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Als das erste Morgenlicht durch die Jalousie zu sickern begann, lag Stahnke schon wach. Jeden Tag früher, kam es ihm vor. Klar, um diese Jahreszeit waren die Nächte kurz und wurden immer noch ein bisschen kürzer, da war es nur natürlich, dass der Körper darauf reagierte. Trotzdem, den bösen Spruch von der »präsenilen Bettflucht« bekam er einfach nicht aus dem Kopf. Er beobachtete sich selbst permanent und mit größtem Misstrauen. Das kleinste Anzeichen fortschreitenden Alterns jagte ihm einen panischen Schrecken ein. In dieser Hinsicht konnte er es mit jedem Hypochonder aufnehmen.

Zumal jetzt, da er wieder mit der personifizierten Jugend zusammen war.

Der Hauptkommissar drehte sich zur anderen Betthälfte herum, ganz vorsichtig, um das metallene Bettgestell mit seinem massiven Körper nicht allzu sehr zum Beben zu bringen. Sina schlief noch. Total entspannt lag sie da, die nackten Arme von sich gestreckt. Unter der dünnen Sommerdecke hob und senkte sich ihre Brust ruhig und gleichmäßig. Ihr Gesicht, das gestern Abend noch so blass und gestresst ausgesehen hatte, schien von innen heraus zu leuchten. Dem halb geöffneten Mund entschlüpften wieder einmal die leisen Atemgeräusche, die Stahnke so entzückend fand. Die verrücktesten Kosenamen hatte er sich dafür schon ausgedacht. Überhaupt verfiel er, wenn es um Sina ging, nur allzu gerne in hemmungslose Albernheit. Auch das war seiner Selbstbeobachtung nicht entgangen. Er sah jedoch keinen Anlass, daran etwas zu kritisieren oder gar zu ändern.

Es war schon hell genug, um den winzigen Wecker abzulesen. Noch vor 6 Uhr. Sina hatte heute Spätdienst und durfte länger schlafen. Stahnke wusste aus Erfahrung, dass es nicht ratsam war, sie davon abzuhalten. Behutsam tupfte er ihr einen Kuss auf den Unterarm und registrierte amüsiert, wie sich die kleinen Härchen darauf sträubten. Dann stieg er so leise wie möglich aus dem Bett, suchte seine Sachen zusammen und ging ins Bad.

Das Duschen verschob er auf später, um Sina nicht doch noch zu wecken, und begnügte sich mit einer Katzenwäsche. Immerhin hatte er heute einen freien Tag, da konnte er sich das erlauben. Das Bad in Sinas Inselapartment war eng, aber hell und modern, und der Spiegel über dem Waschbecken großzügig dimensioniert. Stahnke gefiel, was er darin sah. Das gesunde und vor allem bewusstere Essen der vergangenen Monate hatte seinen Bauch schrumpfen, regelmäßiges Krafttraining seine Arm- und Schultermuskeln anschwellen lassen. Der Hauptkommissar fühlte sich an eine Comicfigur erinnert, die ihre Körpermasse aus der Bauch- in die Brustregion verschieben konnte, und musste grinsen. Nein, so einfach war es wirklich nicht gewesen. Aber es hatte sich gelohnt.

Er setzte Kaffee an und trat hinaus auf den Balkon, der über je eine Tür zur Küche und zum Wohnzimmer verfügte. Draußen herrschte schönste Morgenruhe, gelegentlich mehr unterstrichen als durchbrochen von stampfenden Joggern. Meerblick gab es keinen, die Mieten in solchen Lagen waren für Sina bei ihrem Einstiegsgehalt als Psychotherapeutin unerschwinglich. Aber immerhin Morgensonne. Stahnke breitete die Arme aus und genoss das Wechselspiel von warmen Strahlen und kühlem Wind auf seiner Gesichtshaut. Mal hören, was der Wetterbericht sagt, überlegte er. Vielleicht reichen die Temperaturen ja schon für einen Nachmittag am Strand. In der Vorsaison, wenn Langeoog zwar nicht mehr winterlich einsam, aber auch noch nicht überlaufen und hektisch wirkte, waren solche Tage besonders kostbar.

Dann fiel ihm wieder ein, dass es wohl ein einsamer Strandtag werden würde. Sina musste ja arbeiten. Während ihrer ersten sechs Monate als Festangestellte im Haus Waterkant galt Urlaubssperre, und die Klinikleitung hatte die Angewohnheit, Ausgleichstage für Wochenendarbeit stillschweigend in diese Regelung einzubeziehen. Miese Ausbeuter, weißbekittelte, dachte Stahnke grimmig.

