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Durchhalteparolen in den letzten Kriegswochen: Der Propaganda-Apparat der „Deutschen Vereinigung“

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Schon vor 1914 war die „Deutsche Vereinigung“, in der Reusch sich als Mitglied des Reichsvorstandes und Vorsitzender der Ortsgruppe Oberhausen ganz besonders engagiert hatte, zu einer Art Dachverband für die „gelben“ Gewerkschaften geworden. In ihrem Arbeitsprogramm stand die Durchführung von Kursen für die in den Werkvereinen organisierten Arbeiter ganz im Mittelpunkt. Neben der vaterländischen Erziehung und der Immunisierung gegen demokratische oder gar sozialistische Irrlehren standen Fortbildungsthemen wie „Die Kriegspflichten der Hausfrau“.256 Zweifel an seiner politischen Einstellung ließ der GHH-Chef nie aufkommen. Bei der Vorstandssitzung im November 1915 „stimmt Generaldirektor Kommerzienrat Dr. Reusch den Ausführungen des Vorsitzenden über die demokratische Gefahr und die schwache Haltung der Regierung ihr gegenüber, die große Befürchtungen für die Zukunft erwecke, voll und ganz bei.“257 Wie stark Reusch in diesem nationalistischen Verband persönlich engagiert war, wird aus den ständigen, hartnäckigen Beitragsmahnungen an die Kollegen in der Schwerindustrie ersichtlich. Die Höhe der Beiträge aus der Industrie, die Reusch einsammelte, illustriert nebenbei auch, wie stark die Geldentwertung bereits in der Mitte des Krieges spürbar wurde.258 Reusch ließ auch nicht locker bei seinem Versuch, prominente Persönlichkeiten für den Reichsvorstand zu kooptieren. 1917 schlug er u. a. Springorum, Vögler und Kirdorf vor.259 Die Deutsche Vereinigung unterstützte während des ganzen Krieges die annexionistische Kriegszielpropaganda; bis ganz zum Ende im Herbst 1918 hielt sie am Ziel des „Siegfriedens“ fest. Paul Reusch schrieb noch im März 1918, wohl im Rausch des „Siegfriedens“ von Brest-Litowsk, in der Verbandszeitschrift „Deutsche Wacht“: „An dem endgültigen Sieg unserer Waffen ist heute nicht mehr zu zweifeln.“260

Wo die Deutsche Vereinigung politisch einzuordnen war, geht auch aus der Tatsache hervor, dass bei der Vorstandssitzung am 1. August 1917 in Düsseldorf der Generallandschaftsdirektor Kapp aus Königsberg, die Galionsfigur des Militärputsches gegen die Weimarer Republik drei Jahre später, in den Reichsvorstand kooptiert wurde.261 Kapp wurde einige Wochen später auch zum Stellvertretenden Vorsitzenden der neu gegründeten, extrem nationalistischen „Vaterlandspartei“ gewählt. Die Deutsche Vereinigung trat diesem Sammelbecken rechtsradikaler Kreise korporativ bei. Anders als Stinnes, Kirdorf, Hugenberg, aber auch Duisberg, Wilhelm v. Siemens und Borsig wurde Reusch persönlich anscheinend nicht Mitglied; jedenfalls finden sich in seinem Nachlass dafür keine Belege.262 Auch in dem marxistisch ausgerichteten Sammelband über die „bürgerlichen Parteien in Deutschland“, der penibel alle Vertreter des „Monopolkapitals“ auflistet, wird Reusch nicht erwähnt.263 Dafür erklärte er in diesen Tagen seinen Beitritt zum obskuren „Bund zur Bekämpfung fremden und Förderung deutschen Wesens“.264

