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Kapitel 3 Der Schleifstein des Marzhin

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I

Die Herzogin von Cornouailles ging unruhig auf und ab und konnte das Zittern ihrer Hände kaum unterdrücken. Aodrén war mit beiden Pferden alleine aus dem Uhel Koad zurückgekehrt und sofort in ihre Gemächer geeilt, um ihr mitzuteilen, dass er Sévran am Ufer des Silberflusses unweit der Furt und des Ty ar Boudiket zurückgelassen hatte.

„Du darfst ihm deine Angst nicht zeigen. Du hast von Anfang an gewusst, dass es irgendwann geschehen würde. Du darfst ihm deine Angst nicht zeigen“, Maeliennyd seufzte leise.

Sévran war bereits in der Stunde seiner Geburt für die Weiße Bruderschaft bestimmt worden und er würde in der Nacht der Sommersonnwendfeuer in den Heiligen Wald fortgehen, um dort seine Ausbildung zu beenden. Die Sterne hatten geboten, dass der Weg ihres jüngsten Sohnes der alte Weg war. Die Sterne hatten befohlen, dass er den Weg der Drouiz gehen musste und sie hatte alles in ihrer Macht stehende getan, dieses Gebot zu erfüllen. Um ihn aus der weißen Welt zurück in die Welt der Lebenden zu holen, hatte sie einen heiligen Eid geschworen und Aodrén hatte diesen Eid mit seinem eigenen Blut besiegelt.

Der alte Mann warf eine weitere Hand voll trockener Misteln ins Feuer des großen Kamins, der die Gemächer von Maeliennyd wärmte. Seine Augen funkelten vergnügt, als er beobachtete, wie Sévran dem jungen Hirsch dankte, bevor er über die Ebene vor Rusquec zurück zur Festung trabte. Der Junge war schon immer von einer tiefen Verbundenheit mit der Natur bestimmt gewesen. Aus ihr hatte er in seinem kurzen Leben Kraft und Wissens geschöpft. Er achtete Tiere und Pflanzen und betrachtete sie trotz seiner Jugend bereits als Teil seines Lebens. Maeliennyd hörte auf herumzulaufen und drehte sich nun ebenfalls um, damit sie die Szene in den Flammen beobachten konnte. Trotz ihrer Furcht war sie sehr neugierig. Sie hatte im Verlauf der letzten Monate gespürt, wie die Magie ihres jüngsten Sohnes immer stärker wurde. Seine Kräfte schossen, wie ein junger Baum im Frühjahr. Wenn Aodrén und die Weiße Brüder ihn in den nächsten Jahren richtig leiten würden, dann würde er nicht nur sie, sondern sogar seinen alten Lehrmeister eines Tages bei Weitem übertreffen.

„Mein Schatz. Mein süßes Kind“, entfuhr es ihr, als sie beobachtete, wie der junge Hirsch zutraulich seine weiche Schnauze an Sévrans ausgestreckter Rechter rieb. Das Herz schlug schneller in ihrer Brust. Am Ende seiner Ausbildung würde Sévran die weiße Welt mit seinem Geist besuchen müssen, um dort den Geistern der Natur zu begegnen. Es war ein gutes Omen. Sie würden ihn im Heiligen Wald lehren, sich mit dem Geist eines Tieres zu verbinden. Er hatte in dieser Nacht instinktiv den Hirsch gewählt und dessen Eigenschaften in sich aufgenommen, um das Problem zu lösen, vor das Aodrén ihn gestellt hatte. Ein Drouiz der sich mit einem Hirsch verband, reinigte Körper und Geist und erlangte Ruhe und Kraft. Der Hirsch – Hu-Gadarn - wandelte bereits seit Anbeginn der Zeit in den Wäldern. Er war ein gutes Krafttier für einen Drouiz. Es würde nicht mehr lange dauern und sie würde ihren Kleinen in die Arme schließen und an sich drücken. Er hatte es geschafft. Er war aus dem Uhel Koad zurückgekehrt und der junge Hirsch hatte ihm den Weg gewiesen, Hu-Gadarn selbst, der strahlende Sohn des Lichtes.

Aodrén lächelte und nickte Maeliennyd anerkennend zu. Ihre Entscheidung das Kind auszutragen war damals richtig gewesen, wie die Seine, ihn aus Inis Gwenva zurück zu locken. Sévran vereinte in sich die magischen Kräfte des roten Pendragon und der schwarzen Quinotauren der Volcae. Er war wahrhaftig ein Kind der Götter.

In den Flammen beobachteten die Herzogin und der Ollamh, wie die Wachen von Rusquec sich tief vor dem jüngsten Sohn von Ambrosius Arzhur verbeugten. Auch sie hatten aus der Ferne die kleine Szene beobachtet. Das Kind hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und sah die beiden Männer aus seinen schwarzen Rabenaugen an, wie ein Spitzbube, dem gerade ein besonders durchtriebener Streich gelungen war. Die Spannung in Maeliennyds Brust löste sich. Sie schmunzelte und legte ihre feingliedrige, milchweiße Hand sanft auf die Schulter des alten Mannes. Aodrén hob kurz die Rechte und machte eine Handbewegung, so als ob er etwas aus der Luft greifen wollte und das lodernde Feuer im Kamin verwandelte sich augenblicklich in ein sanftes Glossen. Die Bilder verschwanden.

„Werdet Ihr uns beim Nachtmahl Gesellschaft leisten, liebster Freund“, fragte die Herzogin den alten Drouiz.

„Sobald ich dafür gesorgt habe, dass unser junger Mann Euren noblen Gästen vorgeführt werden kann. Er sieht ein bisschen zerfleddert und schmutzig aus. Nach dem langen Tag im Wald und seinem kleinen, nächtlichen Abenteuer wird ihm eine Schüssel Wasser gewiss nicht schaden“, Aodrén erhob sich von seinem bequemen Platz vor dem Feuer, strich sich die Gewänder glatt und verlies zufrieden die Gemächer von Maeliennyd Glyn Dwyr. Sein Schüler hatte die erste Prüfung mit Auszeichnung bestanden.

II

Obwohl es sich nur um ein gewöhnliches Nachtmahl handelte, sah Aodrén zahlreiche Gäste im großen Saal von Rusquec umher wandeln. Sie tranken und unterhielten sich. Ambrosius Arzhur hatte seinen Tag mit Freunden auf der Jagd verbracht und war dabei bis nach Huelcoët geritten, wo der Graf de Poher mit zwanzig Lanzen den Weg nach Morlaix und an die Küste schützte. Von der Jagd hatte er nicht nur viele schöne, fette Enten mitgebracht.

Einer der Knappen, die am Hof des Herzogs ihre Ausbildung zum Ritter absolvierte, an dessen Namen Aodrén sich aber beim besten Willen nicht erinnern konnte, präsentierte dem Drouiz eine Schale Wasser zum Händewaschen. Guethenoc, der herzogliche Truchsess, ein beleibter Mann mit spärlichem Haarwuchs, blasser Haut und tiefliegenden, bernsteinfarbenen Augen, rauschte wichtig an den trinkenden und plaudernden Gästen vorbei. Zuerst warf er dem Knappen mit der Waschschale einen vernichtenden Blick zu, dann verbeugte er sich tief vor Aodrén und dem Kind.

