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JEDER HAT SEINEN ACHTTAUSENDER

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Einer der besten französischen Alpinisten, Lionel Terray, bezeichnete uns Bergsteiger als „Eroberer des Unnützen“ – zu Recht, möchte man meinen. Als Lebensraum eignet sich das Gebirge nicht sonderlich, und auch irdische Reichtümer sind auf den Gletschern und Gipfeln nicht zu holen. Was ist dann der Grund dafür, dass sich doch so viele Menschen im Gebirge aufhalten, Wanderungen, Klettertouren, Gletscherüberquerungen unternehmen und sich in den Bergen Kraft und Ausdauer für das Leben „im Tal“ holen?

In der Tat ist es nicht leicht, die Faszination des Bergsteigens zu beschreiben. Sind es die Farben, die besonders intensiv dem Jahreslauf folgen? Ist es die Mächtigkeit, die imposante Erscheinung der Gipfel, und gleichzeitig die unglaubliche Ruhe, die das Gebirge ausstrahlt? Kann es sein, dass man aus Neugierde auf einen hohen Berggipfel steigt, um quasi wie mit einem Weitwinkel der Kamera mehr zu sehen und zu erkennen als in einem engen Tal?

Ich bin im Zillertal geboren und im Gebirge aufgewachsen, und als Kind war es wohl eher die Neugierde, die mich zum Bergsteigen gebracht hat. Wie sieht es da oben aus, finde ich dort etwas, was es im Tal nicht gibt? Irgendjemand hatte einmal erzählt, man könnte das Meer sehen. Nun, das Meer habe ich in den heimatlichen Bergen nicht gesehen, aber ich erlebte eine Fülle von äußerst intensiven, herrlichen Eindrücken, die mich formten und meinen weiteren Lebensweg bestimmten.

Ich wurde Bergsteiger, Bergführer; wenn man will, könnte man auch Abenteurer sagen. Mein Hobby, das Bergsteigen, wurde zu meinem Beruf. Ich hatte das Glück, Freunde zu kennen, die mir das Wesentliche für das Überleben im Gebirge beibrachten. Aber nicht nur das technische Rüstzeug wurde mir mitgegeben, sie lehrten mich vor allem auch den Respekt vor der Natur und ihrer Größe.

Möglichst viele Spielarten des Alpinismus kennenzulernen, das war mir wichtig. Kletterrouten im leichten und im extremen Gelände, Anstiege im steilen Eis, lange, ausgedehnte Gratklettereien über eine Reihe von mehreren Gipfeln … Durch intensives Training erreichte ich eine große Sicherheit in den Bergen. Häufig kletterte ich bei schlechtestem Wetter. Ob es regnete oder schneite – was kümmerte mich das? Wichtig war die Erfahrung, das Erleben möglichst vieler verschiedener Situationen.

Mein „Verschleiß“ an Seilpartnern war groß. Viele von ihnen wussten mit mir irgendwann nicht mehr viel anzufangen. Es ging ihnen alles zu schnell, und wenn ich damals nach zehn bis zwölf Stunden schwerster Kletterei am Gipfel meine obligaten Karotten auspackte und während des Kauens schon wieder zum Aufbruch drängte, hassten sie mich. Ich war besessen, kletterte viel allein, Touren im höchsten Schwierigkeitsgrad im Wilden Kaiser, an Fleischbank, Totenkirchl und Predigtstuhl, in der schnellstmöglichen Zeit. Aber nicht die Zeit als solche war mir wichtig. Schnell zu klettern bedeutete, einem möglichen Gewitter auszuweichen, bedeutete Sicherheit.

Mitte der Sechzigerjahre lernte ich einen jungen Südtiroler Bergsteiger kennen – Reinhold Messner. Instinktiv wusste ich: Das wird mein Partner. Reinhold hatte die gleichen Ideen, war unglaublich schnell, sowohl im Fels als auch im Eis, und genau wie ich wollte er Neues. Gemeinsam „wieselten“ wir durch die Eiger-Nordwand, in knapp zehn Stunden. Wir wussten um unsere Fähigkeiten und wollten neue Maßstäbe setzen – an den hohen Bergen der Welt.

1969 durchstiegen Reinhold und ich die über 50 Grad steile Ostwand des Yerupaja, eines Sechstausenders in Peru. Wir waren um Mitternacht in die Wand eingestiegen, kletterten teilweise seilfrei und erreichten unseren Ausgangspunkt kurz vor Mitternacht des gleichen Tages. Mit Messner war in der Tat alles möglich, seine Sicherheit und seine technischen Fähigkeiten im schwersten alpinen Gelände waren unerreicht. Wir passten zusammen und ergänzten uns. Unsere weiteren gemeinsamen Unternehmungen, nun im Himalaja, standen unter einem guten Stern. Unsere Erfolge machten uns selbstsicher, aber nie übermütig; wir wussten immer, wann es Zeit war, umzukehren.

