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4.

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Stahnke hasste es, zu spät an einen Tatort zu kommen. Absperrung, Identifikation, Fotos, Spurensicherung, Personalienfeststellung und Zeugeneinvernahme, erste Untersuchung des Opfers, schließlich Abtransport der Leiche – alles war bereits erledigt, jeder hatte sich ein Bild von der Lage gemacht, alle kannten sich aus. Bloß er nicht, Stahnke, Leitender Ermittler des 1. Kriminalfachkommissariats. Er war wieder einmal auf die loyale Zuarbeit seines Kollegen Kramer angewiesen. Den mochte er, keine Frage. Aber die Situation an sich, die hasste er. Und dass sie wieder einmal an einem sogenannten freien Tag eintrat, machte die Sache nicht besser.

Kramer funktionierte tadellos. »Der Tote ist ein gewisser Waldemar Wallmann. 36 Jahre, wohnhaft in Leer-Loga. Inhaber der Firma Personal Flexibility. Unverheiratet, keine Kinder. Jedenfalls keine, von denen wir wüssten.«

Stahnke hob die Augenbrauen – der letzte Zusatz schien ihm erklärungsbedürftig.

»HWG«, erläuterte Kramer. »Häufig wechselnder Geschlechtspartner. Der Hafenmeister kannte ihn ganz gut. Wallmanns Boot liegt schon seit ein paar Jahren hier. Vielmehr seine Boote; er hat sich wohl öfter mal ein neues gegönnt. Ebenso wie eine neue Freundin.« Kramer blätterte in seinen Aufzeichnungen: »Neue Freundinnen sogar häufiger als Boote.«

»Mit diesem Vergleich kämst du bei Sina aber nicht besonders gut an«, tadelte Stahnke. »Ein Mensch ist kein Ding, das man besitzen kann. Was sagt denn deine Insa dazu?«

Kramer blickte zur Seite. »Gemäß deiner eigenen Belehrung ist deine hier unangebracht«, murmelte er. »Und außerdem, sie ist sowieso nicht mehr meine.«

»Ach.« Dabei hatte sich Kramers Beziehung mit Insa Ukena, der Kollegin, die auf Langeoog Dienst tat, doch so vielversprechend angelassen, fand Stahnke. Er hatte schon gewitzelt: »Demnächst könnten wir eigentlich mal einen Familienpass für die Inselfähre beantragen, aber einen für Großfamilien.« Und sich gefreut, dass Kramer, dem seine Trennung von Frau und Tochter immer noch zu schaffen machte, auch wenn er es nicht zeigte, endlich wieder etwas Festes gefunden hatte. Tja, so konnte man sich irren.

»Ein Don Juan also«, nahm der Hauptkommissar den dienstlichen Faden wieder auf. »Ist ja nicht verboten. Aber man macht sich nicht unbedingt Freunde auf diese Art.« Bei der Suche nach einem Tatmotiv wäre das schon mal ein Ansatz. »Woher wissen wir überhaupt den Namen? Hat dieser Hafenmeister ihn identifiziert?«

Kramer nickte. »Er hat ihn gefunden, heute früh bei Niedrigwasser«, ergänzte er. »Der Tote hatte aber auch alle Papiere bei sich. Ausweis, Führerschein, Kreditkarten. Außerdem über 6.000 Euro in bar. Ein erstaunlich hoher Betrag, selbst wenn man bedenkt, dass Wallmann ziemlich vermögend war. Alles noch da, nur das Boot war weg. Stattdessen lag Wallmanns Leiche im Schlick.«

Stahnke wusste genau, wie die Marina Bingum bei Niedrigwasser aussah, weil er hier früher mal ein eigenes Boot liegen gehabt hatte. Nun war er doch froh, erst verspätet eingetroffen zu sein; die Vorstellung, womöglich nach einem Fehltritt in diesem Modder zu landen, hatte ihn stets geekelt. Die ständigen Vertiefungen der Ems und die dadurch ansteigende Geschwindigkeit vor allem des Flutstroms führten dazu, dass immer mehr und mehr Schlick in die angrenzenden Häfen, Buchten und Altarme gedrückt wurde. Jeder kannte die Ursache für diese Schweinerei. Solange aber die Großwerft oben in Papenburg mit der Arbeitsplatzkeule drohte und die Politiker nach ihrer Pfeife tanzten, würde sich daran wohl nichts ändern.

