Читать книгу Mut braucht eine Stimme - Peter Holzer - Страница 24
Der Tornado ist ein prima Betäubungsmittel.
ОглавлениеIndem wir ständig ziellos unnötigen Input produzieren, tragen wir zu dem Tornado, der uns umtost, aktiv bei. Interessanterweise ist es in diesem Fall zunächst einfacher, den Tornado aufrechtzuerhalten, als ihn zu stoppen. Schließlich ist er ein prima Betäubungsmittel.
Bestes Beispiel ist mein Kumpel Jens. Jens hat ungefähr mein Alter, einen sehr guten Job und ist Single. Seine durchschnittliche Beziehungsdauer beträgt zwei Monate. Mit der hohen Frauenfluktuation in seinem Leben kommt er gut zurecht. Und der Akquiseaufwand ist aufs Äußerste optimiert. Um auf Jagd zu gehen, muss er sich nicht einmal physisch bewegen. Er erledigt das über eine der vielen Onlineplattformen. Die wiederum bedient er wie eine hocheffiziente Vertriebsmaschine. Hat er einmal eine gute Anmache formuliert, kann er sie kopieren und in Serienproduktion in allen attraktiven Damenprofilen hinterlassen. Dazu noch ein paar Photoshop-optimierte Fotos. Fertig. Mehr Arbeit erfordert das Dating nicht. Seitdem er jetzt zusätzlich eine der neuen Dating-Apps auf sein Handy geladen hat, muss er nicht einmal mehr schreiben. Er schaut sich nur noch die Bilder der Frauen an und wischt über den Screen: Nach rechts heißt daten, nach links heißt ablehnen.
Wenn Jens von seinen hochoptimierten Eroberungsstreifzügen erzählt, wirkt er auf den ersten Blick tatsächlich wie ein freier, wilder Cowboy. Hört man ihm aber länger zu, wird deutlich: Tief in seiner Seele sieht es düster und traurig aus. Aber er muss sich dieser Traurigkeit nicht stellen. Denn die hohe Aktivität lenkt ihn ab – dem Input-Virus sei Dank. Er versteckt seine innere Stimme vor sich selbst unter dem Deckmantel des Beschäftigtseins und fühlt sich wie ein Held, der im Tornado nicht untergeht.
Doch am Ende gewinnt der selbst angefeuerte Tornado immer über die Stimme, die sich im Inneren meldet und gehört werden will. Im Getöse, das der Tornado verursacht, hat sie keine Chance mehr, gehört zu werden. Es bleibt ihr auf Dauer nichts anderes übrig, als komplett zu verstummen.