„Ollamh, der Herzog und die Herzogin würden sich freuen, wenn Ihr und der junge Baron an ihrer Tafel speisen würdet. Der Herzog hat heute Nachmittag auf der Jagd überraschenderweise Bertrand de Dinan, den Seigneur von Châteaubriand und Châteauceaux getroffen und ihn eingeladen. Die Dame von Surgères, seine junge Gemahlin ist auch anwesend, ebenso Poher, Blanvalet, Locmariaquer, der Graf von Trevezel und Benead Menez-Kador“, Guethenoc schnaufte. Der schnelle Schritt und die lange Liste der Geladenen hatten den rundlichen Mann ganz außer Atem gebracht.

Aodrén seufzte und bedeutete dem aufdringlichen Guethenoc, das er ihm folgen würde, obwohl er von solchen gesellschaftlichen Ereignissen nur wenig hielt. Doch selbst er konnte es sich nicht erlauben eine Bitte von Ambrosius und Maeliennyd ausschlagen, wenn sie so förmlich vorgetragen wurde.

Guethenoc verbeugte sich noch einmal tief, bevor er dem Ollamh und dem Kind den Weg aus dem großen Saal in den Speisesaal wies. An beiden Seiten des Raumes im ersten Stock des herzoglichen Palas brannten Feuer in riesigen Kaminen. Über dem einen drehten vier kräftige Küchenburschen gemeinsam den Eber, den der Herzog vor ein paar Tagen auf der Jagd im Uhel Koad erlegt hatte. Vier lange Tische waren mit flachen Holztellern und Schüsseln aus bemaltem Steingut gedeckt. Wegen der unerwarteten, vornehmen Gäste hatte der Speisemeister die üblichen Zinnbecher am herzoglichen Tisch durch die dunkelblauen, venezianischen Glaskelche ersetzt, die zu Maeliennyds reicher Aussteuer gehörten.

Ambrosius machte bei den Speisen zwischen seinem Tisch und dem seiner Waffenleute und Magistraten traditionell keinen Unterschied, denn Cornouailles war durch das Meer und den Argoat ein reiches Land. Auch die ganze Wildsau am Spieß deutete darauf hin, dass selbst die Gemeinen heute Abend nach Herzenslust Fleisch essen konnten. Obwohl der Herzog und seine Gemahlin noch nicht anwesend waren, saßen bereits viele bei Tisch und bedienten sich aus Körben mit ofenfrischem, weißem Brot und Töpfen mit gesalzener Butter.

„Was für eine Verschwendung“, schmunzelte Aodrén, als er sah, wie zwei kräftige Küchenmägde mit vier Kannen voller Gewürzwein in jeder Hand an den Gemeinentisch traten und ihre Last dort schwer atmend abstellten. Hinter ihnen tauchten noch einmal zwei Mädchen auf, die einen großen Bottich mit Dünnbier schleppten.

Der Truchsess des Herzogs hielt kurz in seinem Schritt inne und starrte den alten Mann ungläubig an. Eine Verschwendung? Sie hatten hohe Gäste zum Nachtmahl und es war für ihn undenkbar an einem solchen Abend nur Wasser und Apfelmost auf den Tisch zu stellen. Die großzügige Bewirtung von Gästen und ein erlesener Menüplan waren Zeichen von Anstand, Wohlgeborenheit und Bildung. Die Tatsache, dass selbst die Gemeinen Wein bekamen, deutete für die Gäste klar darauf hin, dass sie bei einem sehr reichen und wohlgeborenen Seigneur eingeladen waren. Wer sich als Herr geizig zeigte und Besucher oder Spielleute unzureichend versorgte, musste mit dem Verlust seines Ansehens und seines guten Rufes rechnen. Das Ansehen und der gute Ruf der Herren von Cornouailles waren Guethenoc weitaus wichtiger, als die Konsequenzen von spanischem Wein für seine Haushaltskasse. Ambrosius konnte sich eine solche Freizügigkeit leisten. Doch er würde dem Ollamh nicht widersprechen, sondern die Demütigung gelassen hinnehmen. Kaum einer bei Hof widersprach einem Drouiz. Niemand widersprach Aodrén Jaouen Kréc’h Elis.

„Nun, es wäre eine Sünde die gebratene Wildsau nicht ordentlich zu begießen, mein Freund“, hörten Aodrén, Guethenoc und Sévran plötzlich eine vertraute Stimme.

Ambrosius Arzhur, der Herzog von Cornouailles war zusammen mit seiner Gemahlin endlich aus den fürstlichen Gemächern im zweiten Stock des Palas zur Abendgesellschaft gestoßen. Hinter ihm standen Bertrand de Dinan, der Seigneur von Locmariaquer, Blanvalet, Poher und der junge Ritter Benead Menez-Kador, der Dinans Gemahlin höflich den Arm angeboten hatte. Der Truchsess verbeugte sich kurz und verschwand.

„Ich hatte nicht gewusst, dass das heutige gesellige Beisammensein zu Ehren solch hoher Gäste veranstaltet wird“, log Aodrén kaltblütig und mit einem ausgesprochen einnehmenden Lächeln auf dem verwitterten, bärtigen Gesicht.

Seine Augen blitzten vergnügt, als er sich leicht vor der jungen Dame von Surgères verbeugte. Natürlich hatte er es gewusst, denn der aufdringliche Truchsess hatte ihm ja sofort nach seinem Auftauchen im großen Saal die Ohren vollgeweint. Doch trotzdem war dieser Luxus am Gemeinentisch eine Verschwendung. Morgen würden sie wieder alle zu ihm gerannt kommen und um Kräuter betteln, weil ihnen die Köpfe vom Wein und vom Bier wehtaten.

„Ollamh!“ Bertrand de Dinan trat neben Ambrosius und umarmte den alten Mann herzlich. „Du hast Dich überhaupt nicht verändert. Immer noch die gleiche scharfe Zunge..“

„Und Du, junger Bertrand hast Dich glücklicherweise verändert. Den Göttern sei Dank, Du bist inzwischen nicht mehr so hoch, wie breit...ansonsten hätte die edle Dame von Surgères Dich gewiss nicht zum Gemahl genommen.“

Dinan erinnerte sich vergnügt an seine Zeit als Edelknappe am Hof von Ambrosius Vater, Emrys Arzhur de Cornouailles: Das musste Jahrzehnte zurückliegen! Aodrén war inzwischen gewiss hundert Jahre alt, denn bereits in Bertrands Jugend hatte er einen langen grauen Bart und ein von tausend Falten zerknittertes Gesicht gehabt. Schon damals hatte der weise Mann ständig großzügiges Essen und Trinken lautstark kritisiert und ihnen allen Mäßigung und Zurückhaltung bei Tisch gepredigt...und ihm selbst ab und an kräftig den Stock übergezogen, wenn er ihn dabei erwischte, wie er Honigwaben stahl oder in der Küche auf Raubzug ging. Vielleicht hatte Aodrén ja auch Recht: Er selbst war trotz seines außergewöhnlichen Alters immer noch schlank wie eine Gerte und lebhaft, wie ein orientalisches Windspiel.