Das Kaffee war durchgelaufen, und Stahnke eilte in die Küche zurück, um die röchelnde Maschine abzustellen. Während er sich seinen Lieblingsbecher aus dem Schrank fischte, griff er mit der anderen Hand nach dem Radio, stoppte seine Bewegung aber auf halber Strecke. Radio, und sei es auch noch so leise gestellt, weckte Sina stets mit größter Sicherheit. Lieber nicht. Vielleicht war ja die Inselzeitung schon da, die hatte bestimmt auch einen Wetterbericht.

Leise tappte er ins Treppenhaus und hinunter zu den Briefkästen. Tatsächlich, die Zeitungen steckten bereits säuberlich in den Schlitzen. Nicht in allen – der Hauptkommissar erinnerte sich, dass es ja zwei Zeitungen auf Langeoog gab. Die anderen Mieter lasen offenbar die Konkurrenz. Oder gar nicht.

Zwei Zeitungen für ein Dorf mit kaum mehr als 2.000 Einwohnern! Wie konnten die denn eigentlich existieren? Vermutlich von den Touristen – und denen, die diesen Touristen etwas verkaufen wollten. 180.000 Übernachtungen pro Jahr, da kamen allerhand potentielle Leser zusammen. Und die waren zugleich die Lebensgrundlage der gesamten Insel.

Stahnke schlug die Zeitung auf, während er die Stufen wieder hinaufstieg. Langeooger Inselbote hieß das Blatt. Himmel, klang das altmodisch! Und der Titelkopf war auch nicht sonderlich zeitgemäß gestaltet. Da sah die Konkurrenzpostille, die Langeoog News, doch deutlich moderner aus. Warum Sina wohl nicht die abonniert hatte?

Jedenfalls schien sie noch zu schlafen. Mit Kaffeebecher und Inselbote schlich sich der Hauptkommissar hinaus auf den Balkon. Natürlich war das Wetter hier Thema – sogar Titelthema: »Wird sich die Warmfront halten?« Über diese Frage verbreitete sich der Verfasser des Aufmachers über vier Spalten. Fazit seiner Ausführung: Man wusste es nicht, aber man durfte hoffen. Stahnke schnaubte verächtlich und schlürfte an seinem brühheißen Kaffee.

Vermischte Meldungen, Anzeigen – der Rest der Titelseite erschien dem Hauptkommissar von begrenztem Unterhaltungswert. Weder hatte er vor einzukaufen noch wollte er sich ein Fahrrad mieten. Schließlich stand sein eigenes unten im Keller. Seit er wieder mit Sina zusammen war und sie nach bestandenem Examen ihre erste Stelle auf Langeoog angetreten hatte, in derselben Klinik, die sie schon von einem Praktikum her kannte, waren Stahnkes Inselbesuche so häufig geworden, dass es sich lohnte, sein geliebtes knallgelbes Trekkingrad einzuschiffen. Für zu Hause hatte er sich ein Zweitrad zugelegt, ein knarrendes Gebrauchtes, gerade gut genug für Stadtfahrten.

Stahnke faltete die Zeitung zusammen und blätterte erneut, diesmal von hinten. Aha, hatte er es sich doch gedacht. Viele Seiten kamen ihm von Layout und Schlagzeilenstil her bekannt vor. Politik, Kultur, Wirtschaft, Sport – alles nicht hier auf der Insel produziert, sondern vom Festland geliefert. Sogenannte Mantelseiten. Praktisch alle Provinzzeitungen arbeiteten so. Lediglich Lokales und Regionales wurden vor Ort gemacht. So konnte man viel Personal und Kosten sparen.

Gestern Abend, als Sina noch in der Klinik gewesen war, hatte Stahnke ausgiebig Fernsehnachrichten geschaut; so kamen ihm die meisten Meldungen bekannt vor. Die Kommentare überblätterte er, nachdem er einen Blick auf die Namen der Verfasser geworfen hatte. Schubladendenker mit schematisierten Ansichten, vielen Dank auch. Schnell war er auf diese Weise wieder beim Lokalen angelangt.

Der Aufmacher der Seite drei schien eine bunte Geschichte zu sein: »Rentnergang auf Krawall gebürstet« – keine besonders kuschelige Überschrift, fand Stahnke. Es ging um eine Gruppe von vier älteren Männern, die sich jeden Nachmittag am Langeooger Bahnhof einfanden, nicht nur, um dort auf den Bänken zu hocken und von alten Zeiten zu schwärmen, sondern, das machte der Artikel in süffisanter Weise deutlich, über alles und jeden herzuziehen. Und das nicht eben zurückhaltend. Lokalpolitiker, Kurdirektion, Geschäftsleute – bei den Inselsenioren kam keiner gut weg. Die meiste Häme aber wurde über die Badegäste ausgeschüttet. »Touristenplage« war noch einer der milderen Ausdrücke, die der Autor zitierte. Hallo, das ging ja ans Eingemachte! Welcher Journalist traute sich denn da, dermaßen Geschäftsschädigendes zu verfassen?