In den letzten Kriegswochen und während der Revolutionsphase 1918/19 tat sich die Deutsche Vereinigung als Propagandazentrum der politischen Rechten hervor. Die Berliner Hauptgeschäftsstelle produzierte serienweise Flugblätter. Im September 1918 bestellte Reusch 10.000 Exemplare des zweiseitigen, eng beschriebenen Pamphlets „Haltet aus!“.265 Er bekannte sich damit zu einem Schriftstück, in dem das ganze Sammelsurium irrationaler, in sich teilweise widersprüchlicher nationalistischer Hetz-Parolen noch einmal ausgebreitet wurde. Erschreckend besonders das weltfremde Festhalten am Endsieg nach vier Jahren Stellungskrieg und drei Wochen, bevor Hindenburg und Ludendorff den Zusammenbruch der deutschen Armee eingestehen mussten und einen sofortigen Waffenstillstand forderten: „Unter dem schweren Druck des U-Boot-Krieges haben die Feinde alle ihre Kräfte an der Westfront eingesetzt, um ohne Rücksicht auf die Blutopfer den so lange schon vergeblich erstrebten Durchbruch durch unsere lebendige Eisenmauer zu erzwingen. Dank der unüberwindlichen Tapferkeit der Unseren sind sie abermals zuschanden geworden.“ Kleine Rückschläge nutzten „die Flaumacher“ jetzt zu pessimistischen Prognosen. „Sie wissen es natürlich besser als unsere großen Feldherren Hindenburg und Ludendorff. Unsere beiden Heerführer sind den feindlichen ebenso überlegen, wie unsere Kämpfer all dem bunten und krausen Gewimmel, das gegen uns zusammengeschleppt worden ist. … Das ungeheure Russland, das mehr als zwölf Millionen Streiter gegen uns ins Feld geschickt hat, ist endgültig aus dem Kampfe ausgeschaltet; Belgien, Rumänien und Serbien sind erledigt. Trotz der vielfachen Übermacht der Feinde ist unser Vaterland von den Schrecken des Krieges frei. Wir stehen heute tausendmal besser da, als in jenen Tagen, da die Russen bis vor Königsberg streiften. … Wir haben gesiegt und immer wieder gesiegt, und wir stehen siegreich tief in Feindesland.“ Deshalb müsse man den Siegesprognosen von Hindenburg und Ludendorff Vertrauen schenken. Sonst drohe Deutschland das Elend einer Besetzung durch die Feinde. „Wir wissen ja alle, was die Ostpreußen durchzumachen hatten, und wir kennen durch die Erzählungen unserer Feldgrauen das grauenhafte Schicksal der Franzosen, deren Wohnstätten zum Kriegsschauplatze geworden sind.“266 Trotz des „grauenhaften Schicksals der Franzosen“ in vier Besatzungs- und Kriegsjahren, verursacht durch den Einmarsch der deutschen Truppen, empörten sich die Verfasser darüber, dass bei Friedensverhandlungen Entschädigungsforderungen für die gigantischen Zerstörungen auf dem Tisch liegen würden: „Für unsere riesigen Kriegskosten und Kriegsverluste sollen wir keinen Pfennig Ersatz erhalten. Dagegen müssen wir, wenn es uns nicht gelingt, durch unsern Sieg den Vernichtungswillen der Feinde zu brechen, diesen ungeheure Kriegsentschädigungen zahlen.“267 Diesen Text ließ Reusch Mitte September 1918 in Oberhausen auf 10.000 Flugblättern verteilen. Bereits im Sommer 1917 war offenkundig gewesen, dass der unbeschränkte U-Boot-Krieg die erhoffte Wirkung verfehlt hatte. Die deutschen Offensiven vom Frühjahr und Sommer 1918 waren gescheitert. Diese militärischen Fehlschläge waren gut informierten Zeitgenossen wie dem Generaldirektor eines deutschen Großkonzerns zweifellos bekannt.

Die kriegsmüden Massen schätzten die Lage weitaus realistischer ein. Als in den Industriestädten Massenstreiks um sich griffen, war deshalb die Deutsche Vereinigung sofort im September 1918 mit einem weiteren Flugblatt zur Stelle, das von mehr als 40 Berufsverbänden und Werkvereinen, wohl durchweg aus dem Spektrum der gelben Gewerkschaften, unterzeichnet war. Auf zwei eng beschriebenen Seiten wurde den Arbeitern eingehämmert, dass die Streiks von ausländischen Agenten angestiftet seien, den Krieg verlängern und die Zufuhr von Lebensmitteln in die Städte verhindern würden. Die Hauptgeschäftsstelle der Deutschen Vereinigung schickte Reusch auf dessen Wunsch hin ein Exemplar und verband dies mit der Bitte an die Industrie, sich an den Druckkosten (5.578 Mark) zu beteiligen. In ganz Deutschland seien 518.000 Exemplare verteilt worden, wie viele davon in Oberhausen, ist nicht bekannt.268

Es wird wohl kaum jemand mehr die albernen Durchhalte-Parolen der „Deutschen Vereinigung“ geglaubt haben. Sie sollen zum Abschluss der Alltags-Wirklichkeit vor Reuschs Haustür in der Industriestadt Oberhausen gegenübergestellt werden. Die Menschen in Oberhausen konnten jeden Tag in der Zeitung lesen, wie desolat die Situation war und was sie im herannahenden fünften Kriegswinter zu erwarten hatten. Die nüchternen Bekanntmachungen des städtischen Nahrungsmittelamtes lassen erahnen, wie groß die Not war:

„In der Woche vom 7. bis 13. Oktober haben die … Bezugsscheine für Lebensmittel für die nachbezeichneten Mengen folgende Gültigkeit:

Kartoffeln:7 Pfund (65 Pfg),
Butter:30 Gramm (30 Pfg),
Fett:30 Gramm Margarine (12 Pfg),
Zucker:125 Gramm,
Marmelade:100 Gramm Kunsthonig (15 Pfg).

