Читать книгу 100.000 Schritte zum Glück - Peter Hinze - Страница 11

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Wenn alles läuft wie geplant, wird Tsering auf dem zweiten Teil meiner Reise nicht mehr mit uns unterwegs sein, umso mehr brauche ich einen zuverlässigen einheimischen Begleiter. Samdup ist die beste Wahl, ohne Zweifel. »Diese Reise wird mich an meine Heimat Upper Mustang erinnern. Ich liebe es so sehr, in den Bergen unterwegs zu sein«, freut sich der Mustangi – und keinerlei Zweifel sind angebracht.

Während wir auf das Essen warten, gelingt es mir, drei Träger anzuheuern, die hinter einem Zaun, der Flugfeld und Ziegenwiese notdürftig voneinander trennt, auf Arbeit warten. Es sind junge Burschen aus dem tieferen und somit milderen Gebiet Rukum, die in den Sommermonaten als Tagelöhner in den Höhenlagen von Upper Dolpo Arbeit suchen. In der Regel verdienen sie nicht viel. Ich versuche, eine Ausnahme zu machen, daher einigen wir uns schnell auf einen Lohn für zwei Tage Arbeit, denn wir planen, in Ringmo Tserings Schwester zu treffen. Pferde werden dann unser Gepäck über die drei 5000er-Pässe schleppen. Für den weiteren Aufstieg erscheinen mir die drei Träger, die aus derselben Familie stammen und sich deshalb mit ihrem Verwandtschaftsgrad ansprechen, nur bedingt gerüstet. Das wird schon beim Blick auf ihr Schuhwerk klar: Sie alle tragen zerschlissene Sandalen.

Der Dal Bhat kommt auf den typischen, vierteiligen Metalltellern, die in ganz Nepal fester Bestandteil des Alltags sind. Wir sitzen zu dritt an einem runden, wetterschiefen Holztisch, von draußen dringt beständig schwülheiße Luft durch die offenen Fenster. Noch immer hat der Monsun das Tal fest im Griff. Es sieht nach Regen aus: Ein untrügliches Zeichen dafür, dass wir uns zügig auf den Weg machen sollten.

Ich zahle das Essen und zwei Thermoskannen heißes Wasser und wir treten vor die Tür. Juphal, am Berghang gelegen, erweist sich als wilde Ansammlung von Bretterhütten und Verkaufsbuden. Unten im Tal führt eine Schotterpiste am mächtigen Thuli-Bheri-Fluss entlang und verschwindet in östlicher Richtung am Horizont hinter einer Kuppe.

Dort muss in nicht allzu weiter Ferne Dunai liegen, die »Hauptstadt« und der Verwaltungssitz für ganz Dolpo, immerhin der größte der 77 Distrikte Nepals. Er gliedert sich in zwei Teile: Lower Dolpo ist vergleichsweise dicht besiedelt und – nach nepalesischen Maßstäben – einigermaßen entschlossen. Seine Bewohner sind zu über 80 Prozent hinduistisch geprägt. Unser Ziel dagegen ist Upper Dolpo. Fast so groß wie das Saarland, aber nur von 6000 bis 8000 Menschen bewohnt, vereint der Distrikt so viele Superlative von der nepalesischen Negativliste auf sich, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll.


Naturgewalt – nach heftigen Monsunschauern haben Wassermassen die Brücken über den Sulighat als Treibholz ins Tal hinuntergespült.

Upper Dolpo ist eine der einsamsten und unzugänglichsten Regionen des Landes und liegt zu rund 90 Prozent 3800 Meter über dem Meer. Die Bewohner, die sogenannten Dolpo-pa, gehören zu den bedrohten Völkern und waren bis vor Kurzem quasi von der Außenwelt abgeschnitten. Eine Tatsache, der es zu verdanken ist, dass sich hier eine der ursprünglichsten Lebensformen des gesamten Himalayas ebenso erhalten hat wie ein sehr traditionelles tibetisches Religionsverständnis.

Dem »Abgeschnittensein von der Außenwelt« ist es aber auch geschuldet, dass es keine Krankenhäuser, kein entwickeltes Bildungssystem und keine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln gibt, dafür aber zahllose Krankheiten, eine hohe Kindersterblichkeit, kaum Kommunikationsmöglichkeiten, keine Stromverbindungen und – neben der Mangelernährung – in den harten Wintern nicht selten Hungersnöte.


Erschwerte Orientierung – Erdrutsche und Schlammlawinen säumen das Flussufer des Sulighat am Morgen.

Die Wurzeln der Region lassen sich bis ins 7. Jahrhundert zurückverfolgen, als das heutige Upper Dolpo zum alten, sagenumwobenen Königreich Zhangzhung (tibet. Xang Xung) gehörte. Die Bön-Religion (engl. Bon) ist hier seit Menschengedenken wichtigster Eckpfeiler des Lebens. Der ursprünglich aus dem tibetischen Norden stammende, noch heute praktizierte Glaube ist primär animistisch geprägt und bezieht seine Kraft aus einer engen Verbindung zur Natur und zur Einsamkeit. Zu Upper Dolpo passt es genau, dass Bön häufig auch mit »Leere« oder »Einsamkeit« übersetzt wird. »Für uns Tibeter ist Bön die ursprüngliche Religion und die kulturelle Tradition unserer Vorfahren, die das tibetische Leben in vielen Aspekten geprägt hat», so Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama über Bön, die heute vielen als die älteste lebendige Religion der Jetztzeit gilt.

