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VORSPIEL


HERZHAFT WEINEN

Wer im Garten lauscht, hört als Klavierklangwolke, was Monate später auf den Operettenbühnen der Brüder Rotter Beifallsstürme entfesselt und selbst in Amerika wahrgenommen wird. Die gemietete Villa an der Kunz-Buntschuh-Straße 16–18 („die eisernen Tore“ sind „mit vergoldetem R geziert“)1 in Grunewald halten Kritiker wie der Berliner Journalist Stefan Großmann für „pompös“2 – sie ist für Fritz und Alfred Rotter Mittelpunkt des Lebens. Auch wenn sie mit den Zahlungen im Rückstand sind: Die rauschenden Premierenfeiern hier müssen weitergehen. Es geht „bis mittags gewöhnlich leise zu“, denn „ein Theaterdirektor kann erst um 2 Uhr anfangen“, zitiert Alfred Rotter sein Vorbild und ersten Förderer, den Regisseur Otto Brahm3. „Von zwei Uhr an war dieses vielräumige Haus in allen Zimmern besetzt und mit Geschäften und Mahlzeiten, Projekten und Konferenzen, mit Musik und Debatten angefüllt.“4

In der Villa erklingt auch zum ersten Mal ein langsamer Tangorhythmus.

Irgendwie, irgendwo, irgendwann, trat auch an mich der Augenblick heran, wo ich die Freiheit des Herzens verspielt und wo beklommen ich gefühlt: Ich bin verliebt … irgendwo, irgendwann, irgendwie, fliegt durch die Luft ein Fünkchen Sympathie, sucht ein fremdes Herz, wo es zündelt und brennt, bis man, schon halb verbrannt, erkennt: Ich bin verliebt …

Der Ohrwurm Ich bin verliebt stammt aus der Operette Mit dir allein auf einer einsamen Insel des Komponisten Ralph Benatzky. Im Dezember 1929 haben die Brüder Rotter die Aufführung in Dresden am Residenz-Theater getestet, ehe sie sie nach Berlin in ihr Metropol-Theater bringen – in jenes Haus, das nach dem Krieg als Komische Oper wiedererstehen wird.

Als Stefan Großmann, der die Rotter-Villa von innen und außen kennt, seine oben zitierte Rückschau im Januar 1933 veröffentlicht, trennen Berlin nur noch zwei Tage vom Beginn der Diktatur. Zu diesem Zeitpunkt sind die Rotters seit gut zwei Wochen insolvent und bereits außer Landes, aber scheinbar noch nicht am Ende ihrer Karriere: „Die Brüder Rotter stellen einen Typus dar, auf den Berlin nicht leicht verzichten kann, sie sind die letzten Theaterunternehmer“5, so Großmann. „Jeder, der seit fünf Jahren in Berlin als freier Unternehmer Theater betreiben wollte, ist mehr oder weniger schnell zusammengebrochen“, währenddessen „blieben die Rotters quicklebendig, sie hatten Schulden, aber immer wieder kam ein ungewöhnlicher Publikumserfolg, der sie rettete“.6

Die Erfolgsoperetten der untergehenden Weimarer Republik sind melancholisch, geheimnisvoll, wehmütig und fröhlich zugleich, berückend im Glücksversprechen, furios euphorisch und frivol, schmerzhaft sehnsuchtsvoll, mit schmachtenden Schlagern. O Mädchen, mein Mädchen, wie lieb ich dich! Wie leuchtet dein Auge, wie liebst du mich!, stimmt Richard Tauber 1928 in Franz Lehárs Goethe-Singspiel Friederike7 an. Der Tenor ist jahrelang der größte Star der Rotterbühnen, und diese Lehár-Operette, unter der „Direktion“ von Fritz und Alfred Rotter, bricht alle Rekorde: „Und so ist denn das Wunder zustandegekommen: in diesem Haus, in dem sich das getrüffeltste Publikum von Berlin […] zu versammeln pflegte, wird in die Taschentücher geschluchzt …“8

Auch der New York Times fällt die spezielle Wehmut der Rotter-Produktionen auf: Die Zeitung zitiert Alfred Rotter, den älteren der beiden Brüder, mit den Worten, das Publikum komme in eine Operette, um herzhaft zu weinen.9

