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Kapitel I

Was soll das alles?

Erste Überlegungen zur Frage nach dem Sinn des Lebens

Die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt man nicht jeden Tag

■ Auch Menschen, die sich nicht als besonders religiös bezeichnen würden, für die Gott vielleicht gar kein Thema mehr ist, fragen gelegentlich nach dem »Sinn des Lebens«. Wer sich auf diese Frage ernsthaft einlässt, wird schnell merken, dass sie nur die Überschrift für eine Fülle von weiteren, zum Teil eher theoretischen, zum Teil aber auch sehr existentiellen Fragen ist, die traditionellerweise im Rahmen von Religion und Theologie formuliert und reflektiert wurden:

Warum bin ich überhaupt auf der Welt? Gibt es einen Ursprung und ein Ziel allen Lebens? Oder ist letztlich alles Zufall? Welchen Unterschied macht dies für meine konkrete Lebensgestaltung? Wie hängt mein Leben mit dem Leben der anderen zusammen? Ist es egal, ob ich so oder anders lebe? Gibt es Kriterien für Gut und Böse? Gibt es überhaupt so etwas wie »den Sinn des Lebens«? Kann ich für mich und andere befriedigend leben, wenn ich davon ausgehe, dass das Leben gar keinen Sinn hat? Was ist ein erfülltes, geglücktes Leben, was ein missglücktes? Wie gehe ich mit Leid, Unrecht und Schicksalsschlägen um? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Ändert die Antwort auf diese Frage etwas an dem Leben vor dem Tod?

Man könnte also, ohne Andersdenkende und Andersgläubige vereinnahmen zu wollen, sagen, dass es sich bei der Sinnfrage – der Frage nach dem Woher, Wohin und Wozu des Lebens – um eine neuzeitliche säkularisierte Fassung der Gottesfrage handelt.6

■ Dass der Mensch überhaupt nach dem Sinn seines Lebens fragt, unterscheidet ihn aus der Sicht heutiger Verhaltensforschung vom Tier.7 Während Tiere in ihrem Verhalten weitgehend durch ihre Instinkte geleitet werden, sind diese Instinkte beim Menschen verkümmert. Der Mensch ist ein »Mängelwesen«, das einerseits die einmalige Freiheit hat, andererseits aber auch dazu gezwungen ist, sich zu entscheiden, wie es sein Leben gestalten will. Da die Möglichkeiten hierzu zwar nicht für jeden Einzelnen, aber doch für die Gattung Mensch nahezu unbegrenzt sind, sind auch die Lebensentwürfe und Lebensmodelle der Menschen je nach historischen, gesellschaftlichen und biographischen Gegebenheiten sehr unterschiedlich und vielfältig.

■ Die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt man nicht jeden Tag. Wir können lange Zeit sehr gut von einem vorläufigen Ziel, von einem Termin und Projekt zum anderen leben, ohne uns über tiefgründige Fragen philosophischer oder theologischer Art überhaupt Gedanken zu machen. Es wäre schlimm, wenn es anders wäre. Denn wenn sich einem die Frage nach dem Sinn des Lebens aufdrängt, dann ist dies in der Regel ein Signal dafür, dass die bewährten Wahrnehmungs- und Handlungsmuster des Alltags durcheinandergeraten sind, dass nicht mehr klar ist, warum und wie man eigentlich leben soll. Wer plötzlich schwer krank wird, wer einen Freund oder Verwandten verliert, wer in der Schule oder im Beruf versagt, wer arbeitslos ist, wer ein behindertes Kind zur Welt bringt, wessen Beziehung in die Brüche geht, der fragt nach dem Sinn des Lebens, und zwar nicht selten recht verzweifelt.

Weil kein Mensch gegen solche Situationen gefeit ist und weil Verzweiflung ein schlechter Ratgeber ist, ist es gut, die Frage nach dem Sinn des Lebens auch schon einmal dann zu stellen und zu durchdenken, wenn man nicht unter einem akuten Sinndefizit leidet.

Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott

■ Auch wer nicht ständig über den Sinn des Lebens nachdenkt, unterstellt nichtsdestoweniger immer schon einen bestimmten Sinn. Martin Luther hat dies in seinem Großen Katechismus von 1529 in der Auslegung zum 1. Gebot so formuliert:

»Was heißt ›einen Gott haben‹ bzw. was ist ›Gott‹? Antwort: Ein ›Gott‹ heißt etwas, von dem man alles Gute erhoffen und zu dem man in allen Nöten seine Zuflucht nehmen soll. ›Einen Gott haben‹ heißt also nichts anderes, als ihm von Herzen vertrauen und glauben; in diesem Sinn habe ich schon oft gesagt, dass allein das Vertrauen und Glauben des Herzens einem etwas sowohl zu Gott als zu einem Abgott macht. Ist der Glaube und das Vertrauen recht, so ist auch dein Gott der rechte Gott, und umgekehrt, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zusammen, Glaube und Gott. Das nun, sage ich, woran du dein Herz hängst und worauf du dich verlässest, das ist eigentlich dein Gott.«8

Luther fasst an dieser Stelle die Begriffe »Glauben« und »Gott« sehr weit. Man kann sich kaum einen Menschen vorstellen, der in diesem Sinn nicht an etwas glaubt, der sein Herz nicht an etwas hängt, der nicht irgendwo einen bewussten oder unbewussten Orientierungspunkt hat, für den nicht irgendetwas oder irgendjemand im Leben das Wichtigste ist. Auch ein Atheist glaubt nach Luthers Verwendung des Begriffs also an etwas, auch wenn er es vielleicht gar nicht benennen kann und will.

Wenn das, »woran du dein Herz hängst …, eigentlich dein Gott« ist, dann ist damit allerdings noch nicht ausgemacht, um was für einen Gott es sich handelt, ob er wirklich den Namen Gott verdient oder nur ein Scheingott (»Abgott«) ist und ob er »in allen Nöten« auch wirklich hält, was man sich von ihm verspricht.

Wir hängen unsere Herzen, meist ohne uns dessen richtig bewusst zu sein, an Geld, Beruf, Karriere, Eigenheim, Hobbies, Ehepartner, Freunde, Kinder, Schönheit, Unterhaltung, Kleidung, soziales Ansehen und anderes, das nützlich und erstrebenswert sein mag, bei dem sich in schwierigen Lebenssituationen aber sehr schnell zeigt, dass wir falschen Gottheiten und Abgöttern gedient haben, die keineswegs »in allen Nöten« eine »Zuflucht« bieten (vgl. dazu auch schon das Gleichnis vom reichen Kornbauern, Lk 12,16–21). Was alles den Sinn des Lebens nicht garantiert, lässt sich also bei einiger Selbstkritik relativ leicht erkennen, wesentlich schwieriger ist es hingegen, zu diesem Thema etwas Positives zu formulieren.

Um den Sinn des Lebens muss man streiten

■ In früheren Jahrhunderten bot in unserem Kulturkreis die biblisch-christliche Tradition ein in Einzelheiten zwar immer auch heftig umstrittenes, insgesamt aber doch allgemein akzeptiertes Erklärungsmodell für die verschiedenen Fragen und Situationen des alltäglichen Lebens, aber auch für die Bewältigung von individuellen, familiären und gesamtgesellschaftlichen Krisen. Dieses Erklärungsmodell ist heute vielen Menschen nicht mehr oder nur ungenügend bekannt, und schon gar nicht mehr von allen als selbstverständlicher Bezugs- und Orientierungsrahmen akzeptiert. Das biblisch-christliche Erklärungsmodell ist fraglich geworden; an seine Stelle ist jedoch bisher kein gleichwertiger Ersatz getreten, so dass ein weltanschauliches Vakuum entstanden ist, das sowohl im Leben des Einzelnen als auch im politischen Leben in einer oft nur notdürftig durch Geschäftigkeit und Krisenmanagement überdeckten Orientierungslosigkeit zum Ausdruck kommt.

In einer Gesellschaft, die sich nur langsam wandelte, war die Anzahl der möglichen Lebensmodelle noch überschaubar. In unserer sich mit rasantem Tempo, aber ohne klar erkennbare Zielrichtung verändernden Gesellschaft übersteigt die Vielfalt von z.T. nur sehr kurzlebigen, oft auch von den Massenmedien, der Werbung und der Unterhaltungsindustrie gezielt ins Spiel gebrachten Lebensentwürfen nicht selten die Wahrnehmungs- und Strukturierungsfähigkeit des Einzelnen.

■ Das entstandene weltanschauliche Vakuum versuchen u.a. verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, vor allem die Sozialwissenschaften, zu füllen, indem sie immer wieder Modelle geglückten Lebens entwerfen. Dabei kann allerdings nicht übersehen werden, dass es kaum möglich ist, die gewachsene und im Alltag auch einfacher Menschen fest verankerte Tradition von Religionen einfach durch das nüchterne und notwendigerweise distanziert-kritische Kalkül wissenschaftlicher Forschung zu ersetzen.

