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Einleitung

Warum wir unsere Gefühle nicht verstehen

Es ist schwer zu glauben: aber die meisten Menschen verstehen ihre Gefühle nicht. Man könnte meinen, von Gefühlen müsste man auch nicht mehr verstehen, als wir ohnehin schon wissen. Das wäre richtig, wenn wir immer befriedigend mit unseren Gefühlen umgingen. Leider beweisen unsere großen und kleinen Lebenskatastrophen eher das Gegenteil. Wir haben zwar Gefühle, und glücklicherweise handeln wir auch oft aus dem Bauch heraus vernünftig. Aber dieses Handeln ist überwiegend intuitiv. Wir wissen nicht so recht, was wir eigentlich tun.

Darin gleicht unser Leben einem Autofahrer, der weder Bremspedal noch Kupplung und die Bedeutung der Verkehrszeichen kennt, aber während der Fahrt so lange herumexperimentiert, dass er einigermaßen ungeschoren durchkommt.

In den Wissenschaften ist unsere Ratlosigkeit, was genau es mit unseren Gefühlen auf sich hat, ein offenes Geheimnis. Niemand hat bisher ein Konzept gefunden, mit dem es zu einem ähnlich hohen Maß an Übereinstimmung gekommen wäre wie beispielsweise in der Physik oder bei der medikamentösen Behandlung von Depressionen. Daher ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass selbst Therapeuten und Ärzte von diesem Defizit betroffen sind. Wobei man sarkastisch anfügen könnte – ein Mangel, der vielen noch gar nicht aufgefallen ist. Denn auch Therapeuten wüssten auf Nachfrage kaum zu erklären, was genau unter den Gefühlen, Emotionen, Stimmungen und Affekten zu verstehen ist, die sie ja schließlich behandeln wollen. Mit ein wenig humanistischer Bildung wird man sich damit herausreden, das sei seit den antiken Philosophen Aristippos und Epikur, Platon und Aristoteles immer noch eine offene Frage. Und vielleicht hinzufügen, dass wir doch eigentlich ganz gut ohne solche Definitionen durchs Leben kämen. Im Folgenden werde ich zeigen, dass dies ein verhängnisvoller und folgenreicher Irrtum ist.

Wenn es überhaupt so etwas wie eine gesellschaftlich Übereinkunft für den Umgang mit Gefühlen gibt, dann lautet sie:

Man soll sich nicht von seinen Gefühlen „übermannen lassen“. Man soll seine Gefühle „unter Kontrolle halten“ und nicht „gefühlsselig“ sein, „nicht emotional werden“. Wir sollen rational denken, nüchtern bleiben und die „Ruhe behalten“.

Gefühle sind nach weitverbreiteter Meinung mehr oder weniger obskur und hinderlich, ja oft sogar schädlich oder gefährlich. Selbst positive Gefühle wie Vergnügen und Unterhaltung oder Gefühle, die mit Sex, Erotik, Macht, Ruhm oder Gier einhergehen, sollten nicht die Überhand gewinnen, sagt man uns. Lust, zumal außereheliche oder womöglich sogar homosexuelle Lust, gilt nicht allein der katholischen Kirche als suspekt. Wir sind zwar etwas weniger lustfeindlich als früher, glauben aber immer noch, die Arbeit um der Arbeit willen schätzen zu sollen, die Moral um der Moral willen, das Leben um des Lebens willen. Gefühle spielen dabei höchstens eine marginale Rolle.

Allenfalls wird noch konstatiert, dass manche Gefühle (wie z.B. Trauer), oder einschneidende Lebenserfahrungen (z. B. schwere Krankheiten) uns durch Leiden „stärker machen“ und „weiterbringen“. Und die Mühsal des Lernens und der Arbeit findet vielleicht ihren Lohn materieller Sicherheit, Wohlstand und Vorsorge für das Alter. Im Übrigen sei das Leben ohne negative Gefühle doch „langweilig“.

Fragt man jemanden, der so argumentiert, wie er seinen Standpunkt begründen könnte, dann herrscht meist beredtes Schweigen. Sind diese Forderungen und Ansichten denn nicht evident? Muss man darüber diskutieren? „Nicht emotional“ zu werden oder „seine Habgier zu zügeln“ erscheinen den meisten als plausible, sozusagen sich selbst erklärende Werte.

Aber was ist eigentlich evident daran, seine Habgier zügeln zu sollen? Warum sollte ich nicht so viel haben wollen, wie ich mir wünsche? Warum sollte ich nicht emotional werden? Was genau spricht denn gegen „zu viel“ Lust an der Macht?

Bei der Antwort auf solche Fragen offenbart sich unser blinder Fleck in Sachen Gefühl. Wenn Sie mir die (zunächst noch anmaßend erscheinende) Behauptung gestatten: Mir ist noch kein Mensch begegnet, von dem ich – am gegenwärtigen Erkenntnisstand gemessen – guten Gewissens behaupten könnte, er habe ohne fremde Hilfe verstanden, worauf es bei seinen Gefühlen ankommt.

Fall sich diese These belegen lässt, ist das zweifellos ein alarmierendes und erschreckendes Ergebnis. Denn die Folgen unserer Unwissenheit sind dramatisch: Ein unerwartet großer Teil unser Fehler lässt sich anscheinend auf mangelndes Wissen über Gefühle zurückführen. Selbstverständlich nicht alle Fehler im Leben, aber doch ein viel größerer Teil, als gemeinhin angenommen wird. Je genauer man das Problem erfasst, desto mehr drängt sich sogar der Eindruck auf, dass wir in Gefühlsfragen geradezu „emotionale Irrläufer“ sind – wir sind „emotional desorientiert“.

Der Appell an unsere vielbeschworene Emotionale Intelligenz erweist sich so als Mythos

Denn er zielt auf etwas ab, das wir nicht einmal mehr schlecht als recht verstanden haben. Charakter und Ziel Emotionaler Intelligenz liegen im Dunkeln. Emotionale Intelligenz bleibt ein Mythos, so lange es sich um Bauchentscheidungen mit oft gefährlichem Ausgang handelt.

Sie bemerken: Ich versuche zu provozieren, um die Dringlichkeit des Themas zu verdeutlichen! Inzwischen bestätigt sich immer klarer, dass unsere Blindheit hinsichtlich des Phänomens Gefühl nicht nur für viele Tragödien im Privatleben verantwortlich ist, sondern ein noch viel tragischeres Unwesen in Politik, Wirtschaft und Kultur treibt – genaugenommen in allen gesellschaftlichen Bereichen des Lebens.

Wir führen Kriege nicht zuletzt auch deswegen, weil wir unsere Gefühle nicht verstehen. Wir unterdrücken Menschen und zwingen ihnen unsere Meinung auf. Wir schlagen uns wegen unserer Gefühle und der mit ihnen einhergehenden Werturteile die Köpfe ein. Wir streiten, morden, vergewaltigen wegen unserer Gefühle. Und für all diese Probleme ist, neben anderen Gründen, leider auch allzu oft unsere Unwissenheit in Sachen Gefühl verantwortlich. Hitler, Stalin, Pol Pot, Idi Amin, Saddam Hussein – offenbar findet die Geschichte immer wieder mit größter Leichtigkeit ihren gerade geeigneten Protagonisten für emotionale Dummheit.

Mythos Emotionale Intelligenz

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