Und doch: Am 25. Dezember 1931 wechseln die Brüder mit Morgen geht’s uns gut! von Ralph Benatzky das Genre zur jazzbetonten Musical-Komödie, als ob die Weltwirtschaftskrise schon fast vorüber wäre und ihnen das Wasser nicht selbst bis zum Hals stünde. Sie spüren, dass das Publikum nach Neuem verlangt, und sind sich sicher, auf der richtigen Fährte zu sein. Im Schlussgesang heißt es:

Ja, morgen geht’s uns gut, ich weiß das, morgen geht’s uns gut, was heißt das, noch ein bisschen Mut, und auf einmal blitzt auf ein Sonnenstrahl! Wie schwer’s jetzt auch ist, ich bin und bleib’ Optimist, und rufe: Morgen geht’s uns gut, das Glück, es ist uns nah! Hurrah! Hurrah!

„MORGEN GEHT’S UNS GUT!“

Ein halbes Jahr nach der Premiere von Morgen geht’s uns gut!, im Sommer 1932, sind Fritz und sein Bruder Alfred vierundvierzig und sechsundvierzig Jahre alt. Sie beide und, wie anzunehmen ist, auch eine Anzahl ihrer Angestellten folgen einem Gerichtsvollzieher namens Schablin, der das Verzeichnis der gepfändeten Gegenstände diktiert. Schauplatz ist immer noch die Villa in Berlin-Grunewald. Der Blick durch die Fenster auf das Grün kann in Anwesenheit des Pfändungsbeamten nicht beruhigen.

Das 8 Uhr-Blatt in Nürnberg, dem Fritz Rotter im folgenden Jahr im liechtensteinischen Exil das längste Interview seines Lebens geben wird, bezeichnet ihn, den Jüngeren, als „Pfiffikus, wie er im Buche steht“, als „eigentliche Triebfeder der Rotter’schen Unternehmungen“.10 Er ist der stillere, aber wenn er redet, der gewandtere der Brüder.

Alfred hingegen, einen Kopf größer, stets auf etwas unsichere Weise um Dominanz bemüht, gilt als heftiger. Vielleicht geht also der ältere Bruder neben Schablin her und macht lautstark Einwände geltend. In einem Brief betont er nur wenige Wochen später: „Wir haben die größte Mühe, trotz der großen äußeren Erfolge die täglichen Betriebskosten einschließlich der für die Premiere gemachten Vorspesen zu decken. Es ist ja auch ganz selbstverständlich, dass heute selbst ein erfolgreich arbeitendes Unternehmen nicht noch Rücklagen machen kann, denn dann hätten wir ja keine Wirtschaftsmisere.“11

Sie lassen das Speisezimmer hinter sich – den großen runden Tisch, um den herum vierundzwanzig Personen Platz finden, aber lediglich achtzehn Sessel mit Arm- und Rückenlehne verteilt sind. An der Unterseite tragen diese bereits den Pfändungs-„Kuckuck“, wie es in Berlin heißt. Auch die drei Ölbilder – zwei mit goldenem, eines mit schwarzem Rahmen, so der Beamte lapidar – sind auf diese Weise markiert, ebenso der über sieben Meter lange Orientteppich und der Wandgobelin, letzterer drei mal fünf Meter groß.

Viel Platz ist in der seit der Inflationszeit angemieteten Villa mit sechzehn Zimmern, die dem Kunstmaler Richard Mette und seiner Frau gehört und am westlichen Ende des Kurfürstendamms unweit des Halensees liegt. Fritz und Alfred Rotter müssen sich unter den Augen des Gerichtsvollziehers nicht eigens verständigen. Niemals wird von Außenstehenden auch nur ein Anzeichen einer Uneinigkeit zwischen ihnen wahrgenommen, so verschieden sie als Charaktere sein mögen. Alfred inszeniert an den Rotterbühnen und vertritt sie nach außen, die Verhandlungen führt meist Fritz. Beide wissen, es wird diesmal eng.