Nährmittel können in der laufenden Woche nicht zur Ausgabe gelangen, damit für die nächste fleischlose Woche eine Ausgabe von Nährmitteln stattfinden kann.

Ferner werden ohne Rationierung ausgegeben: Dörrgemüse, Gerstenkaffee, Atlas-Suppenwürze, Nährhefe, Speisesalz, Viehsalz, Lakto-Eipulver.

Fleisch und Fleischwaren werden in der laufenden Woche 200 Gramm … ausgegeben. Die Rüstungsarbeiter erhalten wieder die regelmäßige Wurstzulage.“269

Und selbst diese Rationen standen z.T. bald nur noch auf dem Papier: Zwei Wochen später gab es statt Butter nur noch Margarine, und es wurde die vierte fleischlose Woche proklamiert.270 Anfang Dezember würde es statt Butter und Fett nur noch insgesamt 55 Gramm „Feintalg“ geben.271

Die Bergleute waren am Ende ihrer Kraft. In einer von 800 Bergleuten besuchten Belegschaftsversammlung der Zeche Osterfeld Mitte Oktober wurde einstimmig die Resolution angenommen, „wonach die Belegschaft sich nur noch imstande fühlt, eine einfache Schicht zu verfahren infolge der unzureichenden Nahrungsmittelversorgung und der niedrigen Löhne, die von der Zeche Osterfeld gezahlt werden“. Dienstags und freitags wurden von den Bergleuten eineinhalb Schichten verlangt.272 In den unruhigen Krisenzeiten nach Kriegsende würde die Zeche Osterfeld keineswegs ein revolutionäres Zentrum sein – im Gegenteil! Aber selbst dort empfanden die Bergleute die immer neuen Belastungen in diesen letzten Kriegswochen als nicht mehr zumutbar. Zunächst aber schien ihnen keiner zuzuhören, bis deren angestauter Zorn dann im Dezember zum Ausbruch kam.

Eine der schlimmsten Folgen der Mangelernährung war die Anfälligkeit für die Grippe. Ein Medizin-Professor empfahl bei einem Vortrag in Oberhausen, da es Milch und Käse nicht mehr gab, in der Apotheke 100 Gramm Kalk zu kaufen. „Man löst diesen in 6 Liter Wasser auf und nimmt zu jeder Mahlzeit zwei Esslöffel voll, kleine Kinder die Hälfte.“273 Ob diese Empfehlung wohl viele vor der Grippe bewahrt hat? In der zweiten Oktoberhälfte erkrankten immer mehr Menschen; es wurde eine stark um sich greifende Epidemie. Die Schulen wurden für zwei Wochen geschlossen. In Sterkrade mussten Lehrerinnen und Lehrer mit den gesunden Kindern in dieser Zeit Bucheckern sammeln, um damit zu Hause dann die karge Kost zu ergänzen.274 Trotzdem starben immer mehr Menschen an den Folgen der Grippe, allein in Oberhausen bis zum Abebben der Epidemie im November pro Woche jeweils mehr als hundert275; die Todesanzeigen für noch recht junge Menschen („nach kurzer schwerer Krankheit“) häuften sich. Am letzten Oktobersonntag gab es in Oberhausen 30 Beerdigungen.276

In dieser Situation wurde immer noch versucht, den Menschen die Spargroschen für die Kriegsfinanzierung aus der Tasche zu ziehen. Alles, was Rang und Namen hatte in Oberhausen, u. a. Oberbürgermeister Havenstein und GHH-Chef Paul Reusch, unterschrieb einen Aufruf zur Zeichnung von Kriegsanleihen, der mit pathetischen Durchhalteparolen getränkt war: „Unser Volk und Land steht vor dem letzten und schwersten Gang in diesem gewaltigen Kriege. Amerika und England haben heimtückisch fast die ganze Erde in den Kampf gegen uns gezwungen. Deutschland steht vor seiner Schicksalsstunde. … Unsere Westfront kann von unseren Gegnern trotz aller Anstürme nicht durchbrochen werden.“277

Zur Erinnerung: Paul Reusch hatte seine privat erworbenen Kriegsanleihen schon zwei Jahre vorher beim Kauf des Schlosses Katharinenhof wieder abgestoßen.

Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch

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