Читать книгу 100.000 Schritte zum Glück - Peter Hinze - Страница 16
ОглавлениеUnbeschwerter Morgen – der Aufstieg von Nawarpani beginnt im ersten goldenen Sonnenlicht.
Wir haben es geschafft – nach einer guten Stunde. Wir spüren die Nässe nicht, denn wir genießen den Moment und die Gewissheit, unseren Aufstieg zumindest jetzt fortsetzen zu können. Wir sehnen uns danach, Tarakot zu erreichen, unser Ziel für diesen Tag.
Müde, frierend, und doch zufrieden liege ich auf meinem Schlafsack. Vom Balkon vor meinem Zimmer, eigentlich eine Vorratskammer, höre ich das Kreisen einer Gebetsmühle und die leisen Mantras des greisen Hausherrn. Draußen zieht Dunkelheit auf. Ich schlafe erschöpft ein.
Wir sind auf dem Weg, mehr Motivation braucht der neue Morgen nicht. Bei Laisicap strahlt überraschend die Sonne vom fast blauen Himmel, es ist Zeit für die Mittagspause. Im Schatten einer Plastikplane, die die Decke einer baufälligen Hütte, auf die wir stoßen, nur notdürftig ersetzt, steigt die Temperatur rasch in hochsommerliche Bereiche. Von draußen kommt kaum ein Luftzug, dafür hüllt der Rauch des offenen Feuers, auf dem wie üblich Dal Bhat-Reis kocht, den Raum ein.
Gefährlicher Mittag – Stunden später verliert sich der Trail an einer Felswand, die kein Weiterkommen erlaubt und unerwartete Gefahren birgt.
Nur unsere Köchin, eine junge Frau, deren Lachen leicht mit der Lautstärke des nahen Thuli Bheri konkurrieren kann, genießt die Ankunft der seltenen Gäste ausgelassen. Das Kochen des Dal Bhat beschleunigt sich dadurch trotzdem nicht. Wie gewohnt vergehen fast zwei Stunden Warten.
Genug Zeit, dass sich oben in meiner Teetasse eine Schicht toter schwarzer Fliegen so dicht sammelt, bis die Farbe des Tees darunter kaum noch zu erkennen ist. Zur gesundheitlichen Sicherheit greife ich zu meiner fast leeren Wasserflasche und bleibe auch dem verspäteten Dal Bhat fern. Bald dränge ich zum raschen Aufbruch. Der Nachmittag bringt keine weiteren Überraschungen, im Gegensatz zur Nacht, die wir mit fünfzehn weiteren Gästen in einem Großzelt in Nawarpani verbringen.
Dho Tarap (kurz Dho genannt), das Tor ins wirkliche Upper Dolpo, wie die Einheimischen sagen, ist nur noch eine Tagesetappe entfernt. Aber ich hatte ganz offensichtlich die Lektion, in der Abgeschiedenheit niemals zu viele Pläne zu schmieden, noch nicht wirklich gelernt.
Nur gut eine Stunde nach dem Aufbruch von Nawarpani müssen wir feststellen, dass die Wassermassen des Tarap Khola ebenfalls einige Brücken weit hinunter ins Tal gespült haben. Sie liegen als Treibholz im Flussbett. Diesmal bedarf es keiner Diskussionen: Jede notwendige Querung der reißenden Wassermassen ist unmöglich. Also suchen wir gleich nach einer Alternative – und finden sie in Gestalt einer jungen Frau, die uns euphorisch und überzeugend eine Abkürzung durch die Berge empfiehlt. »So könnt ihr heute Nacht in Toltol schlafen«, verspricht sie. Von dort wäre es leicht, am nächsten Tag in Dho anzukommen.
Wir folgen ihr hoffnungsvoll in die Berge und kommen gut voran. Den Fluss erkenne ich bereits weit unter uns. Doch plötzlich ragt eine schroffe Felswand steil auf, durch die kein Weg zu erkennen ist. In der allgemeinen Ratlosigkeit sucht jeder für sich nach einer eigenen Route. Ich treffe die falsche Wahl, versteige mich knapp unter dem Bergsattel und verliere an einem zu glatten Felsvorsprung den Halt.
Es sind Bruchteile von Sekunden, in denen mir klar wird, mein Dolpo-Abenteuer (und vielleicht sogar noch mehr) könnte in diesem Augenblick ein vorzeitiges Ende finden. Doch geistesgegenwärtig stellt einer der Träger, sonst eher still und zurückhaltend, seinen Fuß vor den Felsvorsprung, schiebt seine abgetretene Sandale unter meine Schuhsohle und gibt mir für einen Moment Halt, den ich blitzschnell nutze, während ich mich gleichzeitig an einem niedrigen Wacholderbusch festhalte. Ich schaue in einen Abgrund, der tief genug ist für einen unglücklichen Ausgang. Ich höre Tsering aufschreien und kaum später das Aufatmen der Träger: Ich bin in Sicherheit, aber auch an diesem Umweg sind wir gescheitert.