Magische Kräfte, Schamanen, Geister, Ahnenkult und Dämonen sind von großer Bedeutung und werden oftmals mit Naturphänomenen oder der extremen Landschaft in Verbindung gebracht. Sichtbarer Unterschied zum tibetischen Buddhismus, der erst später aus dem Süden nach Upper Dolpo drang, ist noch heute die Tatsache, dass Bön-Anhänger Heiligtümer und Mani-Wälle, die Anhäufungen von mit heiligen Mantras verzierten Steintafeln, in anderer Richtung als Buddhisten umrunden, also gegen den Uhrzeigersinn. Politisch wurde Upper Dolpo seit jeher in wechselnde Lager verschoben. So erklärten Königreiche wie Tibet, Mustang oder Jumla ihre Ansprüche, ehe im 19. Jahrhundert Nepal das Gebiet übernahm – eine Regierung, die bis heute vor allem durch ihr Desinteresse an Land und Menschen auffällt.

Offiziell beginnt Upper Dolpo oberhalb einer Linie von Ringmo im Westen und Dho Tarap im Osten. Eine Grenze, die für westliche Alleinreisende einen markanten Unterschied darstellt: Pro Woche sind in Lower Dolpo für Ausländer 10 US-Dollar Gebühr für den Trekking-Permit fällig, in Upper Dolpo sind es jedoch 100 US- Dollar pro Tag. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb im gesamten Jahr 2019 nur 430 Ausländer dies Abenteuer wagten, zumal ihnen die Empfehlung mit auf den Weg gegeben wird, unbedingt an Zelte und die komplette Verpflegung zu denken, um möglichst als autarke Selbstversorger unterwegs zu sein. Schließlich gibt es offiziell so gut wie keine Unterkünfte und auch die Einheimischen können kaum von den knappen Nahrungsmitteln etwas erübrigen.

Bei Sulighat – das Taxi ist längst verschwunden, Dunai liegt schon in Sichtweite – beginnt unser Aufstieg. Auf dem Trail nach Shyangta rinnt der Schweiß in Strömen. Die beschlagenen Gläser meiner Brille tauchen die Landschaft in ein milchiges Licht. Dazu kommen Wolken aus kleinen Wassertropfen, die von den tosenden Fluten heraufwirbeln. In einer Waschmaschine mag es nicht wilder zugehen. Gespeist von unzähligen kleinen Zuflüssen, die nach dem tagelangen Monsunregen längst ihre Unschuld verloren haben, ist der Fluss zu einem Strom angeschwollen.

Der Lärm ist ohrenbetäubend. Doch ich genieße diese ersten Stunden des Unterwegsseins. Ich hole den kleinen Abstand zu Tsering auf, die vor mir geht, und rufe ihr gegen den Lärm des Flusses zu: »Wie fühlst du dich?«

»Großartig. Wir sind noch längst nicht am Ziel, aber ich spüre schon jetzt die positive Energie, die einem nur die Heimat geben kann.«

»Was hast du am meisten vermisst in all den Jahren?«

»Die Sommeralmen. Jogurt, Käse, Milch und all die grünen Wiesen. Das Wasser ist so klar und rein. Wir achten die Natur und respektieren sie seit Generationen. Wir streben nicht nach Reichtum, wir streben nach Respekt für unsere Mitmenschen, nach Zufriedenheit und nach Glück. Wir fühlen uns als Gemeinschaft, das macht uns stark – und lässt uns überleben.«

»Das klingt aufregend in der heutigen Zeit, Tsering.«

»Diese Überzeugungen sind die Basis unseres Lebens und unseres Alltags. Aber ich muss dir noch etwas anderes sagen: Diese Reise hat für mich eine ganz besondere persönliche Bedeutung. Sie wird zu einem sehr wichtigen Teil meines Lebens. Aber gedulde dich: Ich werde dir alles über mich erzählen, wenn wir angekommen sind. Jetzt ist noch nicht die Zeit«, lässt mich Tsering im Ungewissen.

Der ausgewaschene Trail zieht sich menschenleer mal enger, mal weiter entfernt am Flussufer entlang. Wir treffen kaum Einheimische. In den wenigen Dörfern wirken die Lehmhäuser verwaist. Niemand, der sich den Gefahren und dem Wetter an diesem Spätnachmittag in der Zeit des Monsuns aussetzen will. Wir spüren den Himmel an den reißenden Ufern des Sulighat feucht auf unserer Haut.

Bei Shyangta, einem kleinen Dorf mit wenigen Häusern, die sich hinter schönen Gärten verstecken, verlassen uns Kraft und Motivation. Wir folgen einem Wegweiser zum Sunita-Hotel, treffen dort auf eine lebensfrohe Gastgeberin. Sunita bietet uns gern Zimmer an, hat aber nicht mit unserem Erscheinen gerechnet. »Warum seid ihr hier heraufgekommen? Am oberen Flusslauf sind Brücken vom Hochwasser weggerissen worden. Es gibt kein Weiterkommen. Auch von oben hat es seit Tagen niemand zu uns herunter geschafft.«

Die Nachricht drückt die Stimmung, die sich auch nicht verbessert, als einige Nachbarn beginnen, unsere weiteren Pläne zu diskutieren. Längst ist klar: Es gibt hier kein Weiterkommen, es muss nur eine Antwort auf die Frage gefunden werden: Tagelang in Shyangta warten oder absteigen, um dann den Umweg über das Tal des Tarap Khola zu versuchen?

An diesem Abend überwiegt die Müdigkeit. Für eine Entscheidung fehlt mir die Kraft. Im Innern hoffe ich, dass sich am Morgen die Lage positiver zeigen wird.

100.000 Schritte zum Glück

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