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Kapitel II

Gott? Gibt es den überhaupt?

Der neuzeitliche Atheismus als Herausforderung für den christlichen Glauben

»Lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot!«

Zur Geschichte des Begriffs »Atheismus«

Der Begriff »Atheismus« (von griech. átheos = »ohne Gott«, »gottleugnend«) hat eine lange Geschichte. Als »Atheisten« wurden in der griechisch sprechenden Antike z.B. diejenigen bezeichnet, die sich weigerten, die offiziellen Gottheiten des Staatskultes anzubeten; das heißt, auch die ersten Christen waren nach dieser Definition »Atheisten«. Atheismus im heutigen Sinn, d.h. als grundsätzliche Leugnung der Existenz eines göttlichen Wesens, ist jedoch ein relativ neues Phänomen. Es wurde schon immer, zum Teil auch mit Waffengewalt, darum gestritten, wie Gott beschaffen sei und was genau sein Wille sei; dass es aber vielleicht gar keinen Gott gibt, das ist ein Gedanke, der im Zeitalter der europäischen Aufklärung, also dem 17./18. Jahrhundert, Boden gewinnt und erst im 19. und 20. Jahrhundert auch breitere Bevölkerungsschichten erfasst.

Der Atheismus der Bundesbürger neigt zur Sprachlosigkeit.

Liest man neuere religionssoziologische Untersuchungen zum religiösen Bewusstsein der Bundesbürger, dann gewinnt man den Eindruck, dass wir es zur Zeit vor allem mit einem schleichenden, versteckten Siegeszug des Atheismus zu tun haben. Wer sich ausdrücklich zum Atheismus bekennt, riskiert, seine Position, seine Lebensperspektiven und Werte, das, »woran er sein Herz hängt«, erläutern und begründen zu müssen. Er ist insofern für Christen ein sehr interessanter und anregender Gesprächspartner. Viel häufiger als dieser Überzeugungsatheismus ist heute jedoch ein stillschweigender, sprachloser Atheismus, für den die Gottesfrage anscheinend überhaupt kein Thema mehr ist, der sich nicht einmal mehr die Mühe macht, Gott auch nur abzulehnen.

Die versteckte Gottesfrage

Wohlstandsatheismus?

»Brüder und Schwestern, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist […] Und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest.« Gal 6,1

Will man die Lebensfragen, die über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg in religiösen Kategorien formuliert wurden, nicht mit einem Schlag für gänzlich erledigt und beantwortet betrachten, dann wäre zu überlegen, ob sie heute in einem anderen Rahmen artikuliert werden (in der Politik? in Talkshows? in therapeutischen Gruppen? in der Popmusik? in der Kulturszene? in den sozialen Medien?) oder ob sie nicht nur aus Hilflosigkeit und Bequemlichkeit verdrängt und beiseitegeschoben werden. Im letzteren Fall hätten wir es mit einem unkritischen und unreflektierten Materialismus zu tun, getreu dem schon in der Bibel zitierten, in einer Wohlstandsgesellschaft ganz neuen Ausmaßes aber hochaktuellen Motto »Lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot!« (1. Kor 15,32; Jes 22,13). Sollte dem so sein, dann wäre dies, zumindest für Christen, allerdings kein Grund, unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern ihre Flucht vor Fragen, die ihnen zu komplex und schwierig erscheinen, lediglich zum Vorwurf zu machen, sondern vor allem auch ein Anlass, sie zur Artikulation und Reflexion ihrer vergessenen und verdrängten Lebensfragen zu ermutigen und mit ihnen gemeinsam nach lohnenden Lebenszielen zu suchen, die ein Überschreiten von bloßen Konsumentenrollen möglich machen.

Drei Argumente gegen Gott

Da, wo Atheismus sich artikuliert, erreicht er nur selten das philosophische Niveau von Feuerbach, Marx oder Nietzsche, auf die gleich noch einzugehen sein wird. Auch wer die Gedankengänge dieser Philosophen nicht kennt, kann in der Regel drei Gründe anführen, die nach weit verbreiteter Ansicht den Glauben an Gott unmöglich machen:

1. Argument: Naturwissenschaft und Gottesglaube sind unvereinbar.

Ein Missverständnis?

Glauben, Theologie und Naturwissenschaften

• Ein erstes Argument lautet, die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften ließen sich mit einem Gottesglauben, der ja weitgehend auf märchen- und mythenhaften Annahmen beruhe, nicht vereinbaren. Gottesglaube sei vielleicht in früheren Zeiten ein angemessener Erklärungsversuch der Wirklichkeit gewesen, zu Beginn des dritten Jahrtausends sei er jedoch endgültig überholt. – Diese These beruht weitgehend auf Missverständnissen, die im nächsten Kapitel bei einer Untersuchung des Verhältnisses von Glauben, Theologie und Naturwissenschaft ausgeräumt werden sollen.

2. Argument: Der Gottesglaube hat in seiner bisherigen Geschichte wenig Positives bewirkt.

Kirche = Gott?

• Ein zweites Argument verweist auf die Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten, die im Namen der Religion und speziell auch des Christentums bereits angerichtet wurden (Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverbrennungen, Religionskriege, Verquickung von Mission und Kolonialismus, Verteufelung von Sexualität, Segnung von Kanonen, Bündnisse zwischen Thron und Altar, Missbrauch von Minderjährigen und Vertuschung der Skandale – um nur einiges zu nennen), und zieht daraus den Schluss, dass Gottesglauben bisher wenig Positives hervorgebracht habe. – Diese Kritik am bisherigen Verlauf der Kirchengeschichte ist sehr ernst zu nehmen (auch wenn die Geschichte des Christentums dabei oft allzu einseitig und polemisch dargestellt wird!), andererseits kann ein Versagen der Institution Kirche und ihrer Mitglieder aber niemals die Möglichkeit der Existenz Gottes widerlegen. Was die kritische Analyse der Kirchengeschichte belegt, ist doch nur, dass die Institution Kirche und ihre Mitglieder sehr oft das Evangelium von Jesus Christus, auf das sie sich beriefen, entstellt, in sein Gegenteil verkehrt und missbraucht haben. Daraus kann man die Notwendigkeit einer radikalen Kirchenkritik ableiten, die – ähnlich wie bei der notwendigen Kritik an Institutionen wie Schule, Staat oder Familie – aber nicht unbedingt die völlige Abschaffung von Kirche und Christentum beinhalten muss, sondern eben genauso auch ihre Reform und Erneuerung zum Ziel haben könnte.

