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Heimat ist auch ein Gefühl

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Flug SMA181 landet pünktlich um 9.10 Uhr in Juphal – allerdings mit genau einem Tag Verspätung. Schlechtes Wetter gilt als Grund. Die Enttäuschung hält sich dennoch in Grenzen. Nur vier Passagiere sind an Bord der nepalesischen Summit Air. Eine junge Frau steigt als Letzte aus. Sie klingt zufrieden: »Ich bin auch schon einmal eine Woche später angekommen.«

Wer sich auf den Weg an »das Ende der Welt« macht, der sollte wissen, dass es keine gute Idee ist, pünktlich zum Abendessen zu Hause sein zu wollen. Auch kann Google Maps dort nicht helfen, wo es keine Straßen gibt, sondern nur Berg und Tal soweit das Auge reicht. Für dieses Ziel gilt nur ein Versprechen: täglich neue Abenteuer in unbekanntem Terrain – welch seltenes Glück des Unterwegsseins. Eine Entdeckungsreise auf der Suche nach dem Glück liegt vor mir und nach Zufriedenheit in turbulenten Zeiten, zu Landschaften und Menschen – und vielleicht auch ein Stück zu mir selbst.

Mit der Landebahn von Juphal, vor gut dreißig Jahren in die Landschaft geschlagen und erst jüngst durch eine Asphaltierung von der Liste der weltweit gefährlichsten Flugfelder gestrichen, habe ich eine erste Zwischenstation erreicht. Bis zum Ziel werden es, so meine vorsichtige Planung, noch fünf Wandertage sein. Auf dem Weg dorthin sind drei Pässe mit mehr als 5000 Metern Höhe zu überqueren.

Die Maschine der Summit Air hebt schon nach wenigen Minuten zum Rückflug nach Nepalgunj ab. Wenn alles gut geht und das Wetter stabil bleibt, landet der gleiche Flieger in knapp drei Stunden noch einmal hier. Sicher ist die Rückkehr nicht – und das liegt nicht nur an den Unwägbarkeiten der Meteorologie: Fliegen in Nepal birgt immer ein hohes Risiko und Summit Air hat seinen Anteil daran.

In Juphal ist mit dem Abheben der Maschine die Verbindung zur Außenwelt gekappt, Einsamkeit und Ruhe sind wiederhergestellt. Es gibt keine Eile, also bestelle ich im wohl besten, weil einzigen Restaurant im Hotel Mount Putha Dal Bhat, das nepalesische Nationalgericht aus Reis, Linsen sowie einer sauren Gemüsebeilage – für drei Personen. Denn ich bin nicht allein unterwegs, Tsering Sumjok und Samdup Gurung begleiten mich.

Vor zwei Jahren habe ich meinen ganz persönlichen Eindruck vom Himalaya gewonnen, dem »Sitz der Götter« und der »Wohnstätte des Schnees«. Ich bin auf dem Great Himalaya Trail von Kanchenjunga im Osten nach Darchula im Westen einmal quer durch Nepal gelaufen: insgesamt 1864 Kilometer in 87 Tagen, davon fast 100 000 Höhenmeter bergauf.

Facettenreicher kann man den Himalaya in Nepal kaum entdecken: Mal ragte der Makalu mit seinen 8481 Metern am Horizont auf, wenig später schwitzte ich in den Reisfeldern des Tieflandes bei über 30 Grad. Dann stand ich am Fuße des Mount Everests, in dessen Schatten ein Schneesturm auf dem Tashi-Labsta-Pass fast das Ende meines Abenteuers erzwang, bevor in Langtang der Monsun mit Regenmassen und Unmengen von Blutegeln das Weiterkommen erschwerte. Dafür konnte ich am Manaslu die Stille genießen und eine Landschaft, deren berauschende Vielfalt sich kaum in Worte fassen lässt. Upper Mustang lässt mich nach der schon so touristischen Annapurna-Runde wieder tief in die tibetische Tradition eintauchen. Und in The Far West bewegten mich die Einsamkeit und die beeindruckende Freundlichkeit der Bewohner, die nur selten Ausländer willkommen heißen können.

Zugleich lernte ich die Probleme und Ängste der Bergvölker kennen, die seit Generationen einem unwirtlichen Leben am Berg – zumeist erfolgreich – trotzen. Doch bedingt durch Klimawandel und Zivilisation trägt der Himalaya vielerorts ein gar nicht mehr so fernes Verfallsdatum, konnte ich erkennen.

Am lebhaftesten aber blieb mir die Durchquerung von Upper Dolpo in Erinnerung. In sieben Tagen legte ich mit drei befreundeten Sherpas fast 180 Kilometer in totaler Einsamkeit zurück. Sechsmal steigt der Trail in dieser kurzen Zeit auf über 5000 Meter Höhe. Trotz der enormen Anstrengung: Upper Dolpo war die Krönung meines Laufs auf dem Great Himalaya Trail.

Monate nach meiner Rückkehr, ich schrieb in München die letzten Kapitel an einem Buch über das Abenteuer, erhielt ich eines Nachts eine E-Mail: »Upper Dolpo ist meine Heimat, aber ich lebe schon lange in Kathmandu. Ich habe Heimweh, doch eine Reise ist für mich unmöglich. Wir sind eine arme Bauernfamilie. Mit Ihren Fotos fühle ich mich meiner Familie, die ich seit vielen Jahren nicht gesehen habe, so nahe. Danke.«


Lauf-Abenteuer – der Autor lief 1864 Kilometer auf dem Great Himalaya Trail durch Nepal. Schönster Abstecher: durch die Berge von Upper Mustang, um Lo Manthang zu erreichen.

Später komme ich in Kontakt mit der Schreiberin und treffe die junge Frau zweimal in Kathmandu. Ihr Name: Tsering Sumjok. Bei unserem letzten Treffen verspreche ich ihr: »Ich lade dich ein! Wir reisen zusammen in deine Heimat.« Heute ist es soweit: Wir sitzen zusammen beim Dal Bhat in Juphal. Herrlich.

Ich habe einen weiteren Begleiter gefunden: Samdup Gurung, einen jungen Design- und Kunst-Studenten, den ich durch Zufall in einem Café in Kathmandu kennengelernt habe. Er gefällt mir sofort. Der 21-Jährige kommt aus Upper Mustang, wo seine Eltern schon früh verstarben, hält sich mit einer Art kreativem Wahnsinn halbwegs in der Hauptstadt »über Wasser«, zeigt sich extrem freundlich und kommunikativ, spricht gutes Tibetisch und begegnet, wie sich später besonders zeigen wird, älteren Menschen und ihren Traditionen mit höchstem Respekt. Er kann seine tibetische Kindheit nicht verbergen, zum Glück!

100.000 Schritte zum Glück

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