„Sévran“, unterbrach plötzlich eine ruhige Frauenstimme den amüsanten Schlagabtausch zwischen Dinan und dem weisen Mann, „warum versteckst Du Dich in den Falten der Gewänder des Ollamh anstatt unsere Gäste zu begrüßen, wie es sich ziemt?“

„Mutter!“ Das Kind bemühte sich würdevoll zu klingen, als es unter dem weiten weißen Überwurf des alten Drouiz hervor kam. Aber seine Knie wollten nicht aufhören zu zittern. Am liebsten hätte er versucht, sich unsichtbar zu machen. Er hatte ein gewöhnliches Abendmahl mit den Eltern, den Gemeinen und dem Ollamh erwartet, eine Gelegenheit seiner Mutter ins Ohr zu flüstern, wie er mit dem Hirsch durch den Uhel Koad gerannt war und was sie den Tag über zusammen mit Aodrén erlebt hatten...nicht aber Bertrand de Dinan, Locmariaquer und Menez-Kador.

Diese drei Männer waren im vergangenen Frühjahr die Helden des Turniers gewesen, das sein Vater am Hof von Douarnenez abgehalten hatte, um seinen Bruder Glaoda zu ehren, der den Ritterschlag mit erst zwanzig Jahren von Herzog Yann selbst erhalten hatte und nach sechs Jahren in Rennes zu ihnen zurückgekehrt war.

Wie alle anderen Kinder war auch Sévran staunend und bewundernd auf der Tribüne gestanden, als Dinan, Locmariaquer und Menez-Kador zu Dritt die acht Herausforderer aus Concarneau geschlagen hatten, darunter seinen ältesten Bruder Aorélian, den er vergötterte und für seine Fertigkeit mit den Waffen maßlos bewunderte.

„Guten Tag, kleiner Rabe“, begrüßte der Seigneur von Locmariaquer das Kind spöttisch, „jetzt kannst Du nicht mehr wegfliegen und Dich in den Bäumen verstecken.“

Sévran lief feuerrot an, als er sich daran zurückerinnerte, wie er im letzten Jahr nach dem Turnier von Locmariaquer in dessen Zelt dabei ertappt worden war, als er heimlich, still und leise die Waffen des jungen Ritters inspizierte. Eigentlich war es nicht erlaubt und es gehörte sich nicht, ohne eine Einladung in ein fremdes Zelt zu marschieren. Doch ein kleiner Teufel hatte ihn damals geritten und als Locmariaquer ihn überrascht und ausgescholten hatte, war er weggerannt und auf einen Baum geklettert, um seiner gerechten Strafe zu entkommen.

Der junge Mann grinste, strich ihm gutmütig über die langen, schwarzen Haare und steckte ihm dann einen hübsch verzierten, kleinen Dolch in den Gürtel, den er offensichtlich eigens für diesen Anlass in den Speisesaal mitgebracht hatte. Nachdem die Geste Locmariaquers dem Kind ein wenig seine Scheu genommen hatte, verbeugte es sich zuerst ein bisschen linkisch vor der Gemahlin von Bertrand, dann vor den Begleitern des Barons. Schließlich ergriff er mit der Linken und immer noch feuerroten Wangen die Hand der Mutter und drückte sich an sie, weil ihn die ganze Pracht doch einschüchterte. Seine Rechte hielt den Knauf des Dolches fest, an dessen Besitz er sich in der nächsten Zeit erst würde gewöhnen müssen.

III

Auf dem langen Speisetisch waren feinste, leinene Tafeltücher entrollt und zusätzlich Kerzen entzündet, die in Abständen von etwa einer Elle voneinander standen. Die drei großen, schmiedeeisernen Leuchter, die Feuer in den Kaminen und die Kerzenständer auf dem Boden warfen zusätzliches Licht. In einer Ecke, unter einem der Fenster spielten die Musikanten auf Flöten und Harfen leise Melodien. Ambrosius diskutierte angeregt mit Aodrén, Bertrand und seinen Seigneurs. Lachen und tiefe Männerstimmen drangen durch die Musik zu Sévran. Er fühlte sich sicher und beschützt an der Seite seiner Mutter, Maeliennyd plauderte über seinen Kopf hinweg mit der Dame von Surgères, die gerade durch und durch wohlerzogen mit dem Daumen der Rechten und den ersten beiden Fingern einen Spieß mit Rebhühnern ergriff, die in einer schmackhaften Sauce aus Ingwer und Traubensaft auf einer silbernen Platte vor ihr lagen. Durch die vielen Menschen war es in dem großen Saal herrlich warm und die guten Speisen von denen er gekostet hatte, gaben dem Kind nach seinem langen Tag draußen im Wald und an der frischen Luft ein Gefühl der angenehmen Trägheit und Müdigkeit. Seine rabenschwarzen Augen hielt er nur noch mühsam offen, weil er sich auf das sanft flackernde Licht der Kerze direkt vor seinem Platz konzentrierte. Aus dem Augenwinkel bemerkte Sévran, wie der Edelknappe, dem er viele Stunden zuvor zugezwinkert hatte seinen Teller fortnahm und eine kleine Schale mit dampfendem, köstlich nach Zimt riechendem Milchreis vor ihm hinstellte.

Er würde noch ein bisschen vor sich hin träumen, bevor er die Nachspeise in Angriff nahm. Egal wie viel er gegessen hatte; Milchreis war ein seltenes Ereignis. Reis war wertvoll und rar und gewiss nur dem überraschenden Auftauchen der hohen Gäste zu verdanken.

„Ein Meisterwerk, diese gebratene Ente“, hörte das müde Kind irgendjemanden bei Tisch sagen.

„Es muss an der Füllung liegen: Backpflaumen, Kastanien, gerauchter Speck und... Pfeffer. Das verlangt einen kräftigen Nachsch...“

Die Flamme der Kerze flackerte nicht mehr vor Sévrans Augen. Sie stand für einen kurzen Augenblick ganz still. Ihr gelber Farbton veränderte sich, wurde bläulich, dann rötlich und schließlich grün vermischt mit dem Braun von Erde. Sie breitete sich langsam aus, lief nicht mehr spitz nach oben zu sondern wurde kreisrund.

Sévran konnte die Stimme seiner Mutter nicht mehr hören und auch die Musikanten mit ihren Flöten und Harfen waren verschwunden. Das Ende des Satzes über die gefüllte Ente?