3. Argument: Wie kann Gott das zulassen?

• Ein drittes, gewichtiges Argument entsteht aus dem Protest gegen die Fülle menschlichen Leidens, das wir sowohl in unserer näheren Umgebung als auch weltweit beobachten können. Behinderte Menschen und verhungernde Kinder, Naturkatastrophen, unverschuldete Krankheiten, soziale Ungerechtigkeiten, Kriege, Folter oder gar unvorstellbare Gräuel wie die von Auschwitz führen zu der Frage, die man in der Sprache der Theologen als Theodizeefrage (Theodizee, von griech. theós = »Gott« und díkē = »Gerechtigkeit«, wörtlich: »Rechtfertigung Gottes«) bezeichnet und die im Alltag meist in der Formulierung »Wie kann Gott das zulassen?« ihren Ausdruck findet. Diese Frage, die Georg Büchner in seinem Drama »Dantons Tod« den »Fels des Atheismus« genannt hat,10 stellt für den Gottesglauben einen nicht zu unterschätzenden Prüfstein dar.

Keine vorschnellen Antworten!

»Die Frage ›Wo war Gott in Auschwitz?‹, an der sich die verschiedensten Denker versucht haben, geht nach meiner Ansicht über menschliche Kräfte. Es mag der Mühe wert gewesen sein, die klügsten, tiefsten, persönlichsten Antworten auf diese Frage zu versuchen. Ich fühle mich dieser Frage nicht gewachsen. Es bleibt uns nur auf Auschwitz zu antworten. Und eine solche Anwort kann – so möchte ich sagen – letztlich nicht gedacht, sondern nur getan werden.« Yehoshua Amir11

Vorschnelle Antworten wie die, dass Gott die Menschen vielleicht nur auf die Probe stellen wolle oder dass die Leiden der Menschen vielleicht die Buße für begangene Untaten und Verfehlungen seien, sind aus zwei Gründen unangebracht:

– Zum einen maßen sie sich an, Gottes Pläne und Absichten zu kennen, seinen Willen berechnen zu können, was zumindest dem biblischen Gottesbild widerspricht und schon den Freunden Hiobs Tadel eingebracht hat (vgl. Hiob 42,7ff.).

– Zum anderen nützen Theorien über die Ursachen des Leids dem, der leidet, sehr wenig. Sie laufen Gefahr, zynisch und herzlos zu sein.

Sinnvoller ist es hingegen, sich zu überlegen, wie man mit dem Leid, das ja auch nach der Abschaffung des Gottesglaubens nicht aus der Welt geschafft wäre, umgehen könnte, die Frage »Wie kann Gott das zulassen?« also in die Frage »Wie kann ich mit dem Leid auf eine produktive und würdige Art und Weise umgehen?« umzuformulieren. Ob es der biblische Gottesglauben wirklich ermöglicht, mit Leiden produktiver und würdiger umzugehen als z.B. der Atheismus, kann jeder Mensch nur für sich selbst prüfen. Leiden ist jedenfalls sowohl im Alten Testament (vgl. neben dem Buch Hiob die Auseinandersetzung mit dem Leid in den Klagepsalmen!) als auch für die neutestamentliche Botschaft vom unschuldig am Kreuz hingerichteten Gottessohn nicht nur ein beliebiges Thema unter vielen.12

»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Ps 22,2; Mk 15,34

Kann man die Existenz Gottes beweisen?

Wer sich über die Existenz oder Nicht-Existenz eines göttlichen Wesens Gedanken macht, kommt sehr schnell zu der Frage, ob man die Existenz Gottes denn beweisen könne.13 In der Geschichte der christlichen Theologie, vor allem auch in der Scholastik des Mittelalters, wurden in diesem Zusammenhang sogenannte »Gottesbeweise« formuliert:

Fünf »Gottesbeweise«

Der kosmologische Gottesbeweis (von griech. kósmos = »Schmuck, Ordnung, Weltall«) schließt aus der Tatsache, dass es in der Welt Bewegung gibt und dass jedes Bewegte seinerseits von einem Anderen bewegt wird, auf die Notwendigkeit eines ersten Bewegers – »quod omnes dicunt Deum« (»und eben dies nennen alle ›Gott‹«, so die berühmte Standardformel des Thomas von Aquin, 1225–1274, am Ende seiner Beweisgänge). Eine Variante des kosmologischen Gottesbeweises geht davon aus, dass alles in der Welt eine Ursache hat, es eine endlose Kette von Ursachen aber nicht geben könne. Also müsse es eine erste Ursache geben – quod omnes dicunt Deum.

»HERR, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter.« Ps 104,24

Der teleologische Gottesbeweis (von griech. télos = »Ziel, Endzweck«) geht von der Ordnung, Zweckmäßigkeit und Zielstrebigkeit der Welt und vor allem auch der Natur aus. Aus dem Staunen über die kleinen und großen »Wunder der Natur« schließt dieser Gottesbeweis auf die Notwendigkeit eines Weltordners oder Weltschöpfers.

Der ethnologische Gottesbeweis (von griech. éthnos = »Volk«) schließt aus der Beobachtung, dass alle Völker und Kulturen – weitgehend unabhängig voneinander – Vorstellungen von göttlichen Wesen entwickelt haben, dass dann an dieser Vorstellung doch etwas dran sein müsse.

Der ontologische Gottesbeweis (von griech. on = »seiend«, »seinsmäßig«, »dem Sein nach«) geht auf den mittelalterlichen Theologen Anselm von Canterbury (1033–1109) zurück. Anselm definiert Gott als »etwas, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann.« Wäre dieser »Gott« nur ein Produkt meiner Gedankenwelt, dann könnte ich mir jedoch noch etwas Größeres denken. Wer »Gott« also so wie Anselm definiert, kann gar nicht anders, als auch seine Existenz mitzudenken.