Der Name des Autors stand unter dem Text. In Fettdruck. Trotzdem traute der Hauptkommissar seinen Augen kaum. Marian Godehau. Wie, zum Teufel, kam der denn hierher?

Stahnke kannte Godehau seit Jahren, allerdings als Redakteur der Regionalen Rundschau in Oldenburg. Und vor allem als Ex-Freund von Sina Gersema. Wieso, fragte er sich, tauchte der jetzt plötzlich auf Langeoog auf? Sofort beschlichen ihn ungute Gefühle. Verlustängste, genauer gesagt. Für die er sich postwendend schämte. Hatte Sina ihm nicht unmissverständlich klargemacht, dass sie ein selbstständig denkender Mensch war und keine Sache, die man besitzen und demzufolge auch verlieren konnte? Ja, das hatte sie, und sein Verstand hatte das auch kapiert. Aber sein Verstand war auch nicht für derartige Ängste zuständig.

Erneut blätterte er, suchte und fand das Impressum. Aha: »Zuständig für Langeoog: Marian Godehau.« Kein zweiter Name war aufgeführt, also war Marian hier als Einzelkämpfer unterwegs. Und weiter oben: »Herausgeber und Verlag: ZG Regionale Rundschau GmbH, Oldenburg.« ZG? Vermutlich Zeitungsgruppe, riet Stahnke. Auf jeden Fall aber war die Sache klar. Die Rundschau, die schon vor Jahren Kooperationsverträge mit ostfriesischen Zeitungen abgeschlossen hatte, um ihren Einflussbereich zu erweitern, hatte sich den Inselboten komplett einverleibt und die Redaktion vor Ort mit einem ihrer eigenen Reporter besetzt. Vermutlich hatte man dessen Stelle in Oldenburg direkt eingespart; so etwas nannte man heutzutage »kostenneutral«.

Und warum ausgerechnet Marian? Der hatte sich schon immer für maritime Themen interessiert, sicher. Aber doch nicht für Kurbetrieb! Und nie hatte er Anzeichen gezeigt, aus Oldenburg weg zu wollen. Es mussten also besondere Gründe vorliegen. Entweder machte sich der Bursche tatsächlich immer noch Hoffnungen auf Sina – oder …

Der Hauptkommissar spürte, wie ein hämisches Grinsen seine Mundwinkel auseinandertrieb. Marian war schon immer unbequem gewesen. Eigensinnig, kritisch, nicht leicht zu führen. Mit so einem taten sich Vorgesetzte schwer, das wusste er aus Erfahrung. Was lag da näher, als den Unruhestifter in die Wüste zu schicken? Genau, in die Sandwüste. Die zur Sicherheit auch noch von Schlick und Nordseewasser umgeben war. Tja, so konnte es gehen.

Stahnkes Grinsen aber hielt nicht lange vor. Warum auch immer, Marian Godehau war hier, das war Fakt. Und es passte ihm gar nicht. Wie lange wohl schon? Und warum hatte Sina ihm noch nichts davon erzählt? Lief da womöglich doch etwas hinter seinem Rücken? Hastig trank er seinen Kaffeebecher leer, verschluckte sich, unterdrückte einen Hustenanfall. Die gute Morgenlaune war dahin.

Und wie um das Maß voll zu machen, piepte jetzt auch noch sein Handy. Warum hatte er es bloß nicht deaktiviert? Jetzt war es zu spät. Seufzend zückte er das Gerät und schaute aufs Display. Sein Seufzen wurde zum Stöhnen.

»Was gibt es, Kramer? Ich habe heute frei.«

»Weiß ich. Moin erst mal.« Oberkommissar Kramer klang stoisch wie immer. »Trotzdem wäre es besser, wenn du herkommen könntest. Marina Bingum. Mordsache.«

»Steht das schon fest?«

»Tja, die Kollegen zählen noch die Einstiche«, erwiderte Kramer ungerührt. »Trotzdem würde ich mich mal auf ein Ja festlegen.«

»Na denn.« Stahnke beendete das Gespräch ebenso grußlos, wie er es begonnen hatte. Natürlich hatte Kramer richtig gehandelt, den Leiter des 1. Leeraner Fachkommissariats auch an dessen freiem Tag zu informieren und hinzuzuziehen. Trotzdem nahm er es ihm übel.

Er schaute auf die Uhr: 6.50 Uhr. Die Inselbahn zur ersten Fähre des Tages fuhr in 20 Minuten. Das war locker zu schaffen. Also dann. Von wegen, ein Frühsommertag am Sandstrand.

Sina schlief immer noch. Er weckte sie nicht, legte ihr nur einen Zettel auf den Küchentisch. Dann machte er sich mit schleppenden Schritten auf den Weg zum Bahnhof.

Wut und Wellen

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