Читать книгу 100.000 Schritte zum Glück - Peter Hinze - Страница 6
Prolog
ОглавлениеDie Sonne stand noch hoch über den Bergen im Westen. Der Schnee leuchtete auf dem fernen, mächtigen Kanjirowa, der weder Sommer noch Winter kennt, nur ewiges Eis.
Es gab keinen Grund zur Eile für Karma Tsering, den im Dorf alle nur Kartse nannten. Noch hatte er genug Zeit, um mit seinem besten Freund Karma Dhondup Gurung auf dem Dach des uralten Steinhauses zu sitzen, wie sie es im Sommer oft taten, wenn sie ihrer Arbeit als Schneider nachgingen.
Oder sollte er den kurzen Weg zu Tsewang und dessen Bruder einschlagen, auch sie wohnten in der Nähe. Die beiden »Unberührbaren« gehörten der Dalit-Kaste an und wurden deshalb im Dorf missachtet – vielleicht mochte Kartse sie deshalb besonders. Und sie erinnerten ihn an seine eigene schwere Jugend. Er wusste, wie sich Ablehnung anfühlte.
Doch an diesem Nachmittag wollte er nur allein mit sich und in seiner Welt sein. Er wollte in aller Ruhe weiter warten, so wie er es bereits seit Tagen jeden Nachmittag tat. Also machte er sich ohne Halt, ohne jedes weitere Wort auf zum Hang hinter dem Fluss. Zu seinem Platz.
Auf dem Weg lag die Luwa, die Quelle, aus der er jeden Morgen das Opferwasser holte, auch wenn er im Winter das Eis erst aufhacken musste. Bis zur schmalen Holzbrücke über den Fluss, gespeist durch das Wasser des heiligen Berges Mukporong, waren es nur ein paar Schritte. Einen Moment des Innehaltens gönnte er sich, einen Blick den Hang hinauf, der still und menschenleer vor ihm lag.
Kartse atmete tief, sprach aus Dankbarkeit ein Gebet und spürte: Die Götter standen ihm bei. Auf die Frage, ob er glücklich sei, antwortete er stets mit den Worten seines Herzens: »Wir haben genug zu essen, wir haben genug zum Anziehen – warum sollten wir nicht glücklich sein?«
Zum wahren Glück brauchten er und seine Familie nicht viel. Doch selbst das Wenige wollte nicht oft bei ihnen verweilen. War aber Zuversicht ein rares Gut, lud er einen hohen Lama ein. Tagelang beteten sie, rezitierten Puja-Texte und gewannen so die Hoffnung, dass das Leben langsam wieder ins Lot kam. Sie hatten genug Gründe fürs Gebet, denn das Glück zeigte sich zumeist von seiner flüchtigen Seite. Seit seiner Kindheit entstellte eine Lähmung sein Gesicht. Wie oft war er deshalb verspottet worden. Auch forderten Lepra und Tuberkulose seine ganze Kraft. Später wollten eifersüchtige Nachbarn ihn aus seiner Heimat vertreiben.
Kartse heiratete Nachok Gurung, die eine Tagesreise entfernt in Pho zu Hause war. Elf Kinder zählte im Laufe der Jahre die gemeinsame Familie. Er arbeitete hart für ihr Überleben, Tag für Tag. Was aber war der Lohn der Mühsal? Als eine seiner Töchter, einst beim Melken der Ziegen von Nachok zur Welt gebracht, nur eineinhalb Jahre lebte, erklärte man sie für tot.
Doch die Götter erhörten seine Gebete. Sie überlebte. Mehr als zwanzig karge Jahre waren seither ins Land gegangen. Kartse kannte den Wert eines Lebens. Er wusste, dass sich der Schmerz der Trauer auch nach dieser langen Zeit noch immer wie ein schwarzer Schatten auf seine Seele legen konnte. Deshalb empfand er für jeden Moment des Glückes große Dankbarkeit. Denn seine Tochter lebte noch, wenn auch fern der Heimat.
Kartse setzte sich wie gewohnt auf den großen Stein. Von hier hatte er einen Blick über das Dorf und vor allem auf den Berg. Aus einer kleinen, derben Wolltasche holte er eine Tasse mit Yakbuttertee hervor. Verknetete ihn mit ein wenig Tsampa zu einem Brei und strich sich mit den Fingern der linken Hand eine Portion in den weit geöffneten Mund. Besser konnte Heimat, besser konnte Upper Dolpo nicht schmecken.
Kartse hatte Yaks, Pferde und Weideland geerbt. Doch etwas anderes besaß für ihn viel größeren Wert. Sein Adoptivvater, ein streng religiöser Bauer, hatte ihm seinen Lotho vermacht, den tibetischen Kalender. Das Buch, dessen Alter niemand kannte, aber dessen Kraft jeder im Dorf aufs Ehrfürchtigste respektierte, war ausgerichtet an den Mondphasen und bestimmte den Tag für die Ernte, für Heirat, Himmelsbestattungen, Namensgebungen und Heilungen. Eigentlich bestimmte der Lotho jeden Schritt im Alltag. Und ein Leben ohne Lotho konnte sich niemand vorstellen.
Seit Jahrzehnten nutzte Kartse diesen Lotho, ergänzt durch eigene Beobachtungen, auch um das Wetter vorherzusagen. Er musste nicht den Himmel anschauen und wusste doch, wie das Wetter werden würde, es stand in seinem Buch – und er irrte sich nur selten, weil sich sein Lotho nur sehr selten irrte.
Er trank noch einen Schluck Yakbuttertee. Eile war nicht vonnöten. Geduld war gefragt, denn der Lotho hatte ihm schlechtes, sehr schlechtes Wetter vorausgesagt. Über den Bergen im Süden hingen tiefschwarze Wolken. In all den Tagen, die er bereits den Nachmittag über hier wartete, hatte niemand den Weg von Shey Gompa bis hoch hinauf zum Bergsattel geschafft. Er wusste, dass schwerer Regen im Süden niedergegangen war, dass Wege blockiert und Menschen in Gefahr sein konnten.
Kartse nahm seine Thaenga aus der Manteltasche, ließ die Kugeln der Gebetskette durch seine Finger gleiten. Er vertraute der Stärke der Gebete. Er fühlte, dass deren Kraft in diesen Tagen gebraucht wurde.
Es blieb still am Berghang. Als die Sonne verschwand, packte der Schneider seine wenigen Sachen, ging hinunter zum Fluss und dann hinauf zum Haus, wo Nachok Gurung in der Küche schlief.
Morgen begann ein neuer Tag. Und am Nachmittag würde Karma Tsering wieder warten. Nicht allein, sondern mit den Göttern, die ihm Geduld und Zuversicht schenkten.
Draußen zogen schwere, dunkle Regenwolken auf. Aber der Schneider musste nicht hinausschauen.
Familiärer Mittelpunkt – die Küche, mit dem gusseisernen Ofen in der Mitte, bildet neben dem Hausalter den wichtigsten Raum in einem Haus der Dolpo-pa – auch für Karma Tsering.