Im Zusammenhang mit dem Bergsteigen wird immer wieder gern zitiert, dass der Weg das Ziel sei. Für meine aktive Zeit als Kletterer und Höhenbergsteiger möchte ich dieser Aussage widersprechen. Auch wenn der Weg wichtig ist, mein eigentliches Ziel war nie der Weg, sondern immer der Gipfel, die maximale Leistung. Auf dieses Ziel war ich fokussiert. Um meine Ziele zu erreichen, musste ich die eine oder andere gefährliche Situation in Kauf nehmen. Doch ich tat das nicht aus Todessehnsucht; indem ich die Gefahren überwand, den Tod riskierte, konnte ich den Wert des Lebens umso deutlicher erkennen.


Peter Habeler am 8. Mai 1978 kurz vor dem Südgipfel: Mit Reinhold Messner gelang ihm die erste Besteigung des Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff.

Nach vielen Jahren im Gebirge hat das Bergsteigen für mich heute noch denselben Stellenwert wie früher, wenn ich auch nicht mehr so ungestüm bin, nicht mehr so wild. Meine Heimat sind gleichermaßen die europäischen Alpen wie auch das Dach der Welt, die Himalajaberge. Jedes Jahr, zumeist im Herbst, zieht es mich unweigerlich nach Nepal. Die Ziele sind nicht mehr so hoch gesteckt. Meine Partner, mit denen ich die prächtigen Hochgebirgstäler durchwandere oder auch diesen oder jenen Gipfel besteige, kommen mittlerweile aus aller Herren Länder.

Wenn ich mit Gästen unterwegs bin, passe ich mich an ihre Geschwindigkeit an, was manchmal auch bedeutet, sich relativ langsam fortzubewegen. Bin ich allein, gehe ich sehr schnell, dann tanze ich, dann springe ich auch. Es ist mir ein Vergnügen, rhythmisch und gezielt Fuß vor Fuß zu setzen, schnell und präzise den Platz für den nächsten Schritt zu wählen. Ich bin ein leidenschaftlicher Geher. Das Gehen ist für mich überhaupt das Maß aller Dinge. Gehen ist meditativ. Sehr langes Gehen führt an die Grenze der Erschöpfung. Man erreicht unweigerlich einen toten Punkt. Dann muss man sich auf gut Deutsch „einen Tritt in den Hintern geben“ – dann wird es plötzlich ganz licht, hell und schön. Das muss nicht am Everest sein. Je nach persönlichem Können reicht dafür ein Dreitausender, ein Viertausender, eine Kletterroute an der eigenen Leistungsgrenze, eine Trekkingtour über hohe Pässe. Jeder, der ins Gebirge geht, hat seinen Achttausender.

Heute versetze ich keine Grenzen mehr, aber ich lote immer noch, immer wieder meine eigenen Grenzen aus. Auch wenn ich immer noch gern schnell gehe, immer noch höhentauglich bin, bin ich natürlich nicht mehr so agil und leistungsfähig wie früher. Die großen alpinistischen Meilensteine setzt heute eine andere, junge Generation. Dies nicht sehen zu wollen wäre verblendet.

Was mich jedoch jung hält, ist die Tatsache, dass ich weiterhin Ziele habe. Ziele, die meinem Können und meiner Verfassung entsprechen. Sicher, meine Routen werden leichter, meine Gipfel niedriger werden. Aber ich werde weiterhin Ziele haben und Herausforderungen suchen.

Doch die Berge sind nicht nur Herausforderung für mich. Sie sind auch ein Ruhepunkt. Selbst wenn ich schlecht gelaunt von daheim weggehe, weil mir etwas durch den Kopf geht, was ich nicht klären kann – sobald ich unterwegs bin, auf dem Weg nach oben, fällt diese Beklemmung von mir ab. Ich habe Zeit, um meinen Gedanken nachzuhängen, um die Maßstäbe wieder zurechtzurücken. Der Kopf wird frei. Ich gehe auf einen Gipfel, und wenn ich wieder herunterkomme, bin ich ein anderer Mensch.

Immer noch erobern wir Bergsteiger „Unnützes“, tun Dinge, die rational nicht erklärbar sind, und fühlen uns wohl dabei. Es muss etwas dran sein am Gehen, am Überwinden, am Suchen und Finden von Lösungen. Langes Gehen, ausgedehntes Wandern – das ist Balsam für Seele und Körper. Am Berg fühle ich Kraft und Wärme. Wenn ich mir für mein weiteres Leben etwas wünschen darf, so lautet dieser Wunsch, dass ich noch möglichst lange gehend unterwegs sein kann. Und vielleicht dabei auch noch den einen oder anderen Gipfel erreiche.

Das Ziel ist der Gipfel

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