Читать книгу 100.000 Schritte zum Glück - Peter Hinze - Страница 20

Normalität gibt Halt

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Das Tal von Dho Tarap atmet Leichtigkeit. Die engen Felsschluchten des Aufstiegs verlieren in der Erinnerung ihren Schrecken. Die Sonne fällt schon zu früher Stunde auf die knapp fünfzig Häuser, die sich mit ihrem dunklen Stein aus den grünen Gerstenfeldern erheben. Über dem Dorf stehen weiße Rauchfahnen als optischer Beleg dafür, dass ein neuer Tag wie üblich in der wärmenden Küche mit Yakbuttertee und Tsampa beginnt.

Unsere drei freundlichen Träger aus Rukum haben bereits in der Morgendämmerung den Rückweg ins Lower Dolpo angetreten. Am Abend zuvor hatten sie mir einstimmig mitgeteilt, dass sie noch nie einen solch dramatischen und hindernisreichen Auftrag gemeistert hätten, und der Jüngste unter ihnen, plötzlich gesprächig, ergänzte: »Schön, dass du noch lebst! Wenn du es noch einmal machen willst, melde dich, wir sind wieder dabei.« Wir nahmen uns in die Arme – und bestellten Dal Bhat, sie hatten sich die Stärkung mehr als verdient.

Dho Tarap, »das Tor ins Upper Dolpo«, verdankt den Ruf als »geschäftiges« Handelszentrum vor allem seiner perfekten geografischen Lage – Dho ist aus allen Himmelsrichtungen gut zu erreichen. Kurz nach dem Frühstück kann ich die gute Lage auch hören, denn der Sound von Motorrädern hallt lautstark vom nahen Fluss herüber. »Seit einigen Tagen gibt es eine Piste, die bis hinauf nach Tinje, Shimen und weiter an die tibetische Grenze führt«, freut sich ein alter Mann, der seine Ziegen zum Fluss führt. »Die jungen Leute kaufen jetzt diese Maschinen in China. Es ist wohl die neue Zeit.« Doch als eine seiner Ziegen Gefahr läuft, beinahe die neue Zeit nicht mehr zu erleben, trübt sich seine Freude und er schimpft auf einen jungen betrunkenen Halbstarken, der zwar ein Motorrad besitzt, aber keinerlei Fahrkenntnisse. Wer sollte auch nach einem Führerschein fragen: In Upper Dolpo gibt es so gut wie keine Polizei oder andere Vertreter des Staates.

Im Dorf ist die Moderne unüberhörbar, doch oben am Berg residiert ein Mahner, der lange schon vor den Folgen des Fortschritts warnt. Optisch könnte er auch als Erinnerung an die Hippiezeit der 1970er-Jahre durchgehen, bei den Einheimischen besitzt er jedoch heiligen Kultstatus und einen klangvollen Namen: der hochverehrte Dolpo Amchi Namgyal Rinpoche. Lädt der 53-Jährige zu Puja-Andacht und Gebet oder öffnet seine Kräuterkammer für Kranke – so zeigen die Facebook-Einträge seiner Tochter –, pilgern Gläubige in Scharen Richtung Ribo Bhumpa Gompa, der er als leitender Rinpoche vorsteht, er, einer der erfahrensten tibetischen Ärzte weltweit.

Als Rinpoche, der Reinkarnation eines ranghohen Lamas, ist ihm die Verehrung der Menschen im Tal »von Amts wegen« sicher. Doch er belässt es nicht bei frommen Worten, sondern arbeitet für den World Wildlife Fund (WWF), sammelt Spendengelder für Bedürftige und kämpft für die Rettung der traditionellen Medizin. Mehr gute Taten fürs Karma lassen sich kaum anhäufen.

Lange schon versuche ich vergeblich, den Heiligen vom nahen Berghang zu sprechen: Er sei selten zu Hause, ein Treffen deshalb schwierig zu vereinbaren, ließ man mich mehrmals wissen.

Doch nun ist es nur ein kurzer Aufstieg zur Gompa, von wo der Blick herrlich über das Tal geht, und ich bin gespannt, ob ich ihn dort antreffe.

Traditioneller kann ein Haus in Upper Dolpo nicht sein: Getrockneter Yakdung stapelt sich hinter der Eingangstür bis unter die Decke; ein abgewetzter Baumstamm, in den Stufen geschlagen sind und der als Leiter dient, führt in den ersten Stock, wo zwei Frauen in der Wohnküche Gebetsmühlen kreisen lassen. Es riecht nach Yakbutter in dem rußgeschwärzten Raum.

Schnell gelingt es Tsering, die Sympathien von Nyishar Lama, der Ehefrau des Amchis, zu erobern, dazu reicht, dass sie die klassische Willkommensfrage bejaht: »Darf ich dir etwas von meinem Tsampa anbieten?« Das geröstete Gerstenmehl ist zugleich der ganze Stolz der Dolpo-pa, den man gern mit Besuchern teilt.

Tsampa sei Dank kommen wir schnell ins Gespräch. Auch die Frage nach ihrem wichtigsten Besitz in der geräumigen Küche lässt Nyishar Lama nicht lange unbeantwortet. Sie geht zu einem kleinen Schrank, auf dem ihre Gebetsmühle liegt: »Sie begleitet mich immer. Zu Hause nehme ich diese große, unterwegs auf Reisen habe ich eine kleinere. Die ist handlicher«, strahlt sie, setzt das Schwunggewicht in Gang und murmelt ein kurzes Gebet unter den Augen von Nyima Lhamo, deren Anblick meine Aufmerksamkeit auf sich zieht: Die jüngere Schwester leidet ganz offensichtlich an Polydaktylie, die sich bei ihr durch einen doppelten Daumen an der rechten Hand zeigt. Meinem Erstaunen wird in der Küche nicht weiter Aufmerksamkeit geschenkt. »Es gibt viele Menschen in Upper Dolpo, die Missbildungen an Händen oder Füßen haben«, stellt Nyishar nüchtern fest. Nyima lacht – und hebt die Daumen. »Vielen Menschen bei uns gelten zwei Daumen als Glückszeichen.«


Heiliger mit Ausstrahlung – Dolpo Amchi Namgyal Rinpoche in der Küche seines Wohnhauses

Wir trinken köstlichen Tee – die Blüten, so die Hausherrin, habe ihr Mann selbst in den Bergen gesammelt – und warten geduldig, schließlich werde der Amchi gleich zurückkommen, so hat er es am Telefon versprochen. Tatsächlich, in Dho gibt es seit Kurzem eine Telefonverbindung, die geeignete geografische Lage zwischen den Bergen und Nepal Telecom haben es möglich gemacht. Der Fortschritt ist also schon da – und wenig später auch der Amchi, der plötzlich strahlend in der Küche steht. Kein Zweifel: Der Typ könnte in Europa schnell die Herzen vieler Follower gewinnen, so mein erster Eindruck beim Anblick des Mannes, der seine Haare cool zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden hat. Wir kommen schnell ins Gespräch: »Ich kenne dich, du hast mal vor einigen Jahren Fotos in unserem Kloster gemacht. Du bist in unserer sehr langen Geschichte der erste Läufer, der in Sportkleidung in unseren heiligen Räumen saß!«

100.000 Schritte zum Glück

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