Der moralische Gottesbeweis schließlich, der mit dem Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) in Verbindung gebracht wird, lautet: Gäbe es keinen Gott, dann gäbe es für uns Menschen letztlich auch keinen notwendigen Grund, uns moralisch und sittlich zu verhalten.

»Gegenbeweise«

Nun lassen sich zu jedem dieser sogenannten »Beweise« leicht »Gegenbeweise« führen: Warum muss es denn eigentlich einen ersten Beweger oder eine erste Ursache geben? Ist die Welt wirklich so wohlgeordnet und bewundernswert und nicht oft auch sehr grausam und unbarmherzig? Kann es sich bei den Gottesvorstellungen der Völker nicht um bloße Projektionen, um naive, heute überholte Deutungen der Wirklichkeit handeln? Darf man von etwas Gedachtem tatsächlich auf seine Existenz schließen? Muss ein Atheist, nur weil er nicht an Gott glaubt, mit Notwendigkeit ein unmoralischer und unsittlicher Mensch sein?

»Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!« Joh 20,29

Gott lässt sich nicht beweisen!

Noch schwerwiegender sind aber theologische Einwände grundsätzlicher Art: Können Menschen mit ihrem endlichen Verstand ein unendliches, alles umfassendes und allem zugrunde liegendes Wesen überhaupt beweisen? Hieße Gott »beweisen« nicht auch immer, sich Gott verfügbar und kalkulierbar machen? Und liefe das nicht zumindest dem biblischen Gottesglauben völlig zuwider? Heutige Theologen lehnen die sogenannten Gottesbeweise aus diesen Gründen in aller Regel ab. Trotzdem handelt es sich bei diesen Argumentationen nicht einfach um Unsinn. Diese »Beweise« können uns – von alltäglichen, z.T. kindlichen Erfahrungen ausgehend – anregen und dazu bringen, über »Gott und die Welt«, über Ursprung, Sinn und Ziel unseres Lebens nachzudenken. Wer sich auf die Gedankengänge der Gottesbeweise einlässt und versucht, sie zu widerlegen, hat schon begonnen, Philosophie und Theologie zu betreiben. Er hat die Scheuklappen eines gedankenlosen Materialismus abgelegt.

Ludwig Feuerbach: Gott – eine Projektion des Menschen

Als Begründer des modernen, philosophisch durchdachten Atheismus gilt der Philosoph Ludwig Feuerbach (1804–1872). Etwas spöttisch hat man ihn, der zunächst selbst Theologie studiert hatte, auch den »Kirchenvater des modernen Atheismus« genannt.

Gott ist ein Wunschgebilde mensch­licher Sehnsüchte und Hoffnungen.

Feuerbach vertritt in seinem Hauptwerk »Das Wesen des Christentums« von 1841 die These, Gott sei eine bloße Projektion des Menschen, ein Wunschgebilde seiner eigenen Hoffnungen und Sehnsüchte. Weil der Mensch es nicht aushält, unvollkommen und endlich zu sein, erfindet er sich ein vollkommenes und allmächtiges Wesen; weil er selbst nicht sterben will, erfindet er die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele; weil er die Ungerechtigkeit auf Erden nicht erträgt, kommt er auf den Gedanken einer himmlischen Gerechtigkeit. In Umkehrung eines Satzes aus dem ersten Kapitel der Bibel kommt Feuerbach zu dem Schluss: »Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.« Problematisch an diesen Projektionsvorgängen ist für Feuerbach, dass der Mensch durch sie von sich selbst entfremdet wird, dass er sich innerlich entzweit, zwiespältig wird. Religion ist die Negation des Menschen, weil sie den Menschen dazu verleitet, seine Energien an ein illusionäres Konstrukt zu verlieren, anstatt sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und die Welt nach seinen Bedürfnissen zu gestalten.

»Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn …« 1. Mose 1,27

→ Gottebenbildlichkeit

Aus »Candidaten des Jenseits« sollen »Studenten des Diesseits« werden.

Die Konsequenzen, die Feuerbach aus seinen Überlegungen ziehen muss, liegen auf der Hand. Die Vorstellungen von Gott und einer jenseitigen Welt müssen überwunden werden. Damit kommt es aber zur Negation der Negation des Menschen. Die Einheit des Menschen mit sich selbst wird wiederhergestellt. Auf diese Weise wird Theologie (Lehre von Gott) zu Anthropologie (Lehre vom Menschen), Religion wird durch Politik, das Warten auf ein besseres Jenseits durch das Engagement für ein besseres Diesseits ersetzt. Feuerbach will, wie er es selbst formuliert, die Menschen »aus Gottesfreunden zu Menschenfreunden, aus Gläubigen zu Denkern, aus Betern zu Arbeitern, aus Candidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits«14 machen.

Rückfragen an Feuerbach

»Da riss alles Volk sich die goldenen Ohrringe von den Ohren und brachte sie zu Aaron. Und er nahm sie von ihren Händen und formte das Gold und machte ein gegossenes Kalb. Und sie sprachen: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägyptenland geführt haben!« 2. Mose 32,3f.

Wer sich nun kritisch mit Feuerbachs Projektionstheorie auseinandersetzt, wird zunächst zugestehen müssen, dass Religion in der Tat mit Projektionen zu tun hat. Menschen machen sich Vorstellungen und Bilder von den Göttern, die sie verehren, und in diesen Vorstellungen und Bildern kommen biographisch, kulturell und gesellschaftlich bedingte Bedürfnisse und Sehnsüchte zum Ausdruck. Dass dem so ist, wird durch die Religionsgeschichte vielfältig belegt und durch die Erkenntnisse der modernen Psychologie, insbesondere die Untersuchungen Sigmund Freuds (1856–1939), auch weitgehend plausibel erklärt. Die Frage ist nur, ob Religion deshalb nichts anderes als, ob sie nur Projektion sein muss. Schon sehr bald wurde Feuerbach von seinen Kritikern entgegengehalten, ob denn Brot eine Projektion des Hungers sein müsse, nur weil es dem menschlichen Wunsch nach Sättigung entspricht. Aus der richtigen Einsicht, die Gottesbilder der Menschen enthielten Projektionen, lässt sich in der Tat kein logischer Schluss auf die Nicht-Existenz eines göttlichen Wesens ziehen. Ein Wesen, das menschlichen Wunschvorstellungen entspricht, kann sehr wohl auch existieren.