Anstatt der gewohnten Geräusche im Speisesaal des Palas von Rusquec vernahm er sonderbare Worte in einer sonderbaren, ungehobelt anmutenden Sprache. Er konnte sie aber nicht verstehen. Plötzlich waren die Kerze und die Flamme und der große Saal mit seinen Gästen und seinen Eltern verschwunden. Es war nicht mehr angenehm warm, sondern kühl und feucht. Panik legte sich wie eine Klaue fest um seine Kehle und schnürte ihm die Luft ab. Sein Atem ging stoßweise.

Eine harte Herbstsonne strahlte auf ein Feld: Grünes Gras, braune Erde, silbern glänzende Waffen und Rüstungen, gesichtslose Männer in einfachen, schwarzen Lederwamsen sanken gleichzeitig auf die Knie. Ein gefährliches Zischen verwandelte sich in das bedrohliche Brummen eines aufgebrachten Bienenvolkes. Pferde wieherten schrill. Männerstimmen brüllten jetzt wild durcheinander. Manches verstand er, anderes nicht.

Sévran richtete sich auf und trat einen Schritt zurück um besser sehen zu können. Was war geschehen? Warum war seine Mutter nicht mehr da und wo waren der Vater, Aodrén, Locmariaquer, Blanvalet, Dinan, Poher und die Musikanten? Warum stand seine Schüssel mit süßem, duftendem Reis nicht mehr vor ihm, sondern ein riesiger Berg aus Fleisch und Muskeln und Metall. Warum fühlte er Kälte, Angst, Schmerz, Schrecken und Tod so nah, wo es doch im Palas warm und sicher gewesen war?

Der Berg schlug wütend auf einen anderen Mann ein. Sévrans Augen weiteten sich vor Schrecken. Der, der angegriffen wurde…

„Aorélian, mein Bruder…“, rief das Kind entsetzt und sprang einen Schritt zur Seite, um dem Erben des Herzogs von Cornouailles Platz zu machen, damit dieser mit seinem Anderthalbhänder ausholen und sich gegen den Fleischberg zur Wehr setzen konnte. Doch der Bruder antwortete ihm nicht. Er biss nur seine Zähne fest zusammen und ließ mit voller Wucht den Anderthalbhänder nach unten sausen. Der Fleischberg riss die Augen weit auf. Aus seiner Kehle kam ein gurgelndes Geräusch, er fiel mit gespaltenem Schädel vorne über. Blut. Blut vermischte sich mit braunem Schlamm und schrecklichen Schreien von allen Seiten. Jetzt stürmte ein anderer in einem roten Waffenrock auf den Bruder los, der zu Boden gestürzt war. Aorélian blutete. Er schien es nicht zu bemerken.

„Mein Bruder, was ist mit Dir?“ Sévran streckte zitternd die Hand aus um den abgebrochenen Pfeil zu berühren, der im Oberschenkel des jungen Mannes steckte. Er wollte Aorélian helfen, doch er konnte den Pfeil in der Wunde nicht greifen. Der Pfeil war aus Luft.

Schreie, das harte Zusammenschlagen von Metall. Pferde donnerten wahnsinnig geworden durch die Reihen der Kämpfenden in den Wald. Von allen Seiten hatten sie ihn jetzt umringt. Neben dem Bruder lagen Tote, Männer deren Gesichter Sévran schon einmal gesehen hatte, bei einem Mahl im großen Saal des Palas oder draußen in der Ville Close von Concarneau, wo sie ihrem Waffendienst nachgingen. Andere erkannte er nicht. Nur das sie nicht mehr lebten, das war deutlich. Dem einen fehlte ein Arm, ein Pfeil steckte in seiner Gurgel, genau da, wo das Kettenhemd aufhörte, seine Augen starrten leblos den blauen Himmel und die Herbstsonne an. Aorélian hatte seinen Anderthalbhänder umklammert und hielt ihn, wie einen Spieß, um sich gegen den wütenden Angreifer im roten Waffenrock zu wehren.

„Bruder, gib Acht“, schrie das Kind panisch und stürzte sich mit erhobenen Fäusten auf den Angreifer von Aorélian, doch er konnte ihn nicht treffen. Der Schlag ging ins Leere. Er war aus Luft, aus Luft und Blut…und dann war er plötzlich verschwunden und Sévran stand weit weg von diesem Ort des Schreckens und fühlte sich für einen kurzen Augenblick sicher, als er erkannte, wer neben ihm stand.

„Meister Juizig, was macht Ihr denn hier“, erkundigte er sich erleichtert bei dem Mann in der dunkelbraune Lederweste. Gerade aufgerichtet stand der neben ein paar anderen Männern, die Sévran schon häufig getroffen hatte, wenn sie am Markttag in Concarneau ihre Fische oder ihr Gemüse anboten. Der, der ihm nicht antwortete, hatte einen Sohn: Szenec war Sévrans bester Freund. Sie kannten sich seit ewigen Zeiten und spielten oft zusammen, denn sie mochten sich gut leiden, auch wenn er der Sohn des Herzogs war und Szenec nur das Kind eines Fischers von der Felsenküste.

Juizig ignorierte Sévran. Er stand ganz gerade und aufrecht und starrte ein Loch in die Luft des Herbsttages. Die Männer starrten alle Löcher in die Luft. Sévran ging zum nächsten, versuchte ihn zu schütteln, damit er antwortete. Seine Hände griffen ins Leere. Stimmen drangen an sein Ohr. Es waren immer noch Schreie zu hören und Pferde wieherten wild, doch das lag weit weg von dieser Lichtung. Und warum stand sein anderer Bruder Glaoda hier zwischen den Männern? Aber Glaodas Blick war nicht leer; er war, wie Feuer. Der junge Mann brannte förmlich. Er bebte. Sévran spürte die unnatürliche, hasserfüllte Aura seines anderen Bruders und er konnte plötzlich genau erkennen wogegen sie sich richtete. Da knieten sie und wieder waren es diese schwarzen Lederwamse, diese gesichtslose Masse, die er bereits zuvor gesehen hatte, dort wo sich das grüne Gras mit der braunen Erde vermischte. Er wusste, das Aorélian dort hilflos unter den Leichen der beiden Männer begraben lag, die er gerade erschlagen hatte, um sich zu verteidigen.

Noch bevor das Kind seinen zweiten Bruder erreicht hatte, war da wieder dieses Zischen in der Luft und es wurde zu einem absonderlichen Brummen. Dann trafen hundert zornige Pfeile gleichzeitig. Juizig griff sich an die Kehle und fiel ohne einen Laut vorne über. Der neben ihm schrie gellend, als er nicht mehr sehen konnte und sein Bruder...sein Bruder Glaoda war ganz langsam in die Knie gesunken. Es hatte beinahe wie ein Willensakt ausgesehen. Ganz langsam, bedächtig und kontrolliert. Aus seiner Brust ragten drei Pfeile. Sie steckten genau in der Mitte, im Zentrum des Pentagramm, das die beiden Quinotauren von Cornouailles zwischen ihren Klauen festhielten…Glaoda schloss die Augen und fiel.