Der Gerichtsvollzieher schätzt auch in der Diele die breiten Teppiche, den 24-flammigen Kronleuchter, die elf Ölgemälde und die Gruppe mit Ledersofa, sechs Armlehnsesseln und rundem Tisch – und gibt einen lächerlich geringen Preis an. Während Fritz sich vermutlich zurückhält, wird Alfred, womöglich auch persönlich gekränkt, weiter auf den Mann einreden. Der wird ihm antworten, dass bei Zwangsversteigerungen – sollte es dazu kommen – nur wenig reinzuholen ist. Wer macht schon nicht Konkurs dieser Tage? Alfred Rotter mag erwidern, dass sie mehrere Theaterhäuser bespielen, hunderten von Menschen auf und hinter der Bühne Arbeit verschaffen. Doch ein Gerichtsvollzieher ist Menschen im Ausnahmezustand gewöhnt und wird sich weder einfühlend noch abweisend verhalten. Möglicherweise sagt er: Ich bin hierherbestellt worden, der Rest ist Sache der Klagenden, die ihre Ansprüche verteidigen. Zwei Leuchter zu sieben Flammen auf dem Kamin: 60 Reichsmark.12


Die Villa in der Kunz-Buntschuh-Straße 16–18 in Berlin-Grunewald (einzig erhaltene Fotografie von 1933)

Sicher macht sich auch Alfreds Frau, Gertrud Rotter-Leers, bemerkbar. Sie stammt aus Hannover, ist am 25. Dezember 1894 geboren13 und hat vermutlich selbst einmal auf Theaterbühnen gestanden – von ihrem verschollenen Tagebuch sind nur zwei Eintragungen überliefert. Trude, wie alle sie nennen, ist nicht nur öfter bei den Proben dabei, sondern auch in die Finanzverwaltung eingebunden – täglich rechnet sie mit den Kassiererinnen an den Theatern ab. Sie habe sich „zuerst in Fritz verliebt“, dann aber Alfred geheiratet,14 noch im Krieg, am 10. Juli 1917.

Die siebenunddreißigjährige Trude also fängt vielleicht einen verzweifelten Blick ihrer Zofe Klara Walter auf, weil auch ihre Worte den Gerichtsvollzieher nicht umstimmen können. Die andere Hausbedienstete, Marta Juraschewski, wird sich im Hintergrund halten, genauso wie Fritz Rotters Friseur und Diener August Wittmoser, genannt Archibald, der von sich sagt, er sei „als Faktotum“ für alles Mögliche angestellt. Archibalds besonderes Merkmal, nämlich dass er nicht größer als ein Meter vierzig und „bucklig“ ist, kümmert hier niemanden. Die bei der Tageskasse anfallenden Münzbeträge und kleinen Scheine bringt er jeweils zur Bank und kehrt mit großen Scheinen zurück.

Nicht gefehlt haben dürfte auch der Oberbuchhalter der Rotterbühnen, Conrad Wolff, der mehr weiß, als er sagen kann oder darf. Seine Räume hat er im obersten Stockwerk der Villa, sämtliche Geschäftsbücher der einzelnen Gesellschaften werden dort geführt und aufbewahrt. Es ist nicht seine Schuld, dass sich die Bücher in einem „haarsträubenden Zustand“15 befinden.

Sie schreiten ins sogenannte Herrenzimmer. Neun Ölbilder. Gleiche Geschichte. Eine Bibliothek, Eiche geschnitzt: 200 Reichsmark. Als Nächstes das Musikzimmer: Der Flügel von der Firma Grotrian-Steinweg ist zum Glück nur gemietet, seit Dezember 1929. Der Buchhalter wird den Vertrag zur Hand haben, 35 Reichsmark monatlich. Fünf Bilder. Alles wird taxiert und mit den blaugefärbten Reichsadlern als Pfandsache markiert. Zum Schluss geht es in den Salon: acht Bilder für 1340 Reichsmark. – Es ist einfach nur zum Weinen.

Alfred Rotter verweigert die Unterschrift. Schablin, der Gerichtsvollzieher, wird dessen Bruder Fritz Rotter gar nicht erst auffordern und erklärt den Vorgang trotzdem für „geschlossen“: 31 290 Reichsmark, in Gänze. Bis zur Versteigerung bleibe genügend Zeit.

Fritz und Alfred Rotter

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