Muss Brot eine Projektion des Hungers sein?

Projiziert Feuerbach selbst?

Feuerbach geht bei seiner Argumentation also selbst von unbewiesenen und auch nicht beweisbaren Annahmen aus. Wenn er das Bild eines mündigeren, tatkräftigeren Menschen der Zukunft malt, projiziert er außerdem selbst; er »hängt sein Herz an« einen Fortschrittsglauben, der im 19. Jahrhundert auf viele Menschen faszinierend wirken musste, dessen negative Auswirkungen heute aber niemand mehr übersehen kann.

Die Bibel kennt das Problem der Projektion.

Hebräischer Gottesname

Speziell von der christlichen Religion her wäre vor allem darauf hinzuweisen, dass schon im Alten Testament immer wieder betont wird, dass der Gott Israels der ganz Andere, der nicht Verfügbare und Kalkulierbare sei (vgl. z.B. 2. Mose 3,14), von dem der Mensch sich kein Bild machen dürfe (2. Mose 20,4). Das Alte Testament rechnet selbst mit Projektionen und unterstreicht in den verschiedenen Phasen der Geschichte Israels immer wieder, dass der Gott, um den es geht, alle menschlichen Vorstellungen übersteigt und sprengt (vgl. dazu insbesondere auch die Religionskritik der Propheten).

Dass der biblische Gott sich nicht den menschlichen Vorstellungen fügt, zeigt sich dann auch im Neuen Testament, wenn der von den Menschen sehnsüchtig erwartete Messias als Obdachlosenkind im Stall geboren und als politischer Aufrührer am Kreuz unschuldig hingerichtet wird. Dass ein solches Gottesbild – zumindest auf den ersten Blick – nicht gerade menschlichen Wünschen und Sehnsüchten entspricht, sieht schon Paulus; er schreibt, der gekreuzigte Christus sei für den gesunden Menschenverstand der Menschen eigentlich »ein Ärgernis« und »eine Torheit« (1. Kor 1,18ff.).

Feuerbach hat dem christlichen Glauben einen Dienst erwiesen.

Zugespitzt könnte man behaupten, dass Feuerbach dem christlichen Glauben geradezu einen Dienst erwiesen hat. Er hat die Bilder und Vorstellungen, die sich auch Christen immer wieder von ihrem Gott machen, als solche entlarvt und somit Raum geschaffen für den Gott, der sich von seinem Selbstverständnis her nicht in menschliche Muster und Kategorien zwängen lassen will.

Menschen brauchen Bilder.

»Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.« 1. Kor 13,12

Dabei wäre es unbarmherzig und unrealistisch, von den Menschen zu verlangen, sie sollten sich gar keine Bilder und Vorstellungen von Gott machen. Ein Gottesglaube ohne Bilder und Vorstellungen, wie er von Bilderstürmern immer wieder einmal gefordert wurde, wäre etwas sehr Theoretisches, Abstraktes und Blutleeres, zu erreichen nur um den Preis der Unterdrückung und Leugnung von Phantasien und Emotionen. Auch die Bibel, die ja alles andere will als einen abstrakten Glauben, verwendet deshalb Bilder, wenn sie von Gott spricht (vgl. z.B. Ps 23; Jes 66,13; 5. Mose 32,4.11; im Neuen Testament die Gleichnisse Jesu). Entscheidend ist, dass wir uns unserer Projektionen bewusst werden, dass wir sie uns eingestehen und dass wir immer wieder bereit sind, sie zu modifizieren und gegebenenfalls hinter uns zu lassen.

Karl Marx: Religion als Opium des Volkes

Von der Interpretation zur Veränderung der Welt

→ Karl Marx

Karl Marx (1818–1883) nahm die religionskritischen Gedanken Feuerbachs auf und führte sie weiter. Er warf Feuerbach wie auch allen anderen Philosophen vor, sie hätten die Welt nur verschieden interpretiert, während es doch darauf ankäme, sie zu verändern. Deshalb interessiert Marx auch weniger die philosophische Auseinandersetzung mit der Gottesfrage – die hält er durch Feuerbachs Arbeiten im Wesentlichen für erfolgreich abgeschlossen –, sondern vielmehr die Analyse und Kritik derjenigen gesellschaftlichen Bedingungen, die Menschen überhaupt dazu bringen, sich in eine religiöse Phantasiewelt zu flüchten. Marx begründet seine Religionskritik also weniger durch philosophische als durch historische, soziologische und ökonomische Überlegungen, auf die im Einzelnen noch in einem späteren Kapitel zurückzukommen sein wird: »Der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät.«15

Religion als »Überbau« der Produktionsverhältnisse

Religion ist für Marx etwas aus der materiellen Not Geborenes, das Produkt ungerechter und unmenschlicher gesellschaftlicher Lebensbedingungen. Sie gehört wie Kunst, Bildung, Wissenschaft oder Philosophie zum ideologischen »Überbau« einer nach dem Prinzip wirtschaftlicher Ausbeutung funktionierenden »Basis« der »Produktionsverhältnisse« und ist somit nichts anderes als deren Spiegelbild: »Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, […] ihre Logik in populärer Form […], ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund.«16 Wenn Marx in diesem Zusammenhang Religion als »Opium des Volkes«17 bezeichnet, meint er damit zweierlei: Einerseits hat Religion eine einschläfernde, opiatische Wirkung auf die unterdrückten Volksmassen. Indem sie ihnen – ähnlich wie die Opiumpfeife dem chinesischen Kuli – ein paradiesisches Jenseits vorgaukelt, sie Demut, Gehorsam und Tugendhaftigkeit lehrt, lenkt sie von der notwendigen revolutionären Veränderung der bestehenden Gesellschaft ab. Insofern kommt sie der herrschenden Klasse sehr gelegen, zumal ihre Vertreter durch gelegentliche Almosen auch noch das Gefühl haben können, besonders wohltätig und gottgefällig zu leben. Andererseits ist Religion als Opium nach Marx jedoch auch eine Lebensäußerung »des (!) Volkes«, eine »Protestation gegen das … Elend …, der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt ,… der Geist geistloser Zustände«18 und somit auch Ausdruck eines – allerdings unzulänglichen – Widerstands gegen die bestehenden Verhältnisse.