Sévran schrie, wie er noch nie zuvor in seinem Leben geschrien hatte. Er versuchte dort hinzurennen, von wo die Pfeile geflogen waren. Er wollte sich auf diese gesichtslose braune Masse stürzen und ihnen die Augen auskratzen. Seine kleine Hand suchte nach dem Dolch, den Locmariaquer ihm geschenkt hatte. Er würde sie verfluchen. Nicht die Augen auskratzen. Nein, er würde die Gesichtslosen verfluchen, sie und ihre Weiber und Kinder und bis in die siebte Generation sollte sein Fluch tragen. Doch er lief durch die gesichtslosen Männer in ihren schwarzen Lederröcken hindurch.

Und plötzlich war alles ganz still. Der Lärm der Waffen und das Geschrei der Kämpfenden wurden vom Wind weggetragen. Die Ebene war, wie tot, doch aus den Wäldern die sie umgrenzten kamen dunkle Schatten. Sie beugten sich über die, die am Boden lagen...tot, verwundet, hilflos. Sévran fand das stolze Banner von Arzhur de Richemont, dem besten Freund seiner beiden älteren Brüder Aorélian und Glaoda zerfetzt und in den Dreck getrampelt. Neben dem Eber und der Eiche von Breizh lag ein junger Mann mit weit aufgerissenen, blauen Augen. Sévran hatte ihn zusammen mit Richemont gesehen, vor einem Jahr, während des Turniers. Noch im Tod umklammerten die Hände des blutjungen Knappen die stolze Kriegsfahne des Bruders des bretonischen Herzogs.

Das Kind ging weiter über das desolate Feld. Es wimmelte von schwarzen, gesichtslosen Schatten, die sich über die Opfer der Schlacht beugten, um sie zu berauben, doch niemand schien ihn zu bemerken. Er erkannte einen roten Waffenrock auf dessen Rücken drei Löwen in Gold gestickt waren. Sévran wollte aufschreien, doch plötzlich erinnerte er sich an die gesichtslosen, grausamen Schatten und schlug entsetzt die Hand vor den Mund um den Schrei zu unterdrücken. Er lief, so schnell er konnte zu der Stelle, an der er den roten Waffenrock erkannte.

Aorélian! Er lag dort hilflos unter den beiden Toten begraben im Dreck. Sévran würde ihm helfen. Er war kräftig und er wusste, dass er es tun konnte. Er würde zuerst die verdammten Kadaver von Aorélians Körper rollen und dann seinem Bruder die Schulter anbieten, damit er sich auf ihn stützen konnte. Sie würden zusammen von diesem schrecklichen, blutigen Ort weglaufen...nach Hause, nach Rusquec und zu Mutter und Vater und zu Aodrén. Aodrén würde Aorélian den Pfeil aus dem Oberschenkel ziehen und ihn heilen. Alles würde wieder gut werden, wenn sie nur erst in Rusquec waren. Sévran rannte los.

Plötzlich standen gesichtslose, schwarze Schatten an der Stelle, an der sein Bruder gefallen war. Sieben große Schatten und einer, der etwas kleiner war.

Sévran riss den Dolch, den Locmariaquer ihm geschenkt hatte im Laufen aus der Scheide und hielt ihn mit beiden Händen fest umklammert. Doch so schnell er auch rannte, er kam nicht voran.

Die großen Schatten rollten zuerst den im roten Waffenrock zur Seite und dann hoben sie den anderen Mann hoch, dem sein Bruder den Schädel gespalten hatte.

Sévran atmete stoßweise vor lauter Anstrengung. Er konnte Aorélian einfach nicht erreichen, obwohl die schwarzen Schatten, die um ihn versammelt standen plötzlich Gesichter hatten; sieben erwachsene Männer in Waffenröcken und ein braunhaariger Junge in einem Lederwams und mit dunkelbraunen Lederhosen , der aussah als ob er vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war. Der Junge hatte dunkelbraune Augen. Sie glänzten boshaft, als er aus der Hand eines der erwachsenen Männer ein Beil entgegennahm. Sévran konnte genau erkennen, das sein Bruder lebte. Aorélian –von den beiden Leichen befreit- versuchte verzweifelt sich aus dem Schlamm aufzurappeln. Doch anstatt ihm dabei zu helfen, versetzte der Junge mit den braunen Haaren und den braunen Augen ihm einen Tritt in die Brust. Dann hob er boshaft grinsend die Axt...

„Nein“, schrie Sévran so laut, dass er glaubte seine Lungen würden bersten. Die Axt sauste hinunter; einmal, zweimal, dreimal. Aorélian heulte vor Schmerz, wie ein waidwundes Tier. Der braunhaarige Junge lachte fröhlich, als er die abgehackte, blutüberströmte Rechte von Aorélian aufhob und ihm den Sigillenreif des Cadwalladr vom Handgelenk löste, um ihn an sein eigenes Handgelenk zu stecken.

„Nein“, schrie der jüngste Sohn des Herzogs von Cornouailles noch einmal, so laut er konnte. Doch es war zu spät.

Aorélian lag stumm, mit gespaltenem Schädel, schreckgeweiteten Augen und abgeschlagenen Armen im Dreck. Einer der erwachsenen Männer hob den hellgrünen Schild mit dem Pentagramm und den Quinotauren von Cornouailles vom Boden. Ein anderer nahm den florentinischen Anderthalbhänder seines Bruders. Der Junge, der ihn erbarmungslos totgeschlagen hatte, lachte laut, als er seinen Begleitern stolz den Sigillenreif des Cadwalladr an seinem Handgelenk präsentierte.

Tränen rannen Sévran aus den Augen. Es waren Tränen des Zorns und der Verzweiflung. Er hob den Dolch den Locmariaquer ihm geschenkt hatte hoch und hielt ihn in beiden Händen. Da war der, den er verfluchen musste und er konnte ihn plötzlich ganz genau erkennen. Er schwebte über dem Feld aus Grün, Braun und rotem Blut. Er würde dieses Gesicht in seinem ganzen Leben nicht vergessen. Niemals. Sévran erkannte das abgrundtief Böse.

„Mörderbrut“, schrie er den Dunklen wütend an, „Mörderbrut!“

Als der lachende Junge mit den braunen Locken nicht reagierte, sondern weiter über seinem toten Bruder und dem Dreck schwebte, fiel Sévran auf die Knie. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, zog er die scharfe Klinge seines Dolches über das weiche Fleisch seines Unterarmes.