Abends am Feuer, erneut in Nawarpani, herrscht Stille. »Wir dachten, du stirbst«, sind sich alle einig. Selbst unsere einheimische Begleitung stimmt leise zu – ich kann nicht widersprechen, weil ich mich kaum an Details erinnern kann. Mir stehen Tränen in den Augen.
Wieder ist eine Alternative gefragt und wir entscheiden uns für den langen, aber hoffentlich sicheren Weg durch das Hinterland. Zwei Tage lang passieren wir steile Hänge, laufen über sanfte, mit Blumen übersäte Bergwiesen. Die Natur zeigt sich in einer berauschenden Vielfalt, umgeben von einer fast schon beängstigenden Einsamkeit. Es ist eine wundervolle Wanderung. Nicht nur auf Tserings Gesicht kann ich in diesen Momenten eine überwältigende Zufriedenheit erkennen. Wahrscheinlich wandere ich als seit Jahren erster Ausländer über diese abgelegenen Wiesen. Ein Blick auf die Landkarte? Zwecklos, dieser Trail ist nirgendwo verzeichnet.
Kurz vor einer Passhöhe sehen wir am Horizont einen Hirten mit seiner Schafherde ziehen. Aus der Ferne dringen seine Pfiffe herüber, mit denen er die Hunde dirigiert, dann kommt der Schäfer näher. Die Verwunderung, hier in der Einsamkeit auf Fremde zu treffen, hat seine Neugierde geweckt – oder vielleicht ist es auch nur die Hoffnung auf eine Zigarette, die wir ihm anbieten können.
Auf seinen Wanderstab gestützt, hockt er vor uns auf der Wiese, die in Rosa leuchtet. Überall blüht dicht an dicht der Wiesenknöterich. »Manchmal sehe ich Amchis, unsere traditionellen Ärzte, in dieser Gegend, die die Blüten und ihre Wurzeln sammeln. Sie nennen die Blume Menlo« – er benutzt den tibetischen Namen und erzählt, sie helfe bei Lungenproblemen und Darmstörungen, doch seine Miene verrät Skepsis. Für ihn dienen die Almen offensichtlich zuallererst als satte Hänge zum Grasen für seine fast zweihundert Schafe. »Ich bin am liebsten allein mit meinen Tieren und dem Himmel«, sagt er zum Abschied. Doch dieser Worte hätte es nicht bedurft, denn seine Freude über die Einsamkeit ist unverkennbar. Bevor der Hirte Richtung Herde verschwindet, dreht er sich noch einmal um und ruft laut: »Danke für die Zigarette!« Wir lachen, er strahlt zufrieden und geht kraftvollen Schrittes in seine Welt zurück – eine Welt ohne den Fremden und ohne die Fragen nach Menlo.
Unsere Zelte stehen in dieser Nacht in einer Talsenke unter einem bedrohlich überhängenden Felsen, während weit entfernt in der Tiefe der Tarap Khola tobt. Am nächsten Morgen kommt eine Mulikarawane zügig den Berghang hinauf. Ihr Anführer erzählt, auch sie habe der tosende Fluss in die Berge des Kirlung Danda gezwungen, aber wir sollten beruhigt sein. »Ihr seid auf dem richtigen Weg, nun geht es bergab und in einer guten Stunde seht ihr den Trail nach Dho.«
Und wirklich taucht schon bald oberhalb von Sisaul unsere ursprüngliche Route am Horizont auf. In Langa Camp essen wir mit Genuss und Heißhunger chinesische Instantsuppen. Wir stoppen nur kurz, denn die Atmosphäre in diesem typischen Sommerlager, das vor allem Reisenden die Möglichkeit für eine Rast bietet, bildet einen krassen Gegensatz zu dem, was wir in den vergangenen beiden Tagen erlebt haben: Hier flimmern ohne Unterbrechung lautstark Bollywood-Musikvideos über den Bildschirm, während meine Gedanken noch ganz in den einsamen Bergen und beim glücklichen Schäfer und seiner Herde sind. Ich sehe das zufriedene Gesicht des alten Mannes vor mir, wie er in stiller Nacht allein auf einer Almwiese liegt. Vielleicht denkt er dabei an die Fremden, denen er begegnet ist, und wünscht sich, noch einmal mit ihnen zusammen zu sein – denn es wäre seine Chance auf eine weitere Zigarette. Ich halte es für sehr gut möglich – und schlafe kurz ein.