Religion ist Droge und Protestation zugleich.

Religion stirbt in der klassenlosen Gesellschaft von selbst ab.

Marx zieht anders als Lenin (1870–1924), der vom »Opium für (!) das Volk«19 spricht und somit den Protestcharakter von Religion nicht mehr sieht, deshalb auch nicht den Schluss, man müsse Religion besonders nachdrücklich bekämpfen oder gar mit Gewalt ausrotten. Da Religion für ihn nur ein Symptom gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entfremdung ist, muss man in allererster Linie die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entfremdung aufheben. Dann, in der klassenlosen Gesellschaft, einem in jeder Hinsicht paradiesischen Zustand auf Erden, wird Religion, weil sie überflüssig geworden ist, von selbst verschwinden. Um allerdings eine solche Revolution möglich zu machen und in Gang zu bringen, muss auch die Verschleierungsfunktion der Religion, ihr ideologischer Charakter, immer wieder entlarvt und der Blick der Menschen auf das wahre und unbeschönigte Elend der gesellschaftlichen Verhältnisse gelenkt werden. Religionskritik will also »die imaginären Blumen an der Kette« zerpflücken, »nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch …«20

Rückfragen an Marx

Christliche Religion kann »Opium des Volks« sein.

→ Soziale Frage des 19. Jh.

Marx ist in jedem Fall zuzugestehen, dass sein Vorwurf der Verschleierung und Stabilisierung der ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse im Hinblick auf das Christentum des 19. Jahrhunderts weitgehend seine Berechtigung hatte. Ein selbstkritisches Christentum ist Marx insofern auch zu Dank verpflichtet. Wie noch zu zeigen sein wird, stand insbesondere die offizielle evangelische Kirche in Deutschland damals in einem unglücklichen Bündnis von Thron und Altar weitgehend wirklich auf der Seite der Reaktion und der Unterdrückung. Und auch heute dient Religion und auch christliche Religion in vielen Ländern der Welt den Herrschenden zweifellos immer noch als Opiat zur Einschläferung und Ruhigstellung der ausgebeuteten und unterjochten Untertanen.

Christliche Religion muss aber nicht »Opium des Volks« sein.

Nun wäre es allerdings falsch, derartige Phänomene mit Religion oder Christentum schlechthin gleichzusetzen. Dafür, dass Religion auch nicht-opiatische, revolutionäre Züge haben kann, gibt es ebenso viele Beispiele. Genannt seien für das Christentum des 20. Jahrhunderts hier etwa nur Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King, Camilo Torres, Ernesto Cardenal, Dom Helder Camara, Abbé Pierre oder Bischof Tutu. Dass radikales Eintreten für mehr soziale Gerechtigkeit, die Beseitigung von Armut und Elend und menschliche Gesellschaftsformen dabei dem Kern des biblischen Gottesglaubens mehr entsprechen als eine den Status quo religiös überhöhende und stabilisierende Frömmigkeit, wird im Folgenden hoffentlich noch deutlich werden.

»Darum, weil ihr die Armen unterdrückt und nehmt von ihnen hohe Abgaben an Korn, so sollt ihr in den Häusern nicht wohnen, die ihr von Quadersteinen gebaut habt, und den Wein nicht trinken, den ihr in den feinen Weinbergen gepflanzt habt. Denn ich kenne eure Frevel, die so viel sind, […] wie ihr die Gerechten bedrängt und Bestechungsgeld nehmt und die Armen im Tor unterdrückt.« Am 5,11f.

Kritisch ist zu Marx’ Religionskritik weiter anzumerken, dass an ihn, soweit er sich mit seiner Argumentation auf Feuerbachs Projektionstheorie stützt, genau dieselben Anfragen zu richten sind wie an Feuerbach. Aber auch die Punkte, in denen Marx über Feuerbach hinausgeht, provozieren eine Fülle von Fragen, deren Berechtigung zunehmend auch von marxistischen Philosophen wie z.B. Milan Machoveč, Ernst Bloch oder Roger Garaudy gesehen wurde:

Wann kommt die klassenlose Gesellschaft?

– Besteht angesichts der tatsächlichen politischen Entwicklungen im Sozialismus, insbesondere auch seit dem Zusammenbruch des Ostblocks am Ende der 80er Jahre, überhaupt noch eine realistische Hoffnung, dass die klassenlose Gesellschaft jemals erreicht werden kann?

Ist der Marxismus eine Ersatzreligion?

– Spricht nicht vielmehr vieles dafür, dass der Gedanke der klassenlosen Gesellschaft selbst Ausdruck einer quasi-religiösen Utopie ist? Gab und gibt es in kommunistisch ausgerichteten Staaaten nicht auch sonst zahlreiche Anzeichen dafür, dass es sich beim Marxismus um eine säkularisierte Ersatzreligion handeln könnte? (Vgl. z.B. die kultische Verehrung von Revolutionshelden mit der Verehrung von Heiligen, Militärparaden mit Prozessionen, die Pflege von antikapitalistischen Feindbildern mit religiösen Einteilungen in Gut und Böse, die marxistische Geschichtsphilosophie mit apokalyptischen Endzeitvorstellungen.)

Wären in der klassenlosen Gesellschaft alle Lebensprobleme gelöst?

– Selbst wenn es, aller politischen Wahrscheinlichkeit zum Trotz, tatsächlich einmal eine klassenlose Gesellschaft ohne materielle Nöte geben sollte, wären damit die Frage nach dem Sinn des Lebens, menschliche Probleme wie Schuld, Krankheit und Tod erledigt? Verkürzt zumindest der klassische Marxismus die Wirklichkeit nicht allzu sehr auf soziale und wirtschaftliche Dimensionen?

