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5.

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»Letzte Nacht? Und wann genau?« Lüppo Buss schaute den jungen Mann auf der anderen Seite seines Schreibtisches streng an. Dessen ohnehin schon stark gerötete Segelohren wurden noch um eine Nuance dunkler, und seine schmächtige Gestalt drückte sich in das dünne Stuhlpolster, als suchte sie darin Deckung.

»Irgendwann zwischen 23.30 und 4 Uhr morgens«, antwortete Jannik Bartels kleinlaut und schuldbewusst. »Genau weiß ich’s nicht, wir waren ja alle in Esens in der Disse.«

»Wo waren Sie, bitte?«

»In der Discothek.« Der junge Koch rollte die Augen, und zwischen seinen Sommersprossen strebten die Mundwinkel nun doch leicht auseinander: »Wissen Sie, das ist so ein Laden, in dem sie Musik von der Platte …«

»Willst du mich verscheißern?«, polterte Lüppo Buss los. Und fand seine eigene Frage sinnlos, denn natürlich war es das, was der arme Kerl wollte. Der Oberkommissar war sogar bereit, ihm das zu verzeihen; bestimmt hatte ihm Thormählen, sein Chef und zugleich der Besitzer des abhanden gekommenen Bootes, schon fürchterlich den Kopf gewaschen, ehe er ihn ins Polizeibüro an der Kaapdüne schickte, um Anzeige zu erstatten. Aber natürlich musste der Inselpolizist seine Autorität wahren. Außerdem wurmte es ihn, dass ihn dieser grüne Junge offenbar für einen senilen Tattergreis hielt.

Jannik Bartels hob abwehrend beide Hände. »Um Himmels willen … sollte doch bloß … ich meine, war doch nicht bös …«, stammelte er.

Hoffentlich sind seine Menüs besser durchdacht als seine Sätze, dachte Lüppo Buss, während er so tat, als regte er sich langsam ab. Man erzählte sich ja wahre Wunderdinge von Thormählens neuem Restaurant, das am Wochenende eröffnet werden sollte. Allerdings nicht nur von den Speisen, sondern auch von den Preisen. Ob er es sich überhaupt leisten konnte, seine Nicole dorthin auszuführen? Verdient hatte sie es ganz sicher, dass er ihr mal etwas Besonderes bot. Nur wollte er sich dafür nicht gleich finanziell ruinieren. Und außerdem: Was konnte das für eine Küche sein, in der die Köche dermaßen dünn waren? »Nouvelle Cuisine«, wo man nach einem fünfgängigen Menü mit knurrendem Magen aufstand?

»Ist schon gut«, sagte der Inselpolizist beschwichtigend. »Eine Wache habt ihr also nicht an Bord gelassen? So, wie man das eigentlich macht, wenn man ein Boot an einer unbewachten Stelle zurücklässt? Zumal so ein wertvolles, der Beschreibung nach?«

Der Koch starrte Lüppo Buss an und breitete hilflos die Hände aus. Offenbar hatte er von solchen Gepflogenheiten noch nie zuvor gehört.

»Na gut.« Der Oberkommissar schüttelte den Kopf. »Ich leite die Anzeige weiter nach Wittmund, die sind dafür zuständig. Eine Beschreibung des Bootes geht umgehend raus. Die Kollegen werden sich in allen einschlägigen Jachthäfen und Marinas umschauen oder zumindest nachfragen. Die Hafenmeister wissen ja immer am besten, wenn irgendwo fremde Boote auftauchen.« Demonstrativ klappte er seinen Notizblock zu. Für ihn war das Gespräch beendet.

Der Koch aber zögerte noch. »Was meinen Sie, wann … ich meine, wie sind denn die Chancen, dass das Boot wieder auftaucht?«

Lüppo Buss zuckte die Achseln. »Falls es bloß ein Dumme-Jungen-Streich war, wenn sich also jemand das Boot nur für eine Spritztour ausgeliehen hat, dann wird es sicher schnell gefunden werden. Die Frage ist dann nur, in welchem Zustand. Aber wenn es sich hier um einen planvollen Diebstahl gehandelt hat, dann, schätze ich, ist das gute Stück futsch. Es sei denn, der Autobahnpolizei gelingt noch ein Zugriff.«

Jannik Bartels’ Augen rundeten sich noch mehr. »Autobahn …?!«

Lüppo Buss schüttelte den Kopf; diesmal fiel es ihm nicht schwer, milde zu bleiben. »Professionelle Bootsdiebe schippern nicht mal eben in der Gegend rum. Die packen ihre Beute auf einen Trailer, und dann ab dafür, so schnell es geht. Zum Abnehmer. Meistens Richtung Osten.« Der Inselpolizist wusste das auch erst seit Kurzem. Während einer verordneten Fortbildungsmaßnahme hatte er sich einen Vortrag ausgesucht, dessen Thema ihm am wenigsten weltfremd vorgekommen war. Aber das ging den kleinen Koch hier ja nichts an.