»6.000 Euro«, wiederholte Stahnke. »Klar, Wallmanns Boot war natürlich weit mehr wert. Trotzdem, welcher Raubmörder nimmt denn ein Boot mit, aber lässt seinem Opfer das Bargeld?«

»Ja, merkwürdig«, bestätigte Kramer. »Ein durchschnittlicher Raubmörder hätte Wallmann wohl auch nicht gleich 36 Messerstiche verpasst.«

Der Hauptkommissar pfiff leise durch die Zähne. »Sehe ich auch so«, sagte er. »Da steckt wohl eher Hass dahinter als Habsucht. Eine von seinen Verflossenen vielleicht?«

»Wohl eher ein betrogener Ehemann oder ein verlassener Freund«, erwiderte Kramer. »Wallmann war einen Meter 90 groß und ziemlich kräftig, ein richtiger Brocken. Und ein zupackender Typ, wie der Hafenmeister berichtet. Keine Angst, sich die Hände schmutzig zu machen. Ihm hat das gefallen. So muss man wohl sein, wenn man in der Zeitarbeitsbranche tätig ist. Jedenfalls in der Grauzone, da, wo richtig viel Geld zu machen ist.«

»Daher wohl auch das viele Bargeld. Cash auf die Hand spart Steuern. Soweit klar«, sagte Stahnke. »Aber warum soll der Täter denn keine Frau sein? Auch Frauen können mit Messern umgehen. Gerade Frauen! Wer macht denn die meiste Hausarbeit?«

»Merkwürdige Assoziationskette.« Gegen seinen Willen musste Kramer lachen. »Aber im Ernst, dem ersten Augenschein nach wurde ein Messer mit recht starker Klinge benutzt. Offenbar ziemlich scharf. Der Täter hat damit Wallmanns Brust und Oberbauch regelrecht zerfleischt. Nicht alle Stiche gingen wirklich tief, trotzdem, dazu gehört eine Menge Kraft.«

»Na und? Es gibt sehr kräftige Frauen. Und manche haben auch einen Bootsführerschein.«

Kramer zuckte die Achseln und äußerte sich nicht weiter dazu. Recht hat er, dachte Stahnke. Lauter zwecklose Spekulationen. Befassen wir uns doch erst einmal mit den Fakten.

Sie standen auf dem breiten Schwimmsteg, dort, wo der Stichsteg abzweigte, der den Liegeplatz von Wallmanns Boot seitlich begrenzte. Eine Böe kräuselte das Wasser im Hafenbecken, das nun wieder gut gefüllt war, und ließ die Bäume rauschen. Der Steg erzitterte leicht.

»Wieso eigentlich Waldemar?«, fragte Stahnke. »Waldemar. Wer heißt denn heute noch so.«

»Fußballreporter«, antwortete Kramer ungerührt.

»Na gut. Aber jüngere und mittlere Jahrgänge? Doch wohl kaum.«

»Wallmann war Russlanddeutscher«, erklärte Kramer. »Seine Eltern wollten ihre Abstammung wohl besonders deutlich machen. Der Junge musste es ausbaden.«

Stahnke zog seine Augenbrauen zusammen und musterte seinen Kollegen scharf. Sollte das gerade etwa mal wieder eine Anspielung sein? Auch Stahnkes Eltern waren besonders stolz auf ihre Herkunft gewesen, die ostfriesische nämlich, und hatten ihm einen Vornamen aufgehalst, der ihm bis heute hochnotpeinlich war.

Kramer schaute nicht zurück. Genau genommen schaute er nirgendwo hin. »36«, murmelte er leise.

»Bitte wie?«

»Die Anzahl der Messerstiche«, sagte Kramer leise und schleppend. »Sie entspricht genau dem Alter des Opfers. 36.« Jetzt hob er den Blick und fixierte seinen Vorgesetzten. »Eigenartig, nicht?«

»Worauf willst du hinaus? Auf einen durchgeknallten Strickmusterkiller?« Stahnke schaubte. »Jetzt spinnst du aber, mein Lieber.«

Kramer antwortete nicht.

Wieder lief ein leichtes Zittern durch den schwimmenden Steg, begleitet von einem trockenen Pochen. Hier war ein Boot nicht richtig festgemacht, und es drohten Lackschäden. Stahnke war zu sehr Segler, um das zu ignorieren, und blickte sich suchend um.

Es war das Boot in der Box neben Wallmanns Stichsteg, ein etwas mehr als sechs Meter langer, trailerbarer, teuer wirkender Daycruiser, anscheinend neuwertig. Wallmanns Boot sah vermutlich ganz ähnlich aus. Das luxuriöse Ding dümpelte hin und her, hatte eindeutig zu viel Bewegungsfreiheit und schlug immer wieder mit seiner glänzenden Bordwand gegen die Stegkante. Nicht mehr lange, und die Gelcoatschicht würde Schaden leiden, denn die beiden Fender hingen so, dass sie keinen Schutz boten. Warum hatte der Hafenmeister das denn noch nicht bemerkt?

Das Boot war mit zwei Achterleinen und einer Spring gesichert, ganz zünftig. Vorne aber war nur eine Leine fest. Der zweite vordere Festmacher, der das Boot eigentlich auf Abstand zum Steg hätte halten sollen, hing schlaff aus der Klampe ins Wasser hinab. Jemand hatte ihn vom Stegpoller losgemacht.

»Wart ihr das? Ich meine, die Spusi?«, fragte Stahnke.

Kramer schüttelte den Kopf.

»Dann ruf die Kollegen am besten noch einmal her«, sagte Stahnke.

Wut und Wellen

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