Friedrich Nietzsche: Gott ist tot!

Das Leben hat keinen Sinn.

Einen Atheismus ganz anderer Art vertritt Friedrich Nietzsche (1844–1900). Nietzsche geht davon aus, dass die Welt und das Leben ohne jeglichen Sinn sind. Er ist also Nihilist (lateinisch nihil = »nichts«) und kann deshalb auch dem humanistischen Fortschrittsglauben von Feuerbach und Marx nicht zustimmen. Jeder Versuch, der sinnlosen Welt einen Sinn zu unterlegen, ist für ihn nur ein Zeichen von Schwäche und Unaufrichtigkeit. Sein Ziel ist die schonungslose Destruktion aller weltanschaulichen und moralischen Werte und demzufolge auch die Destruktion aller Religion.

Sinngebung ist Schwäche.

Das Christentum ist eine lebensfeindliche Sklavenreligion.

Speziell dem Christentum wirft Nietzsche, selbst ein Pfarrerssohn, vor, es sei eine »Verschwörung … gegen das Leben selbst«21, eine lebensfeindliche Sklavenreligion, erkennbar schon an der geschmacklosen Kernidee eines gekreuzigten Gottessohns. Der christliche Gott sei ein Despot, der schwache, hässliche und rückgratlose Kreaturen wolle, die sich freiwillig seiner auf Feigheit und Heuchelei beruhenden Moral der Nächstenliebe unterwerfen.

Die frohe Botschaft vom Tod Gottes

Insofern ist es für Nietzsche ein Akt der Befreiung und der Redlichkeit, wenn er in seinen Schriften die ungeheuerliche Einsicht verkünden kann: »Gott ist tot!«22

Das Schwache muss überwunden werden. Der »Übermensch« soll entstehen.

Einer – falsch verstandenen – christlichen Ethik der Nächstenliebe stellt Nietzsche die Forderung nach Härte und Stärke entgegen. Er lehrt einen »Übermenschen«, der sich selbst an die Stelle Gottes setzt und sich »jenseits von Gut und Böse«23 einer ungebrochenen, rauschhaften Lebensfreude und einem schöpferischen »Willen zur Macht«24 hingibt.

Nietzsche ist kein systematischer Denker.

Nietzsche erweist sich bei all diesen oft ziemlich polemisch und aggressiv gehaltenen Ausführungen eher als Seher und Prophet, weniger als systematischer Denker. Man darf bei ihm deshalb ebensowenig nach konkreten Handlungsvorschlägen für die Organisation einer neuen Gesellschaft von »Übermenschen« suchen wie nach stringent zu Ende gedachten Gedankengängen. Nietzsche beschränkt sich auf programmatische, aphorismenhafte Thesen, die weitgehend eher als visionäre Dichtung denn als Philosophie im traditionellen Sinn gelesen sein wollen.

Nietzsche schreibt als unmittelbar Betroffener.

Gegen die Oberflächlichkeit und Leidenschaftslosigkeit des bürgerlichen Denkens

Auffällig an Nietzsches Schriften ist, dass er über den von ihm proklamierten Tod Gottes selbst zutiefst betroffen und erschüttert zu sein scheint. Er spricht vom Tode Gottes und dem damit für ihn verbundenen Zusammenbruch aller Werte und Wahrheiten nicht ruhig und distanziert, sondern in höchster Erregung. Er klagt seine bürgerliche Umgebung, und zwar insbesondere »unsere Herren Naturforscher und Physiologen«25, wütend an, sich die Konsequenzen der weltanschaulichen Krise gar nicht richtig bewusst zu machen: »… ihnen fehlt die Leidenschaft in diesen Dingen, das Leiden an ihnen.«26 Nietzsche kann und will nicht Gott leugnen und zugleich so weiterleben, als sei nur ein frommer Gedanke aus Kindertagen gestorben. Wenn Gott tot ist, dann fallen für ihn auch alle anderen Werte und Ordnungen, alle humanistischen Ideale, jede Zielgerichtetheit und Logik, jede Ethik, jede Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Wahr und Falsch.

Nietzsche für Christen? 27

Nietzsche deckt scharfsinnig und schonungslos auf, was viele bis heute nicht wahrhaben wollen: eine tiefgreifende und nach wie vor unbewältigte Krise der bürgerlichen Kultur.

An dieser Stelle muss auch eine theologische Würdigung Nietzsches ansetzen. Nietzsche ist der Philosoph einer weltanschaulichen und kulturellen Krise, deren Tragweite bis heute noch oft verkannt wird. Durch die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts wurde die Selbstverständlichkeit christlicher Denktradition in Frage gestellt und durch die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts die Selbstverständlichkeit jahrhundertealter Arbeits-, Familien- und Wohnstrukturen. Diese Aufhebung gewachsener Strukturen führte zu einer allgemeinen weltanschaulichen Orientierungskrise, die sich auf alle Bereiche der Gesellschaft erstreckt und bis heute nicht bewältigt ist. Nietzsche geißelt und verhöhnt nun erbarmungslos all diejenigen – Christen und Nichtchristen –, die diese Krise nicht wahrhaben wollen. Er unterstellt ihnen, an überkommenen Werten und Normen nur deshalb festzuhalten, weil sie sich dem Chaos der Sinnlosigkeit nicht auszusetzen wagen. Dass Nietzsche hier weitgehend richtig diagnostiziert, wird jeder bestätigen, der sich – z.B. im Zusammenhang mit der Literatur und Kunst des sogenannten »fin de siècle« – etwas genauer mit dem bürgerlichen Lebensstil des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschäftigt. Vieles war im Wilhelminischen Deutschland Heuchelei und doppelte Moral, vieles nur Fassade, wie man sich z.B. anschaulich an der Architektur von Wohnhäusern aus dieser Zeit klarmachen kann: vorne eine repräsentative Ansicht mit wohl ausgestatteten Bürgerwohnungen, dahinter zwei, drei oder mehr dunkle Hinterhöfe, vorgesehen für das proletarische Elend der Gesellschaft.

