Читать книгу Einführung in die Musikpädagogik - Peter W. Schatt - Страница 11
Eigenarten wissenschaftlichen Denkens
ОглавлениеMein Denken, das ich an dieser Stelle entfalte, ist einer bestimmten Ordnung im Modus eines bestimmten Systems unterworfen: eines Systems, das wir Wissenschaft nennen. Wie auch das Alltagsdenken richtet es sich auf bestimmte Inhalte und Probleme mit dem Ziel, Orientierung zu gewinnen und eine Positionierung zu ermöglichen – dies wird aus den eingangs angeführten Beispielen deutlich. Ein wesentlicher Unterschied aber zu anderen (alltäglichen) Systemen des Denkens – solchen, die beispielsweise auf die Durchführung von Unterricht oder die überzeugende Darbietung eines Werks gerichtet sind – besteht darin, dass seine Vollzüge jederzeit nachvollziehbar und überprüfbar sein müssen. Dazu müssen die Kriterien, Aspekte, Kategorien und sachlichen Inhalte nachvollziehbar benannt und vor allem begründet werden. Dies gilt sowohl für die Auseinandersetzung mit dem Denken Anderer als auch – quasi in eins damit – für den Vollzug des eigenen Denkens. Insofern habe ich an die Praxis meines eigenen Denkens dieselben Kriterien anzulegen wie an das Denken Anderer – eingedenk des unlösbaren Problems, dadurch keine absolute Objektivität gewinnen zu können, da ich auch meine eigenen Aspekte, Kriterien, Kategorien in der Auseinandersetzung mit Anderen gewonnen habe: Sie stellen quasi die Kehrseite des Anderen im Eigenen (oder des Eigenen im Anderen) dar. Ziel indessen nicht nur der Forschung, sondern wissenschaftlichen Denkens im Allgemeinen ist es u.a., Meinungen, Erfahrungen und Gewohnheiten durch Wissen zu ersetzen (Gruhn, 2006, S. 34–35).
Dass dies mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist, leuchtet spontan ein, wenn man zum einen die einschlägigen Veröffentlichungen der Vergangenheit und der Gegenwart in den Blick nimmt: Sie zeichnen sich nicht nur durch Fülle, sondern auch durch Verschiedenheit aus. Und zum anderen dürfte Musikunterricht – in dem sich immerhin auch musikpädagogisches Denken artikuliert –, zumindest durch Vielgestaltigkeit, wenn nicht durch komplette Heterogenität gekennzeichnet sein.
Gleichwohl widmen sich all diese Facetten musikpädagogischen Denkens dem gleichen Lebenszusammenhang. Ihn herauszustellen wird die nächste Aufgabe sein. Ferner ist darüber nachzudenken, warum es überhaupt eine bearbeitenswerte Aufgabe ist, den Inhalten musikpädagogischen Denkens und seinen Eigenarten nachzugehen. Dazu befassen wir uns zunächst mit dem Gehalt des Begriffs ‚musikpädagogisch‘.
Wer pädagogisch denkt, widmet seine Aufmerksamkeit dem Menschen unter einem bestimmten Aspekt: dem Aspekt der Förderung im Sinne von Lernen, Bildung oder Erziehung. Die Hinsichten dieser Förderung aber sind nicht gegeben und stehen ein für allemal fest, sondern müssen immer wieder neu hervorgebracht werden, da sie in engem Zusammenhang mit der bestehenden und sich stets wandelnden Kultur stehen. Die Grundlagen jeder Förderung nämlich sind einerseits die Diagnose eines Ist-Zustands, der als so beschaffen erkannt wird, dass Lernen, Bildung oder Erziehung notwendig oder zumindest sinnvoll erscheinen, und andererseits die Vorstellung davon, welcher Zustand durch Lernen, Bildung oder Erziehung erreicht werden soll. Insofern sind „Lernen oder Erziehung ohne Vorstellungen vom Menschen" ebenso wenig plan- und realisierbar, wie sich der Mensch „ohne Lernen und Erziehung“ nicht verstehen lässt. Pädagogisches Handeln ist insofern an den Menschen sowie seine Vorstellungen davon gebunden, wie bzw. was der Mensch sein solle, und daher wiederum konstitutiv für den Menschen. Da indessen „Menschen […] immer mehr als nur pädagogische Wesen“ sind, kann man grundsätzlich festhalten: „Der Mensch ist auch ein genuin pädagogisches Wesen“ (Wulf & Zirfas, 2014, S. 9).