„Morrigù, Tochter des Lichtes. Ich bitte Dich, höre meinen Fluch, oh Morrigù, Herrin der Krieger, gebe mir die Kraft für meine schreckliche Verdammung des Mörders, des Schänders des schwarzen und des roten Drachen, Ich verfluche und vernichte Dich. Ich verfluche Dein Leben und vernichte Dein Wesen. Bei der Macht der höchsten Tochter des Lichtes verfluche ich Dein Dasein und verbanne Dich in die tiefsten Abgründe der Finsternis. Falle hinein in fürchterliche Qualen. O Morrigù, höre mich, die Erde soll ihn ersticken, denn mein sind ihre Kräfte. Das Feuer soll ihn quälen, denn mein ist seine Magie. Und die Luft soll nicht um ihn wehen, solange meine Hand den Wind zügelt und kein lebenspendendes Wasser soll ihn kühlen, sondern da sei nicht auszuhaltende Qual. Die Kraft meines Fluches soll für immer und ewig auf ihm lastet und die Götter sollen ihn nicht hören, noch ihm jemals helfen. Der Fluch soll ihn verfolgen auf immer und ewig und bis ans Ende der Zeit und der Welt!“

Mit ganzer Kraft schrie das Kind den schrecklichen Fluch hinaus, während sein Blut aus der tiefen Schnittwunde an seinem Unterarm tropfte. Dabei fiel Sévran selbst tiefer und immer tiefer hinab, bis alles nur noch schwarze Nacht um ihn war. Der spöttisch lachende, braunhaarige Knabe war verschwunden und mit ihm waren sie alle fort, die Schreie, das Blut, der Himmel und die Bäume, der verstümmelte Leichnam seines Bruders...

Sévran war es in diesem Augenblick vollkommen gleichgültig, wenn er für seinen schrecklichen, schwarzen Fluch gemeinsam mit dem Mörder von Aorélian ins Bodenlose stürzte.

IV

Die steinalte Frau legte noch mehr Holz auf das Feuer und fächelte es an, um die Flammen an die Scheite zu locken. Regen prasselte gegen die Scheiben aus Butzenglas. Die Feuchtigkeit schien die Steine des Turms zu durchtränken. Die Alte fächelte eifriger. Ab und an warf sie einen Blick zu dem großen Bett, das mitten im Raum stand. Das Kind lag totenbleich zwischen den wärmenden Fellen. Sie konnte von ihrer kauernden Position am Kamin nicht erkennen, ob es noch atmete. Ihre Herrin saß neben dem Jungen. Sie hatte schon lange keine Tränen mehr. Stumm und regungslos hielt sie die farblose, eiskalte Hand ihres jüngsten Sohnes. Der Verband, der sich um den Unterarm des Kindes wand, schimmerte rosig und feucht vom Blut.

Der Ollamh starrte durch das fest verschlossene Fenster hinaus in die Nacht. Hart hob sich sein weißes, mit silbernen Fäden besticktes Gewand von den dunklen Steinen ab. Da stand er, wie eine Statue und starrte hinaus und sagte kein Wort.

Nur Ambrosius Arzhur, ihr Herr schien noch zu leben. Er lief in dem Turmzimmer auf und ab, wie ein wildes Tier, das man in einen Käfig gesperrt hatte. Leise erhob die alte Frau sich aus ihrer kauernden Stellung und schlich zurück zu ihrem Lehnstuhl und zu ihrem Strickzeug. Sie war dabei gewesen. Schon lange munkelte man, dass der jüngste Sohn des Herren von Cornouailles das „Zweite Gesicht“ hatte und den alten Göttern näher war, als dem Hier und Jetzt. Mitten im Nachtmahl, als die Mägde den Waffenleuten gerade frische Weinkrüge hingestellt hatte, war er plötzlich von seinem Platz aufgestanden und eine Stimme, die sie noch nie zuvor gehört hatte, hatte aus Sévran gesprochen. Eine tiefe, unnatürliche Stimme. Eine Stimme aus der anderen Welt von Inis Gwenva. Der große Saal war mit einem Schlag verstummt und die Augen aller Anwesenden hatten sich auf das Kind gerichtet. Niemand war geistesgegenwärtig genug gewesen, um zu verhindern, dass der Knabe sich mit seinem silbernen Dolch tief bis aufs Blut in den Unterarm schnitt.

Die Schlacht im Norden war schrecklich gewesen, Frankreich verloren, der Thron der Valois verflucht. Die nobelsten Namen des Landes verrotteten im Dreck an der picardischen Küste. Bei Azincourt waren ganze Linien der französischen Hocharistokratie einfach ausgelöscht worden. Und Ambrosius Arzhur blieb nichts, außer seine beiden ältesten Söhne und die guten Männer von Cornouailles zu betrauern.

Der Herzog hatte trotz seines Schmerzes und seiner Wut bereits Boten nach Rennes zu Yann de Montforzh und nach Concarneau zu seinem Schwiegervater Cadwalladr Owain Glyn Dwyr geschickt. Seit seiner Niederlage gegen die Engländer im letzten Jahr versteckte der walisische König sich vor den Meuchelmördern, die Lancaster auf ihn angesetzt hatte in Cornouailles.

Die alte Frau kannte das Kind Sévran, seit es vor zwölf Jahren unter den Feuern von Bealltainn an den Ufern der Laïta in der Burg von Carnöet seinen ersten Schrei ausgestoßen hatte. Sie war damals dabei gewesen, als der Ollamh ihn in diese Welt geholt hatte, genauso wie zuvor schon Aorélian, Glaoda und die drei älteren Töchter des herzoglichen Paares. Und Bran'wen hatte mit eigenen Augen mit angesehen, wie Aodrén ihn von den Ufern der weißen Welt, aus dem Hafen der Untergehenden Sonne zurück nach Tir na m-Béa geholt hatte, obwohl er im Augenblick seiner Geburt mausetot gewesen war.

Zuerst hatte das Kind nicht geatmet. Maeliennyd hatte nicht glauben wollen, dass der Knabe tot geboren worden war. Sie hatte geweint und so lange gebettelt, gefleht, geschimpft, geflucht und gedroht. Einen Augenblick lang hatten die Herzogin und der Ollamh damals einen bitteren Kampf um ihren Sohn ausgetragen. Doch dann hatten die Drouiz und Ambrosius im Heiligen Hain von Carnöet die Feuer von Bealltainn entzündet. Genau in diesem Augenblick hatte Sévran seinen ersten Schrei ausgestoßen: hinter den verschlossenen Türen des Gemachs im Zentrum eines Kreises aus kaltem, magischem Feuer. Es war ein Schrei gewesen, wie ein zu Tode verletztes Tier, so schrecklich und so durchdringend, dass sie diesen Schrei ihrer Lebtage niemals würde vergessen können. Und endlich war Aodrén aus dem Kreis getreten, weiß wie der Tod, bleich, wie ein Leichentuch und hatte sie losgeschickt, um warmes Wasser und saubere Tücher zu holen. Sévran war – so hatte der Drouiz ihr damals mit versteinerter Miene erklärt - mit einem Mal aus der Anderswelt ins Leben zurückgekehrt. Sie hatte niemals herausgefunden, was der Weiße Bruder wirklich getan hatte, um das Kind aus der anderen Welt zurückzuholen. Doch Bran‘wen wusste, dass die blaue Flammen seines kalten, magischen Feuers mit einer solchen Intensität gebrannt hatten, dass die mächtigen Bealltainn-Feuer unten im Hain vor ihnen verblasst waren.