»Denn sie gieren alle, Klein und Groß, nach unrechtem Gewinn, und Propheten und Priester gehen alle mit Lüge um und heilen den Schaden meines Volks nur obenhin, indem sie sagen: ›Friede! Friede!‹ und ist doch nicht Friede.« Jer 6,13f.

Sind wir nicht alle Nietzscheaner?

Christen, die Lebensfeindlichkeit und Weltflucht predigen, können sich mit dieser Botschaft nicht auf Jesus von Nazareth berufen.

Festzuhalten wäre außerdem, dass Nietzsche, aller vordergründigen Empörung über ihn zum Trotz, der Philosoph ist, nach dessen Programm große Teile der Bevölkerung heute faktisch leben. Der von Nietzsche gepredigte, von ihm selbst aber gar nicht praktizierte Egoismus, der rücksichtslose Kampf um das Recht des Stärkeren, die oft nur notdürftig kaschierte Ellenbogengesellschaft ist für viele Mitbürgerinnen und Mitbürger heute ein in die Praxis umgesetztes Lebensmodell, meist allerdings nicht ganz so lustvoll und schöpferisch ausgelebt wie von Nietzsche beschrieben. Auch für das von Nietzsche kritisierte christliche Duckmäusertum, religiös legitimierte Verklemmtheit und Doppelmoral gibt es bis heute zahlreiche Belege. Dass sich hinter angeblicher christlicher Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Bescheidenheit oft mit persönlichen Schwächen verknüpfte Motive verbergen, kann ebenfalls nicht einfach geleugnet werden. Ob allerdings der Vorwurf zutrifft, der christliche Gottesglaube sei von seinem Kern her schlechthin eine Religion der Schwächlinge und von seinem Ziel her glücks- und lebensfeindlich, ist mehr als fraglich. Es mag hier der Hinweis genügen, dass der Gründer der christlichen Religion, Jesus von Nazareth, anders als z.B. die Mönche von Qumran, kein Asket war (vgl. z.B. Mk 2,18ff.; Mt 11,19), dass er das Gottesreich, von dem er sprach, hier auf Erden schon Wirklichkeit werden ließ (vgl. Mt 11,4f.) und dass auch sein Kreuzestod nicht zwangsläufig als Zeichen von Schwäche gesehen werden muss.

»Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!« Gal 5,1

Nietzsches Hass gegen das Schwache ist mit dem biblischen Gottesglauben unvereinbar.

→ Auf der Seite der Armen und Entrechteten

Bei allem Verständnis für Nietzsches Kultur- und Religionskritik wird sich christlicher Glaube aber vor allem an einem Punkt ganz klar von Nietzsche abgrenzen müssen: Die bei Nietzsche gedanklich zumindest angelegte und von drittklassigen Epigonen z.B. im sogenannten Dritten Reich in Massenmord umgesetzte Vernichtung der Schwachen und Wehrlosen wird sich niemals und in keinem Zusammenhang mit dem Glauben an den Gott vereinbaren lassen, von dem es heißt: »Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen« (Jes 42,3). Der Gott der Bibel zeigt sich in allen Schichten der Bibel immer wieder als ein Anwalt der Schwachen, Hilflosen und Entrechteten, und er erwartet ebendiese Haltung auch von denen, die an ihn glauben. Der christliche Glaube geht deshalb auch davon aus, dass hilfreiche Zuwendung zum Nächsten nicht geheuchelt sein und auch nicht auf Kosten der Selbstentfaltung des Einzelnen gehen muss. Denn es heißt in der Bibel nicht »Du sollst deinen Nächsten lieben statt dich selbst!« sondern »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!« (Mk 12,31 par; 3. Mose 19,18).

Noch einmal: Kann man die Existenz Gottes beweisen?

Fazit: a) Feuerbach, Marx und Nietzsche haben das Christentum auf Fehlentwicklungen aufmerksam gemacht.

Versucht man, aus dieser Auseinandersetzung mit ausgewählten Positionen des neuzeitlichen Atheismus ein Fazit zu ziehen, dann wäre zunächst festzustellen, dass das Christentum durch die Kritik von Feuerbach, Marx und Nietzsche auf Schwächen und Fehlentwicklungen aufmerksam gemacht wurde, die sonst wahrscheinlich noch lange unausgesprochen und unkorrigiert geblieben wären. Man könnte also sagen, dass die genannten Philosophen, aber natürlich auch andere, dem Christentum in geradezu prophetischer Art und Weise behilflich waren. Sie haben die christlichen Kirchen und die christliche Theologie mit Nachdruck an den Kern ihres Glaubens erinnert.

Der christliche Glaube ist ihnen deshalb zu Dank verpflichtet.

b) Die Existenz Gottes ist nicht beweisbar, sie ist aber auch nicht widerlegbar.

Darüber hinaus sollte aber deutlich geworden sein, dass man mit logischen Argumenten die Existenz Gottes ebensowenig beweisen wie widerlegen kann. Beides, die Existenz wie die Nicht-Existenz Gottes, ist logisch möglich, und es kann nur um die Frage gehen, auf welche Sicht der Wirklichkeit sich der Einzelne in seinem Leben aus welchen Gründen praktisch einlassen, d.h. wiederum, woran er »sein Herz hängen« will.

Das, was für oder gegen den Gottesglauben bzw. den Atheismus spricht, lässt sich in vernünftiger Diksussion gegeneinander abwägen, und man kann auch anhand von Biografien und Lebensbildern einigermaßen plausibel machen, wie der Gottesglaube oder der Atheismus sich im konkreten Lebensvollzug des Einzelnen und der Gemeinschaft auswirken können. Die Entscheidung für oder gegen Gott oder auch die Entscheidung, das Thema zu verdrängen oder sich bewusst nicht zu entscheiden, muss jedoch jeder für sich selbst treffen.

Die Bibel will, dass der Mensch sich entscheidet.