Immerhin kann man aus sozialwissenschaftlichen Untersuchungen z.B. lernen,

– dass es für menschliches Leben wichtig ist, dass die Kommunikation mit anderen Menschen gelingt (was natürlich genauer zu definieren wäre!);

– dass es für menschliches Leben wichtig ist, dass der Mensch sich realisierbare Aufgaben stellt, dass er sich für etwas engagiert;

– dass es für menschliches Leben wichtig ist, dass der Mensch sich mit der Endlichkeit seines Lebens, mit seinen Schwächen, mit dem Tod und der Möglichkeit von Schicksalsschlägen auseinandersetzt;

– dass die Erfahrung von Sinn nicht durch bloße Reflexion herstellbar ist, sondern vor allem auch durch emotionale und unbewusste Faktoren mitbestimmt wird;

– dass das, was der eine als sinnvolles Leben empfindet, für den anderen noch lange nicht sinnvoll sein muss;

– dass einem Menschen, der am Sinn des Lebens zweifelt, menschliche Zuwendung mehr nützt als alle Theorien über den Sinn des Lebens.

■ Weil der Mensch – heute mehr denn je – den Sinn seines Lebens erst suchen muss, kann kein einzelner Mensch oder keine Menschengruppe sich anmaßen, den Sinn des Lebens für alle Menschen in allen Situationen zu kennen. Jeder kann nur artikulieren und versuchen, anderen plausibel zu machen, worin er aufgrund seiner Erfahrungen und seines Wissens den Sinn des Lebens sieht. Wer sich damit nicht zufrieden geben und Eindeutigkeit um jeden Preis erzielen will, läuft Gefahr, anderen Menschen physisch oder psychisch Gewalt anzutun, ihre Andersartigkeit und Vielfalt zu unterdrücken und diktatorischen oder inquisitorischen Verhältnissen den Weg zu bereiten.

Ist bei der Behandlung der Sinnfrage also grundsätzlich Toleranz und Offenheit für die Lebensäußerungen anderer Menschen angezeigt, so darf diese Haltung jedoch nicht mit Beliebigkeit und Gleichgültigkeit verwechselt werden. Weil meine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens in ihren Auswirkungen meine Mitmenschen konkret berührt und weil ihre Antworten auch auf mich unter Umständen unangenehme Folgen haben, können wir uns nicht damit zufrieden geben, dass eben jeder sein Leben so leben soll, wie er gerade Lust hat. Müsste insbesondere in unserer heutigen Welt, die in ihrer Gesamtheit von ökologischen, militärischen, ernährungspolitischen und medizinischen Katastrophen unvorstellbaren Ausmaßes bedroht ist, nicht jeder Mensch bestrebt sein, seine vorläufige Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens mit den Antwortversuchen anderer Menschen zu konfrontieren und mit ihnen gemeinsam um den richtigen Weg zu einem lebenswerteren Leben zu streiten?

Die folgenden Bemühungen, die Sinnfrage aus christlicher Sicht zu beantworten, verstehen sich als ein Beitrag zu solch einem Dialog.

Gott = Liebe?

■ Sollte ich in einem Satz zusammenfassen, worin für mich als Christ der Sinn des Lebens liegt, so würde ich in Anlehnung an den 1. Johannesbrief sagen: In der Liebe. In der Liebe, die Gott uns schenkt und die wir Menschen weitergeben sollen. Solch eine Behauptung ist natürlich erklärungsbedürftig, denn es gibt nicht viele Wörter in der deutschen Sprache, die vieldeutiger und missverständlicher sind als die Begriffe »Gott« und »Liebe«. Man könnte die folgenden Arbeitsthesen deshalb als eine ausführliche, in vielerlei Variationen durchbuchstabierte Paraphrase des neutestamentlichen Satzes »Gott ist Liebe« (1. Joh 4,8.16) ansehen.9

■ Wer die These »Gott ist Liebe« aufstellt, muss sich am Anfang des 21. Jahrhunderts zunächst einmal bewusstmachen, dass viele Zeitgenossen die Existenz Gottes überhaupt bestreiten oder doch zumindest anzweifeln. Im nächsten Kapitel wird es deshalb darum gehen, zu erklären, was eigentlich für oder gegen die Existenz eines göttlichen Wesens spricht.

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