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HELDEN UND LEHRMEISTER DIE OSTWAND DER ROFANSPITZE MIT HIAS REBITSCH
ОглавлениеEnde der Sechzigerjahre, mit Mitte 20 – ich hatte schon das Glück gehabt, in der „großen Kletterwelt“, im Karwendel und in den Dolomiten, ein wenig herumzuschnuppern –, nützte ich einen herrlichen Herbsttag, um im Rofan zu wandern. Ohne ein konkretes Ziel bummelte ich zum Zireiner See und weiter in Richtung Rofanspitze. Vorsichtshalber, man weiß ja nie, hatte ich aber doch ein 30 Meter langes Seil und meine Kletterausrüstung mitgenommen, falls mich die Lust überkommen sollte, in irgendeine Wand einzusteigen. Um einige Gämsen, die am Marchgatterl herumtollten, machte ich einen Bogen und fand mich plötzlich am Einstieg der Rofan-Ostwand wieder. Ein wirklicher Klassiker: Ernst Schmid, der „Rofan-Papst“, hatte diese Route im vierten Grad erstbegangen.
Schöne Erinnerungen wurden in mir wach. Eigentlich hatte mein wirklich extremes Felsklettern im Rofan begonnen. Ich war Schüler der Glasfachschule Kramsach – ein idealer Ausgangspunkt für Touren in dieser überschaubaren Gebirgsgruppe östlich des Karwendels. Mit Kollegen stieg ich in jenen Jahren beinahe jedes Wochenende im Frühsommer und Herbst zur Bayreuther Hütte hinauf, zur Lisi und zum Fritz, und tags darauf trieben wir uns in irgendwelchen Routen herum. Eine herrliche, unbeschwerte Zeit unter gleich gesinnten Freunden. Einige Male war damals ein älterer, sympathischer Mann mit dabei, eben besagter Ernst Schmid. Er war an der Erschließung vieler Routen im Rofan maßgeblich beteiligt gewesen, hatte alle damals wichtigen Wände erstbegangen und freute sich immer wieder, wenn er unsere Leidenschaft für „seine“ Wände spürte. Ernst gehörte der Generation vor Hermann Buhl und Mathias Rebitsch an, die ja ebenfalls ihre ersten Kletterlorbeeren im Rofan geerntet hatten. Die Routen von Buhl oder auch jene von Rebitsch wurden mit dem damals höchsten Schwierigkeitsgrad bewertet, galten als „obere Sechser“.
Ich hatte das Glück, zwei dieser schweren Anstiege als Zweitbegehung machen zu können: das Buhldach an der Nordseite des Rofanstocks und die Dachverschneidung am Sagzahn, ebenfalls eine Route von Buhl. Beim Buhldach war Hansjörg Stops aus Rattenberg mein Partner gewesen. Als ich nun so am Einstieg zur Ostwand der Rofanspitze saß, erinnerte ich mich mit Grauen an den Wolkenbruch, der einsetzte, als ich an jenem 13. Oktober 1962 versuchte, den äußerst schwierigen Quergang oberhalb des riesigen Dachs anzugehen. Hansjörg saß eingeklemmt in einer winzigen Nische etwa zwei Meter unter mir. Ich musste von einem wackligen Haken, den Buhl 1947 mit Sicherheit bloß mit dem Daumen hineingedrückt hatte, nach links weg über eine Platte und traute mich einfach nicht. Ich hatte einfach nur Angst.