Sie hatte bereits damals genau gespürt, das Maeliennyd einem ganz besonderen Wesen das Leben geschenkt hatte, einem Geschöpf das auf der Schwelle zwischen Abred und Gwenved stand, ein Kind, dass der Ankoù fortgeschickt hatte, obwohl seine Augen bereits die weiße Welt von Inis Gwenva und die Kinder des Lichtes gesehen hatten. Weder ihre Herrin noch Aodrén Jaouen Kréc’h Elis hatten ihr damals abverlangt, über das was sie miterlebt hatte Stillschweigen zu bewahren. Doch sie wusste ganz genau, dass sie bis zum Tag ihres Todes niemals wieder frei und unbefangen über diese Nacht sprechen durfte, nicht einmal mit den drei Menschen, die in diesem Augenblick in diesem Raum zugegen waren.

Die alte Frau nahm ihre Stricknadeln auf und setzte ihre Arbeit fort, doch ihre wässrig blauen Augen starrten weiterhin das Bett an, auf dem das Kind lag. Seine kleine Hand schien sich zu bewegen. Ihre Herrin Maeliennyd Glyn Dwyr beugte sich plötzlich zu ihrem jüngsten Sohn hinunter, küsste ihm erleichtert die Stirn und nahm ihn fest in die Arme.

Das Unwetter draußen wurde kräftiger. Obwohl die Ohren der alten Frau nicht mehr viel taugten, hörte sie doch das Wasser, wie es tröpfelnd und rieselnd durch die Ritzen der Mauern des Turmes von Rusquec quoll. Das Kind lebte. Sie konnte ihre Strickarbeit fortlegen und endlich wieder die müden Augen schließen.

V

„Er behauptet, er erinnert sich an nichts mehr“, sagte Aodrén leise zu Ambrosius Arzhur. „Dein Sohn hat das „Zweite Gesicht“, soviel ist gewiss. Doch niemand hat ihn je gelehrt, Visionen zu beherrschen oder sich an sie zurückzuerinnern.

Der Herzog hörte zu. Er war immer noch von den Worten, die die unbekannte Stimme im großen Saal gesprochen hatte zutiefst verletzt und schockiert...diese Stimme aus der Weißen Welt von Inis Gwenva. Die ganze Zeit über, während Aodrén mit ihm sprach stand er seinem Sohn und Maeliennyd mit dem Rücken zugewandt. Er kannte nicht nur die Gerüchte...

Er hatte schon immer gewusst, dass Sévran ein außergewöhnliches Kind war, doch er hätte nie zu glauben gewagt, dass die übernatürlichen Fähigkeiten des Jungen sich eines Tages auf eine so dramatische Art und Weise manifestieren würden.

Natürlich war Sévran von klein auf trotzdem als Edelmann erzogen worden. Er war ihm zwar gelegentlich unheimlich und manchmal fürchtete Ambrosius sich insgeheim sogar ein bisschen vor dem Knaben, doch er war trotzdem ein Sohn des Herzogs von Cornouailles. Er erhielt den üblichen Französisch-, Griechisch- und Lateinunterricht, lernte Gedichte zu verfassen, Harfe zu spielen und sich höflich zu benehmen. Er wusste, wie man ordentlich zu Pferd saß, konnte einen Falken für die Jagd abrichten und war mit Pfeil und Bogen durchaus geschickt. Natürlich waren diese Schulstunden immer nur schmückendes Beiwerk für den Knaben, genauso, wie die halbherzigen Versuche des Konnetabels von Cornouailles, Gud’wal Le Floa’ch de Morlaix, ihm von Zeit zu Zeit die Grundlagen des Waffenhandwerkes zu vermitteln.

Nur was die Drouiz seinen jüngsten Sohn lehrten, hatte wirklich Bedeutung: Das Wissen um die höheren Mächte und von den alten Ritualen, die wahre Geschichte ihres Volkes, die Weisheiten ihrer Vorfahren, das Rechtswesen seines Landes, Astronomie, Mathematik, Pflanzenkunde, Heilkunst, das Deuten von Träumen, die Geheimnisse der heiligen Schrift. Und es war Ambrosius nicht verborgen geblieben, dass ihn Aodrén und Maeliennyd bereits in der weißen und der hohen weißen Magie unterrichteten.

Natürlich liebten er und seine Herzogin ihren kleinen, etwas schwächlichen und oftmals kränkelnden Nachzügler innig und sie erzogen ihn fürstlich, doch sie hatten ihn niemals zum Fürsten erzogen. Dieser Weg war Aorélian vorbestimmt gewesen und in geringerem Masse auch Glaoda. Auf Sévran haftete, auch wenn Ambrosius dies niemals offen zugeben würde, der Makel seiner seltsamen Geburt.

Der Herzog sah Aodrén nachdenklich an. Er hatte in dieser Nacht die ganze Zukunft seines Landes verloren. Er hatte zwar drei Töchter, die alle mit guten, noblen Männern verheiratet waren, doch sie waren Fürsten in ihren eigenen Ländern, weit weg von den Felsenküsten und den undurchdringlichen Wäldern von Cornouailles. Ambrosius seufzte: “Wenn es der Wille der Götter ist, dann wird nach meinem Tod ein Ollamh und Herr der Stehenden Steine über Penn-ar-Bed, Armôr und Argoat herrschen und die Steinringe, die heiligen Haine und die alten Heiligtümer schützen.“

Der Herzog mühte sich, diese Worte hervorzubringen. Seine Kehle versagte beinahe den Dienst. Es klang für ihn so, als würde er selbst das Todesurteil über seinem kleinen Land aussprechen. Niemals seit den Tagen des Rhiotomas hatte ein Mann über Cornouailles geherrscht, der das Land nicht auch mit der Waffe in der Hand zu schützen wusste. Und niemals hatte etwas über dieses Land geherrscht, von dem man nicht genau sagen konnte, ob es Mensch oder Sidhe war.

Ambrosius wusste zwar, dass es sein Same gewesen war, den seine Gemahlin damals entgegen aller Vernunft in ihrem Leib ausgetragen hatte, doch er wusste nicht, was in der Nacht von Bealltainn wirklich über die Wasser aus dem Hafen der Untergehenden Sonne zu ihnen zurückgekehrt war. Tief in seinem Inneren verfluchte er Bran'wen und ihre Ehrlichkeit. Er hatte es sich niemals verziehen, die alte Frau am Morgen nach der Geburt von Sévran ausgefragt zu haben. Und er trug es seinem alten Freund Guy de Chaulliac immer noch nach, weil diesem nach unmöglich vielen Humpen Wein herausgerutscht war, dass die Alte in einer Ecke kauernd in Maeliennyds Gemach zurückgeblieben war, während Aodrén alle anderen von ihrem Lager vertrieben hatte.