Als ich vor das dunkle Videozelt trete, strahlt die Sonne über dem felsigen Tal. Der Tarap Khola wirkt heuchlerisch friedlich, dabei hat dieser verdammte Fluss uns den Aufstieg so unglaublich schwer gemacht.
Doch jetzt zieht sich das Tal sanft hügelan. Nach knapp zwei Stunden liegt Dho im Blickfeld, oben am Hang überragt von der berühmten Ribo Bhumpa Gompa, in der ich schon lange auf eine Verabredung mit dem verantwortlichen Rinpoche hoffe. Allein, der Aufstieg gerät erneut ins Stocken – aus einem inzwischen seltenen, traditionellen Grund: Auf dem schmalen Trail am Fluss kommt langsam eine Yak-Karawane näher. Elf vollbepackte Tiere laufen voraus, gefolgt von einer vierköpfigen Familie.
»Wo kommt ihr her?«
»Natürlich aus Tibet. Wir sind vor zwei Tagen gestartet. Die Zeit des Handels ist vorbei. Die Grenze ist wieder geschlossen. Aber es war sowieso kein gutes Geschäft. Jetzt ziehen wir runter ins Tal. Wir sind spät dran. Wir müssen weiter. Tashi Delek.«
Sie wünschen »Viel Glück« und »Wohlergehen«, dabei könnten sie diese Wünsche selbst gut gebrauchen, denn inzwischen gehören solche Yak-Karawanen zu den letzten ihrer Art. Über Jahrhunderte bildete der Handel mit den tibetischen Nomaden das wirtschaftliche Rückgrat für ganz Dolpo. Die Dolpo-pa transportierten Getreide und Reis aus dem Süden Nepals auf das »Dach der Welt« und nahmen dafür auf dem Rückweg tibetisches Steinsalz mit in die Heimat. Dieser Handel hatte einen doppelten Effekt: Er garantierte eine regelmäßige Einnahmequelle und ergänzte zugleich den kargen Speiseplan.
Doch dann änderten sich die Zeiten: Subventioniertes Salz aus Indien, wenn auch von schlechterer Qualität, löste die Tibetware ab. Bald gab es den nächsten Rückschlag fürs Geschäft: Der Handel mit Yasarghumba, einem Raupenpilz, den die Dolpo-pa auf Tibetisch »Sommergras-Winterwurm« nennen und der schon seit Generationen zur allgemeinen Grundausstattung eines Amchis gehörte, bestimmte plötzlich das komplette Wirtschaftsleben. Denn der chinesische Glaube, dieses »Yasar« könne die männliche Potenz in ungeahnter Weise anregen, ließ aus einer braunen Wurzel die vielleicht teuerste natürliche Medizin weltweit werden. Zu den Spitzenzeiten zahlte man in China auch schon mal 90 000 US-Dollar pro Kilo.
Dieser Boom ist abgeflaut, denn der Klimawandel und eine zu intensive Ernte – pro Saison kamen bis zu 30 000 Sammler aus ganz Nepal – ließen dem Pilz in den letzten Jahren kaum Zeit zum Wachsen. Damit versiegte die wichtigste Einnahmequelle der Dolpo-pa, doch das Comeback der Karawanenführer blieb aus. Denn die Chinesen zerstörten ihre letzte Hoffnung und unterbanden den Tsongra Duee, den traditionellen Grenzhandel mit Tibet, fast gänzlich. »Früher gab es den Markt zweimal jährlich. Doch seit den Olympischen Spielen 2008 in Beijing riegeln die Chinesen die Grenze immer mehr ab. Sie haben Angst, Tibeter könnten nach Nepal fliehen. Die Chinesen sind sehr argwöhnisch geworden«, erzählt mir später ein Händler und fügt schnell hinzu: »Aber bitte meinen Namen nicht nennen. Ich traue den Chinesen alles zu.«
Wie es die Yak-Karawane vor Dho geschafft hat, über die inzwischen so schwer zu passierende Grenze zu gelangen, erzählen uns zwei alte Männer bei unserer Ankunft im Dorf: »Wenn sie um diese Jahreszeit aus Tibet kommen, dann kennen sie, wie viele andere auch, einen Pass, wo sie von den chinesischen Soldaten unbeobachtet sind«, vermuten die beiden, die vor dem Hotel Caravan sitzen, in dem wir nach fünf Tagen Wanderung endlich ein hartes Lager finden.
Ich bestelle ein Bier. Gebraut in China. Es kam also mit einer Yak-Karawane. Auch deshalb schmeckt es mir besonders gut. Dho Tarap ist erreicht. Ich hatte mehrmals den Glauben daran verloren.