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Träume von der Verteilung der Beute

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Noch während des ganzen letzten Kriegsjahres ging das Gerangel um die nach einem Siegfrieden zu erwartende Kriegsbeute weiter. Deshalb kam auch für die Herren der Schwerindustrie bis zum Schluss ein Verzicht auf Annexionen in Nordfrankreich nicht in Frage. Was mögliche Schnäppchen in den besetzten Gebieten in Frankreich anging, so ließ sich Reusch selbst im Urlaub auf dem Katharinenhof von seinen Untergebenen auf dem Laufenden halten. Die von den preußischen Behörden erstellte Liste des französischen Besitzes ging im Juli 1917 per Eilboten an ihn ab.244 Ganz offensichtlich sollte die GHH sofort zur Stelle sein, falls es interessante Objekte gab.

Reuschs Hauptinteresse richtete sich auf einen der größten schwerindustriellen Konzerne in Lothringen, den Besitz der Familie de Wendel. Die Werke des Konzerns wurden sofort nach Kriegsbeginn von der deutschen Regierung beschlagnahmt. Im August 1917 wurde die Liquidation eingeleitet.245 Dabei setzten sich einflussreiche Regierungskreise, an der Spitze Staatssekretär Helfferich, für eine Beteiligung des Reiches mit 51 Prozent ein. Die im Stahlwerksverband zusammen geschlossenen Firmen strebten die Übernahme des Konzerns zu 100 Prozent durch Mitglieder ihres Kartells an. Dagegen wollte die Regierung auch weitere Interessenten, z.B. Rathenaus AEG, beteiligen.246 Reusch hatte schon früher verlangt, dass bei der Verteilung der Kriegsbeute vorrangig die Konzerne zum Zug kommen sollten, die über großen Grubenbesitz in der Normandie verfügten, da auch bei einem Sieg diese Gruben in Feindesland möglicherweise nicht zu halten sein würden. Dieses Thema kam jetzt beim Verein deutscher Eisenhüttenleute auf die Tagesordnung. Reusch beauftragte Woltmann und den Rohstoffexperten Kipper, an der Besprechung über den Wert der Normandie-Gruben im August 1917 teilzunehmen.247 Ende 1917 war noch nichts entschieden. Deshalb hoffte Reusch nach wie vor, dass eine Beteiligung der Regierung und anderer Firmen an der Liquidation von de Wendel vermieden werden könne.248

Am Rande der Generalversammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute im Dezember 1917 sprach Woltmann, der anstelle des erkrankten Reusch die GHH vertrat, mit den führenden Ruhr-Industriellen das weitere Vorgehen ab. Eine Teilung des Grubenbesitzes von de Wendel sollte in jedem Fall vermieden und Klöckner mit seiner gegenüber der Regierung eher kompromissbereiten Haltung beiseite gedrängt werden.249 Man versteht vor diesem Hintergrund, dass der Verzicht auf Annexionen im Westen, gar der Verlust von Elsass-Lothringen, für die Schwerindustrie völlig inakzeptabel war. Auf dieser Generalversammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute wurde deshalb die Notwendigkeit von Annexionen im Westen, besonders des Erzbeckens von Briey, erneut bekräftigt.250

Der Abschluss des Diktat-Friedens von Brest-Litowsk am 3. März 1918 nährte bei der Schwerindustrie ganz offensichtlich die Hoffnung, dass man den Kriegsgegnern im Westen nach dem Sieg derartige Bedingungen würde aufdrücken können. Im März 1918 schien die Übernahme von de Wendel in ein so konkretes Stadium zu treten, dass Reusch seinem Stellvertreter genaue Handlungsanweisungen für die nächste Sitzung des Stahlwerksverbandes gab: Zwar habe der zuständige Ausschuss des Reichstages die hundertprozentige Übernahme in den Besitz des Reiches gefordert. Sehr energisch sei dort auch verlangt worden, keine Mitglieder des Stahlwerksverbandes zum Kauf zuzulassen. Da die Regierung das Ansinnen des Reichstags jedoch rundum zurückgewiesen habe, rechnete Reusch aus dieser Ecke nicht mehr mit Einwendungen gegen den Verkauf. Größere Sorgen bereitete ihm die bayrische „Raumer-Gruppe“, der die Regierung von Elsass-Lothringen unbedingt den Zuschlag für das Hüttenwerk geben wolle. Mit der „Raumer-Gruppe“ war vermutlich das süddeutsche Bündnis von Siemens mit der MAN gemeint; dieses Bündnis zweier Giganten der verarbeitenden Industrie mit den liberalen Chefs v. Raumer und Rieppel muss für Reusch ein rotes Tuch gewesen sein. Dagegen wollte Reusch ein Bündnis im Stahlwerksverband schmieden, wobei ihm die Tatsache sehr gelegen kam, dass so wichtige Gestalten wie Vögler von Deutsch-Luxemburg und Hasslacher von den Rheinischen Stahlwerken sich von Woltmann bei der anstehenden Sitzung vertreten ließen. Da Woltmann sozusagen über drei Stimmen verfügte, war zu erwarten, dass sein Verhalten gegen Klöckners kompromissbereitere Einstellung den Ausschlag geben würde. Reusch ließ gegenüber seinem Stellvertreter keine Missverständnisse aufkommen. Er legte genau fest, welche Anträge er zu stellen und welche er abzulehnen hatte.251 Der Verkauf von de Wendel war noch Ende Oktober 1918 Gesprächsthema zwischen der Reichsregierung und den Vertretern der Schwerindustrie!252 Die im September angelaufene Auktion blieb aber am Kriegsende erfolglos, mangels Kaufinteressenten.253

Auch der Ulmer Industrielle Wieland, Reusch seit langem freundschaftlich verbunden, wollte zur Stelle sein, wenn die französische Industrie in Lothringen zum Verkauf stand. Er musste sich dabei aber ganz auf das Insider-Wissen seines Freundes aus der Schwerindustrie verlassen, wenn es galt, den Wert bestimmter Stahlwerke und Zechen einzuschätzen. Kellermann lieferte seinem Chef mehrseitige Gutachten, deren Ergebnisse Reusch in eine präzise Kaufempfehlung an Wieland einfließen ließ. Reusch wusste auch zu berichten, dass bei einem der Objekte die Rheinischen Stahlwerke bereits zugegriffen hatten.254

Die im Frühjahr 1918 noch sehr konkreten Pläne für die Kriegsbeute erledigten sich dann endgültig durch den deutschen Zusammenbruch. Die Unternehmer wussten spätestens Anfang Oktober, dass der Spuk zu Ende war. Zu diesem Zeitpunkt musste auch der Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller (VdESI) zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland den Krieg verloren hatte. Jetzt plötzlich informierte der Geschäftsführer Reichert die Vorstandsmitglieder, dass der Frieden „uns die Reichslande Elsass-Lothringen kosten“ könne und dass die Industriellen der Regierung jetzt „mit Rat und Tat zur Seite stehen“ müssten.255

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