Auf diesem Feld in der Picardie war Frankreich verheerend geschlagen worden. Das Ausmaß der Niederlage von Azincourt überschritt bei Weitem das der Katastrophe von Poitiers, die dem Land im September 1356 seinen Königs geraubt hatte. Am Tag von Azincourt hatte das französische Heer und mit ihm Frankreich aufgehört, zu existieren.

Damit hatte ihr ärgster und unerbittlichster Feind Lancaster, der Königsmörder und Thronräuber die besten Aussichten, in nicht allzu ferner Zukunft neben seiner eigenen englischen Krone auch die französische Krone auf dem Haupt zu tragen. Und dann würde er nicht zögern, sondern sich wie ein hungriger Wolf auf die Bretagne und auf Cornouailles stürzen, genauso wie sein Vater sich zuvor auf Wales und Irland gestürzt hatte. Lancaster würde jede Gelegenheit wahr nehmen, sich an den Männern zu rächen, die seit Jahrzehnten bereits den walisischen Dorn in seiner Seite, Cadwalladr Owain Glyn Dwyr unterstützten und die seinen Vater Henry IV. und Reginald de Grey, den Lord von Ruthin in Stücke geschlagen hatten. Nur der Fall der Festungen von Harle'ch und Aberystwyth und die englische Übermacht hatten die Waliser in die Knie und seinen eigenen Schwiegervater ins Exil gezwungen. Ohne ein starkes Frankreich auf der anderen Seite des Meeres, gab es für König Cadwalladr Owain und Wales keine Hoffnung, jemals wieder von der Unterdrückung der Engländer frei zu sein. Und das letzte freie irische Königreich -Thomond- über das sein Schwiegersohn Brian Catha an Eanagh herrschte, würde von den Engländern überschwemmt werden, wie von einer erbarmungslosen Sturmflut.

„Es hat keinen Sinn zu versuchen, den Lauf der Dinge jetzt noch zu ändern, Aodrén. Du wirst meinen Sohn in den Heiligen Wald bringen. Den Rest wird uns die Zukunft zeigen, mein Freund.“

„Du bist der Herzog von Cornouailles und trotzdem bist Du ein Weiser, Ambrosius. Warum zweifelst Du so sehr daran, dass Sévran in der Lage ist, es seinem Vater eines Tages gleich zu tun?“ Aodréns Stimme klang bekümmert. Außer der tiefen Trauer um Aorélian und Glaoda las er in den Augen des Herren von Cornouailles Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.

Ambrosius warf einen kurzen Blick über die Schulter. Maeliennyd hielt das Geschöpf in ihren Armen und streichelte sanft sein blasses Gesicht. In der Stille des Raumes, die nur von den knackenden Holzscheiten und dem Regen, der gegen die Scheiben trommelte durchbrochen wurde, hörte er, wie sie ihm ein altes Lied aus ihrer walisischen Heimat vorsang, um ihn zu beruhigen. Seit sein Sohn aus seiner Ohnmacht aufgewacht war, hatte er keinen Laut von sich gegeben. Er klammerte sich nur stumm und mit völlig verschreckten Augen an der Mutter fest.

„ Aodrén“, der Herzog senkte die Stimme zu einem Flüstern, “machen wir uns nichts vor. Sévran wurde uns von den Kindern des Lichts geschenkt. Er hasst die Gewalt. Er hasst jeden einzelnen Augenblick, in dem er eine Waffe in der Hand halten muss. Er verteidigt sich höchstens einmal mit einem Fluch, aber am liebsten geht er jedem Konflikt aus dem Weg und läuft weg. Das mag für einen gelehrten Mann die richtige Lösung sein, Ollamh, doch für den Herzog von Cornouailles ist es fatal. Du kannst dieses Land nicht beschützen, indem Du Deinem Feind die Galle an den Hals fluchst oder ihm gestoßenen Beiwurz ins Essen mischt, damit er kräftig Dünnschiss bekommt!“

Der alte Drouiz nickte. Natürlich hatte Ambrosius Recht. Cornouailles lebte und gedieh, weil Generationen von Herzögen es mit der Gewalt ihrer Waffen verteidigt hatten. Cornouailles Schiffe fuhren über die Meere und brachten dem Land Reichtum und Einfluss, weil niemand es wagte, die hellgründe Flagge mit dem Pentagramm und den Quinotauren anzugreifen. Cornouailles trat, das Schwert umgegürtet und hocherhobenen Hauptes vor den König von Frankreich, weil kein Valois es je gewagt hatte Cornouailles in die Knie zu zwingen.

„Dein Sohn“, sagte Aodrén langsam und betont‚ „wird niemals den Weg des Schwertes wählen, wenn er irgendwo einen anderen Weg sieht.“ Er musste seine Worte mit Bedacht wählen, um Ambrosius in dieser schrecklichen Nacht nicht noch tiefer zu verletzten: „Doch er hat viele andere Qualitäten, die eines Tages, wenn aus dem Kind ein Mann geworden ist von großem Nutzen für dieses Land sein können. Und um die Form zu wahren, wirst Du ihn eben für ein paar Jahre an den Hof von Rennes schicken. Yann de Montforzh ist ein alter Freund und Verbündeter. Ein Mann muss nicht unbedingt auf dem Turnier oder in einem Gefecht glänzen, um den Ritterschlag zu erhalten.“

Der alte Drouiz wusste sehr genau, dass sein Schüler –genau so, wie Ambrosius es beschrieben hatte – nicht mit der Waffe in der Hand gewaltbereit war. Er schlug nicht zu oder griff an oder terrorisierte andere, um sich Respekt zu verschaffen. Sévran war noch ein Kind und darum neigte er dazu Flüche loszulassen, wenn er seine Selbstbeherrschung verlor. Und wenn er sich bedroht fühlte, dann spann er Intrigen oder mischte irgendwelche üblen Tränke und Pülverchen.

Aber bald schon würde Sévran lernen, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Er war nicht nur auf dem Gebiet der weißen Magie begabt. Die schwarze Kunst stand am Hof des Herzogs von Cornouailles in keinem hohen Ansehen und darum hatte Aodrén es vorgezogen, das Thema dem Herzog gegenüber erst gar nicht anzuschneiden. Doch er lehrte seinen Schüler seit vielen Jahren schon alles magische Wissen, das er selbst besaß: schwarz oder weiß, es machte keinen Unterschied für den alten Drouiz.

Sévran strebte nach Wissen. Er lehrte das Kind und das Kind hatte Anlagen, wie er sie noch nie zuvor in seinem ganzen langen Leben bei einem Schüler je gesehen hatte. Heute war Sévran noch ein roher Edelstein, doch in Brocéliande würde er seine endgültige Form bekommen; Maen Higolin da Varzhin- geschliffen am Schleifstein des Marzhin.

Der Herzog von Cornouailles nickte seinem engsten Ratgeber zu: „So sei es, Ollamh! Wenn er aus dem Heiligen Wald zurückkehrt, wird er zu Yann de Montforzh nach Rennes gehen.“

Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe

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