Mir war klar: Würde ich jetzt stürzen, würde ich nirgendwo anschlagen, sondern 40 Meter unter diesem 15 Meter ausladenden Riesendach hängen. Aber hätte ich dann noch die Kraft, wieder zurück zum Stand zu prusiken? Wie bei vielen anderen gefährlichen Unternehmungen, wenn die Situation wirklich aussichtslos erschien und ich einfach nicht mehr wusste, wie es weitergehen soll, kam von irgendwoher eine unterstützende Kraft. Fast meinte ich, eine Stimme zu hören, die mir sagte: „Tu es, es wird gut ausgehen.“ Und es ging gut aus. Irgendwie schwindelte ich mich über die glitschige Platte, erreichte einen „Bombenhaken“, und nach sechs Stunden lag der Spuk hinter uns. In mein Tourenbuch schrieb ich dazu: „Kurz oberhalb des Hakens ist ein kleines Zapfl mit Platz für drei Finger. Von diesem Zapfl Querung (5 Meter) nach links aufwärts zu Haken, über eine fast griff- und trittlose Platte. Oberer VI. Grad, schwerste Stelle, auch gefährlichste.“
Während ich am Einstieg saß und meinen Erinnerungen nachhing, hatten sich unbemerkt zwei ältere Herren in kurzen weißen Hosen und mit Skistöcken dem Wandfuß genähert und schauten zu mir her. Der kleinere von beiden sagte plötzlich: „Du bisch der Habeler.“ Ich bejahte, und schnell kam meine Gegenfrage: „Und du bisch der Hias?“ – „Ja“, sagte sein Begleiter, „des isch der Rebitsch.“ Das war der Anfang einer langjährigen, herzlichen Freundschaft mit einem Menschen, den ich über alle Maßen schätzte, nicht nur wegen seines unglaublichen Könnens in Fels und Eis und seiner unzähligen Erstbegehungen. Besonders gefielen mir sein hintergründiger und doch feiner Humor und seine nette Art des Erzählens. Ich habe selten jemanden derart spannend erzählen gehört.
Wir plauderten ein bisschen, und plötzlich fragte Hias, der zu diesem Zeitpunkt in seinen späten Fünfzigern war: „Was tuesch denn iatz?“ Meine Antwort: „I woas nit, i bin grod a bissl spaziern gangn.“ Da schlug er vor: „Gemma ’s Ostwandl, nimmsch mi mit?“ Und ob ich ihn mitnehmen würde. Etwas nervös holte ich das Seil aus dem Rucksack, hatte aber nur einen Klettergürtel dabei, den ich Hias anbot. „Brauch i nit, i soal mi umen Bauch an“, war seine kurze Antwort. Gesagt, getan.
Hias hatte weiße Tennisschuhe an. Ich traute mich aber nicht zu fragen, ob er Kletterpatschen mit dabeihätte. Deswegen wechselte auch ich meine Schuhe nicht, obwohl ich ganz tolle neue Kletterschuhe im Rucksack hatte. Irgendwie, so dachte ich, musste ich mich ja dem Hias anpassen. Rudi Olbrich aus Schwaz, Rebitschs bester Freund, der mit ihm häufig Wanderungen im Rofan und im Karwendel unternahm und sich auch in schlechten Zeiten rührend um ihn kümmerte, freute sich mit uns, als wir einstiegen.
Ich bemühte mich, so elegant wie möglich zu klettern. Die ungewohnt steifen Bergschuhe machte mir dennoch zu schaffen, und ich hoffte, dass Hias nicht so genau hinschaute. Die Ostwand ist ein schöner Anstieg, Dreier-Stellen mit guten, festen Griffen, teilweise steckt man in Rissen. Die Schlüsselstelle, ein kurzer Drei-Meter-Quergang über eine glatte Platte, hatten wir gleich hinter uns. Dann folgte der obere Teil, grasdurchsetzter Fels. Haken gab es genug. Ich war fasziniert, wie gut Rebitsch ging. Er kletterte schnell und mit einer Behändigkeit, die nicht nur für sein Alter außergewöhnlich war. Kein einziger Moment der Unsicherheit; es war herrlich, ihm zuzuschauen.
Kurz unterhalb des Ausstiegs – ich bemühte mich, tunlichst nicht die Grasbüschel als Griff zu benützen – hörte ich Hias’ Stimme: „Früher hamma a des Gras hergnomma, des hebt ja, oder?“ Wir lachten beide. Meine Freude war unbändig. Wer in meiner Generation hatte denn schon dieses Glück, einmal mit Hias Rebitsch im Fels unterwegs zu sein?
Das dicke Ende kam erst, als wir nach einer guten Stunde im Gras oberhalb unseres „Ostwandls“ saßen. „Peda, is dir heit nix aufgfalln, wegen meine Tennispatschn?“ – „Na, Hias, warum aa, du bisch ja super gangen!“, war meine Antwort. Da sah ich erst, was los war: Seine Tennisschuhe waren alt, und durch den Abrieb während des Kletterns hatte sich der poröse Gummi auf der Sohle völlig abgelöst. Er war auf einem „Kugellager“ geklettert – und mir war das überhaupt nicht aufgefallen. Jetzt war ich doppelt froh, dass ich meine nagelneuen Kletterpatschen im Rucksack gelassen hatte.