen konnte er es nicht, aber angenommen er fing mit etwas an, was am Ende so gut wie nichts einbrachte.
„Auch das weiß ich nicht“, musste der Mann leicht verlegen zugeben, „aber im Hinblick auf den Namen des Rechtsanwalts- und Notarbüros des Erblassers, den ich Ihnen wie bereits gesagt nicht nennen darf, dürfte es sich um etwas Ansehnliches handeln. Aber auch ich weiß dies nicht und es liegt dann an Ihnen das Risiko nicht einzugehen.“ Mit einem deutlichen Blick auf die Uhr, um weitere Anliegen, auf die eine Antwort nicht möglich war, gar nicht erst aufkommen zu lassen, erkundigte sich der Notar: „Haben Sie noch Fragen?“
Thomas ignorierte den Wink, nickte und fragte: „Angenommen es gelingt mir nicht, binnen eines Jahres die Angelegenheit zu einem guten Ende zu bringen?“
Das war nun endlich etwas, worauf der Notar dann doch eine Antwort hatte, und ziemlich schnell und entschlossen sagte er: “Dann war alle Mühe umsonst und Sie haben zwar Kosten aber keine Ausbeute. Die Wahl liegt also bei Ihnen.“ Der Notar schaute ihn an und stellte die Frage: „Was wollen Sie nun tun?“
Thomas machte einen Vorstoß: „Und das muss ich wirklich jetzt schon entscheiden, darf ich darüber nicht noch ein paar Tage nachdenken?“
Der Notar gewährte ihm Aufschub bis Montag in der Frühe und erschrocken durch seine eigene Nachgiebigkeit fügte er streng hinzu: „Dann muss ich es aber wirklich wissen, länger kann ich es nicht hinauszögern.“
Thomas fuhr mit einem rauchenden Kopf los. Es war lange Zeit her, dass er betrunken gewesen war, aber das fühlte sich ungefähr so an, daran konnte er sich noch erinnern.
Der Abenteurer und der Beamte in Thomas kämpften miteinander. Der Abenteurer gewann am frühen Morgen, wenn er noch frisch war und die Aussicht auf den sprichwörtlichen Topf voller Gold ihn zu einem Optimisten machte. In einem solchen Moment war er davon überzeugt, dass zu akzeptieren die beste Wahl war. Im Laufe des Tages bekam der das Risiko vermeidende Beamte einen allmählich pessimistischeren Einfluss. Angenommen es gelang ihm nicht, der richtigen Fährte zu folgen. Dann stand er am Ende mit leeren Händen da: Arbeitslos, Erspartes weg und nichts mehr da, worauf man sich stützen konnte. Er erkannte sich selbst nicht mehr. Täglich traf er doch sonst auch einen Entschluss nach dem anderen, wohl überlegt und entschieden. Aber dann handelte es sich um Geld und Gut von anderen. Nun ging es um ihn selbst und das war doch ein Unterschied. Er grübelte weiter und der Montag näherte sich mit raschen Schritten, ohne dass er mit seiner Wahl ein Stück vorangekommen war. Seine Gedanken pendelten fortwährend zwischen akzeptieren und ausschlagen. Er war mit den Nerven am Ende.
Vielleicht hätte Thomas den sicheren Weg gewählt, wenn da nicht wieder eingreifende Maßnahmen im Landwirtschaftsressort angestanden hätten. Bei den Verhandlungen, um ein neues Kabinett zu bilden, war davon die Rede: Von Für und Wider eines eigenständigen Landwirtschaftsministeriums, von Für und Wider einer eigenen Führungsstruktur, von Für und Wider einer Stelle für ihn als Direktor. Er hörte am Freitag nach der Kabinettssitzung davon und die Konsequenzen bedrückten ihn. Er hatte mittlerweile schon alles Mögliche mitgemacht, aber mit dem Tempo und der Aufeinanderfolge war in den letzten Jahren nicht mehr Schritt zu halten. Milchquoten, Fischquoten, Mistquoten, Maul- und Klauenseuche, Rinderwahnsinn, Vogelgrippe und Q-Fieber, um einmal einige Dinge zu nennen. Und mittlerweile ging intern etwas über Fipronil in Eiern um, was in Kürze reichlich Probleme hervorrufen würde. Dazu auch noch die soundsovielte Organisationsveränderung mit einem für ihn ungewissen Ergebnis, das schien ihm etwas zu viel des Guten.
Er dachte das ganze Wochenende ständig darüber nach und beschloss den Schritt zu wagen: Er würde akzeptieren. Am Montagmorgen teilte er dem Notar seine Entscheidung wie vereinbart mit. Dieser hielt an seinem Part fest und ließ auf keine einzige Art und Weise durchschimmern, was er von diesem Beschluss hielt. Er sagte wortkarg, dass er die Botschaft an seine Auftraggeber weiterleiten würde und dass Thomas dann von ihm eine Nachricht über den nächsten Schritt bekäme.
Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Dann gibt es von nun an keinen Weg mehr zurück, Herr Van Rijckevorsel.“ Vielleicht dass es nicht so bedrohlich gemeint war, aber es klang so, fand Thomas. Dies ließ ihn noch fast zweifeln.
So kam es, dass am Anfang des Sommers 2017 Thomas van Rijckevorsel, inzwischen ein Bürger ohne Amt, auf der Grundlage des ersten Hinweises sein Abenteuer von 'Hopp oder Top' in Angriff nahm.
Im letzten Augenblick fiel ihm noch ein seine Erfahrungen zu Papier zu bringen. Er würde mit dem Telefonat des Notars beginnen, danach folgten seine Erlebnisse in der Reihenfolge der Hinweise. Jeden dieser zehn Hinweise würde er vorab mit einer Betrachtung aus seiner aktuellen Sicht einleiten. Danach würde jeweils ein ausführliches Kapitel mit den Resultaten seiner Spurensuche in der Vergangenheit folgen, dabei hatte dann eine andere Person die Hauptrolle. Hoffentlich gelang es ihm bis zum zehnten Hinweis zu kommen. Sollte das der Fall sein und sollte er die Angelegenheit erfolgreich abschließen können, dann reichte es vielleicht tatsächlich für ein Buch. Dann musste das Buch über seine Erfahrungen als Beamter dann eben warten.