Jannik Bartels verabschiedete sich und ging. Lüppo Buss blieb gerade genug Zeit, seine Meldung nach Wittmund abzusetzen, da öffnete sich die Tür zu seinem Büro bereits wieder. Eine Frau mit hennarot gefärbten Haaren erschien; sie trug ein erdbeerrotes Top, einen scharlachroten Wickelrock um die ausladenden Hüften, eine magentarote Umhängetasche und einen himbeerrosa Sonnenbrand auf den Schultern. Lüppo Buss hatte ein deutliches Déjà-vu-Gefühl, das er jedoch nicht zuordnen konnte.

Er begrüßte die Besucherin und nickte ihr aufmunternd zu.

»Ich will mich beschweren«, sprudelte die Frau los, ohne den Gruß zu erwidern. »Das ist ja lebensgefährlich, also echt, unglaublich. Mein Hermann ist die ganze Nacht nicht vom Lokus runtergekommen. Total schlecht geht es ihm. Und jetzt traut er sich immer noch nicht vor die Tür. Dabei haben wir doch nur eine Woche gebucht, mehr Urlaub hat Hermann nicht gekriegt, weil, der Laden brummt ja zu Hause, da kann er nicht weg, so einfach. Also, so was gibt es doch wohl nicht! Wie können Sie so etwas zulassen?«

»Was soll ich zugelassen haben?«, fragte Lüppo Buss entgeistert. »Kurze Buchungszeiten? Gute Geschäftslage? Oder dass Ihr Mann die Toilette blockiert?« Er verschränkte die muskulösen Unterarme vor der Brust.

»Wat?« Die rote Dame musterte ihn wie ein Insekt in ihrer Roten Grütze. »Wat soll dat denn? Haben Sie denn überhaupt nicht verstanden, was ich Ihnen gerade erzählt habe?«

»Offen gestanden, nein«, antwortete Lüppo Buss. »Vielleicht versuchen Sie es einfach noch einmal. Was, bitte, ist denn der eigentliche Grund Ihrer Beschwerde?«

»Na, die Marmelade«, erwiderte die rote Dame prompt. »Diese orangene.«

»Sie wollen sich bei mir über Orangenmarmelade beschweren? Meinen Sie denn, dass die Polizei dafür die richtige Adresse ist?« Jetzt sollten die von der Kurverwaltung mich mal sehen, dachte der Oberkommissar. Mehr Verständnis und Höflichkeit gegenüber Kurgästen geht ja wohl nicht, schon gar nicht gegenüber so durchgeknallten.

»Nee«, sagte die Besucherin. »Sanddorn.«

»Wat?« Unwillkürlich imitierte der Inselpolizist den Tonfall der Frau. Stammte sie aus dem Ruhrpott?

»Na, Sanddorn, nicht Orange. Diese Sanddornmarmelade, die es hier gibt, die ist doch orange.« Die Besucherin nickte ernsthaft.

Lüppo Buss stellte sich die verschiedenen, einander beißenden Rottöne, in denen die Dame leuchtete, kombiniert mit Sanddorn-Orange vor und konnte ein Schaudern nur mühsam unterdrücken. »Sanddornmarmelade also. Und die schmeckt Ihnen nicht?« Er sprach jetzt nicht mehr nur höflich, sondern übervorsichtig, wie mit einer Verrückten. Kam zur Polizei, weil ihr die Marmelade nicht schmeckte, also wirklich!

»Natürlich schmeckt uns die«, antwortete die rote Dame. »Ganz vorzüglich schmeckt uns die. Darum ja.«

Lüppo Buss verstand jetzt gar nichts mehr. »Darum ja – was?«, fragte er hilflos. »Darum wollen Sie sich beschweren?«

»Darum essen wir die ja so gerne! Und darum hat sich Hermann auch gleich zwei Brote damit geschmiert, obwohl er sonst gar nicht so gerne süß mag, schon gar nicht abends. Aber diesmal, zwei Brote, mit dick Marmelade drauf, weil sie doch so lecker schmeckt, hat er gesagt, diese einheimische Sorte aus dem Geschäft, wo wir vorher noch nie waren. Tja, und das war’s dann.«

Der Oberkommissar merkte, dass ihm der Unterkiefer herab hing, und sorgte für Abhilfe. Gleichzeitig kam ihm ein Gedanke, wie in diese grotesk anmutenden Ausführungen vielleicht doch noch Sinn hineinzubekommen wäre. »Sie meinen, die neue Marmeladensorte ist Ihrem Hermann nicht gut bekommen? Dass er davon einen Flotten gekriegt hat?« Stolz auf sein Kombinationsvermögen und seinen guten Willen, blickte er die rote Dame erwartungsvoll an.