Dass der Mensch sich entscheiden soll und dass seine Entscheidung nicht bedeutungslos ist, ist dabei allerdings ein zentrales Anliegen der biblischen Tradition. Der Weg zum rechten Glauben kann in der Bibel sehr lang und kompliziert sein (vgl. z.B. die Biografie des Mose); er kann mit Verweigerung und Auflehnung gegenüber Gott verbunden sein (vgl. z.B. Jona oder Hiob); er enthält oft auch ein Element der Unsicherheit und des Zweifels (vgl. z.B. Mk 9,24; Joh 20,24ff.) – aber schließlich muss der Mensch sich doch entscheiden, und zwar nicht nur halbherzig, sondern ohne Wenn und Aber (vgl. dazu Lk 9,57–62). Die Offenbarung des Johannes drückt es in ihrem Sendschreiben an die kleinasiatische Gemeinde Laodizea sehr drastisch aus: »Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde« (Offb 3,15f.).

»Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.« Mt 6,24

Albert Camus: Das Leben als Sisyphosarbeit

Dass in diesem Zusammenhang die Entscheidung gegen den Gottesglauben nicht verächtlich und abwertend dargestellt werden darf, ist nicht nur von der christlichen Nächstenliebe, sondern auch von der Sache her geboten. Als Beispiel hierfür mag der französische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Albert Camus (1913–1960) dienen.28

Camus vergleicht die menschliche Existenz mit dem Schicksal der griechischen Sagengestalt Sisyphos: Das Leben ist absurd.

»Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe.« Ps 90,10

Camus vergleicht in seinem Buch »Der Mythos von Sisyphos« die menschliche Existenz mit dem Schicksal der gleichnamigen griechischen Sagengestalt. Sisyphos, der die Götter durch sein rebellisches und ungehorsames Verhalten verärgert hat, ist dazu verdammt, in der Unterwelt einen Felsblock zum Gipfel eines Berges zu rollen. Immer, wenn er kurz vor dem Ziel ist, entgleitet ihm der Fels und rollt zurück in die Tiefe. Diesem aussichtslosen Vorgang entspricht nach Ansicht Camus’ die Absurdität des menschlichen Lebens. Es gibt für ihn – wie schon für Nietzsche – keinen Sinn im Leben, und es wäre auch unwürdig und feige, sich dies aus Angst vor den Konsequenzen nicht einzugestehen. Camus bezeichnet Sisyphos als einen beneidenswerten Menschen, und zwar deshalb, weil er sein Schicksal – insbesondere auf dem Rückweg zum Fuß des Berges – durchschaut und sich im vollen Bewusstsein der Absurdität der Situation, voller Trotz und voller Würde, wieder an die Arbeit macht: »Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.«29 Anders als Nietzsche sieht Camus die Auflehnung gegen die Sinnlosigkeit des Daseins auch nicht als einen Kampf der Starken gegen die Schwachen, sondern er betont in seinen Romanen angesichts des gemeinsamen Schicksals der Absurdität immer wieder die Werte der Solidarität und der Nächstenliebe. Oft ähneln Camus’ Gedankengänge dabei sehr stark Aussagen des christlichen Glaubens, doch Camus will bewusst ohne die Hypothese eines göttlichen Wesens auskommen, weil er will, dass der »Mensch in der Revolte«30 die volle und ungebrochene Verantwortung für sein Handeln übernimmt.

Der Mensch kann die Absurdität des Lebens erkennen und dagegen revoltieren. Das gibt seinem Leben Würde.

Die Revolte des Menschen trägt Züge der Solidarität und Nächstenliebe.

Das Beispiel Camus zeigt, dass auch Menschen, die nicht an Gott glauben, »gute« Menschen sein können.

Das Beispiel Camus zeigt also sehr gut, dass eine Leugnung Gottes und selbst die Annahme einer völligen Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz nicht notwendig in Unmenschlichkeit, Unmoral und Barbarei enden müssen. Man kann die Wirklichkeit offensichtlich als absurd erleben und sich dennoch – oder vielleicht sogar deshalb – für Menschenwürde und Solidarität einsetzen. Diese Haltung verdient Respekt.

Rückfrage: Woher nimmt der Mensch die Kraft, um gegen die Absurdität des Lebens anzukämpfen?

»Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.« 2. Kor 12,9

Allerdings wird der Christ auch fragen dürfen, woher der Mensch eigentlich die Kraft nimmt, sich gegen die Sinnlosigkeit des Lebens aufzulehnen, den Stein immer wieder zum Gipfel zu rollen, warum er eigentlich Solidarität und Nächstenliebe üben soll. Der christliche Glaube gibt hier Antworten, und er wird dem perspektivenlosen Bild vom immer wieder zurückrollenden Stein auch eine geschichtliche, zielgerichtete Sicht der Wirklichkeit entgegenhalten. Ob diese Sicht oder die Sicht Camus’ die richtige ist, lässt sich jedoch mit Vernunftgründen nicht entscheiden und beweisen.

Von welchem Gott ist eigentlich die Rede?

Der Begriff »Gott« ist nicht sehr aussagekräftig. Man muss sagen, von welchem Gott man spricht.

Wichtig ist bei der Diskussion der Gottesfrage schließlich, dass man sich immer wieder vor Augen hält, dass der Begriff »Gott« solange nicht sehr aussagekräftig ist, als man ihn nicht inhaltlich präzisiert, solange man also nicht sagt, von welchem Gott man redet. Sätze wie »Alle Menschen haben doch denselben Gott« gehen nur dem leicht von den Lippen, der sich nicht näher mit der großen Vielfalt der Religionen beschäftigt hat. Fernöstliche Vorstellungen von einem allen Erscheinungen zugrundeliegenden, unpersönlichen und unveränderlichen göttlichen Seinsgrund lassen sich z.B. nur schwer vereinbaren mit der jüdisch-christlichen Vorstellung eines persönlichen, sich in einer linear verlaufenden Geschichte offenbarenden Gottes. Jahwe ist nicht Baal oder Marduk, und der dreieinige Gott ist auch nicht Allah. In den folgenden Kapiteln werden deshalb die Konturen des spezifisch biblischen Gottesglaubens genauer zu umreißen sein. Vorher soll jedoch noch in einem eigenen Kapitel auf das Verhältnis von Glauben, Theologie und Naturwissenschaft eingegangen werden.

Glauben ist menschlich

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