»Was heißt hier, nicht bekommen!«, schnauzte die zurück. »Hermann hat einen Magen aus Eisen, das gibt es gar nicht, dass dem etwas nicht bekommt! Außerdem, Sanddorn haben wir früher schon gegessen, da gab es noch nie Probleme. Nee, nee, mit Bekommen hat das nichts zu tun.«

»Sondern?« Lüppo Buss spürte seine Selbstbeherrschung dahinschwinden und beschränkte sich daher auf dieses eine Wort.

»Sondern? Merken Sie denn überhaupt nichts?« Die rote Dame ging hoch wie eine Leuchtrakete. »Gift! Mit Gift hat das was zu tun! Hier will uns einer vergiften! Bei meinem Hermann hätte das beinahe schon geklappt, wenn der nicht so ›ne eiserne Konstitution hätte.« Mit diesen Worten zog sie eine Plastiktüte aus ihrer magentaroten Umhängetasche und platzierte sie auf Lüppo Buss’ polierter Kirschholzfurnier-Schreibtischplatte.

Die Tüte war pink.

Der Oberkommissar merkte, wie sich sein Magen zusammenzog. »Und da drin ist …«

»Genau.« Die rote Dame nickte eifrig. »Die Sanddornmarmelade mit dem Gift. Vielmehr, der Rest davon.«

»Und Sie meinen, die soll ich jetzt …«

»Erraten. Ins Labor, zur Untersuchung. So geht das doch, nicht? Sieht man ja immer im ›Tatort‹.« Sie blickte sich suchend um: »Wo haben Sie denn hier eigentlich Ihr Labor?«

Der Inselpolizist räusperte sich umständlich. »Das Labor? Tja, wissen Sie, Frau … wie war doch gleich Ihr Name?«

»Salewsky«, erwiderte die rote Dame und knallte einen Personalausweis neben die pinkfarbene Tüte. »Ingeborg Salewsky. Ich dachte schon, Sie würden mich überhaupt nicht mehr danach fragen. Immerhin mache ich hier ja eine offizielle Anzeige.«

»Eine Anzeige?« Lüppo Buss, der sich Namen und Anschrift notierte, blickte auf. »Anzeige gegen wen denn, bitteschön?«

»Na, gegen die Leute, die uns dieses Giftzeugs verkauft haben! Wie heißen die denn noch … ich glaube, Tütjer oder so ähnlich. Jedenfalls heißt der Laden so.«

»Tuitjers Eck meinen Sie?« Der Oberkommissar kannte das Geschäft, das immer noch den Namen seines verstorbenen Gründers führte. »Mal im Ernst, glauben Sie wirklich, dass jemand Ihnen Böses wollte? Bestimmt ist das alles nur ein unglücklicher Zufall. Ihr Hermann hat gestern sicher noch irgendetwas anderes gegessen, das ihm nicht bekommen ist. Oder getrunken. Reden Sie doch noch einmal mit ihm, sprechen Sie alles durch. Bestimmt gibt es für das Unwohlsein Ihres Gatten eine harmlose Erklärung.«

Die rote Dame sprang auf, so ungestüm, dass der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, hinter ihr zu Boden krachte. »Wollen Sie mich eigentlich nicht verstehen?«, zischte sie den Inselpolizisten an. »Oder können Sie bloß nicht? Hier geht es nicht einfach um einen verdorbenen Magen, hier geht es um einen Giftanschlag. Jemand hat es auf uns abgesehen. Und vielleicht auch noch auf andere. Was muss denn noch alles passieren, dass Sie endlich mal Ihren Hintern hochkriegen?« Sie grabschte nach ihrem Ausweis und stopfte ihn in die Umhängetasche. »Aber warten Sie nur, Sie werden schon sehen. Wenn Sie mich nicht ernst nehmen in meiner Not, die Presse wird das schon tun! Da gehe ich jetzt nämlich hin. Zur Presse, jawohl. Die wird Ihnen schon Dampf machen.«

Damit rauschte sie hinaus und schmetterte die Tür hinter sich ins Schloss.

Lüppo Buss schaute ihr kopfschüttelnd nach. Leute gab es! Also wirklich. Ein Mordanschlag, einfach so, mit Marmelade frisch aus dem Laden, ohne einen Anlass oder ein erkennbares Motiv. Nee, Leute. Was die Frau sich so alles einbildete. Na ja, Einbildung war ja auch eine Form von Bildung.

Dann begann er zu grübeln. Sein Blick ruhte auf der pinkfarbenen Plastiktüte, die auf seinem Schreibtisch zurückgeblieben war.

Wut und Wellen

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