Читать книгу Baiern und Romanen - Albrecht Greule, Peter Wiesinger - Страница 8
1.3. Die Herkunft der Baiern nach dem Forschungsstand der 1980er Jahre
ОглавлениеÜber die Frage der Ethnogenese der Baiern – der neue Terminus statt Stammesbildung – wurde in den 1980er Jahren von den beteiligten Disziplinen der germanistischen sprachwissenschaftlichen Namenkunde, der Archäologie und der Geschichtswissenschaft ein weitgehender Kompromiss erzielt. Die Ergebnisse wurden im Jubiläumsjahr 1988 in der großen Doppelausstellung des österreichischen Bundeslandes Salzburg und des Freistaates Bayern in Mattsee und Rosenheim „Die Bajuwaren“ mit dem auf den wesentlichen Zeitraum hinweisenden Untertitel „Von Severin bis Tassilo 488–788“ präsentiert und im Ausstellungskatalog zusammengefasst. Diese äußerst erfolgreiche Doppelausstellung sahen rund 270.000 Besucher, nicht weniger als 64.000 Kataloge wurden verkauft1 und die Medien Rundfunk, Fernsehen, Zeitungen und Journale vermittelten einer breiten Öffentlichkeit die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Gegenüber verschiedenen, immer wieder aufkommenden, jedoch linguistisch unhaltbaren, weil die lautgesetzlichen Entwicklungen des Germanischen nicht beachtenden Erklärungen des Baiernnamens2 ging man weiterhin von der linguistisch einzig richtigen, oben dargelegten Erklärung des Baiernnamens aus und verband sie mit der Bedeutung „Männer aus Böhmen“. Aber gegenüber der älteren „Landnahmetheorie“ änderte sich die Auffassung über die Ethnogenese. So hatte der Erlanger germanistische Sprachwissenschaftler Ernst Schwarz 1969 in seiner Abhandlung „Die Naristenfrage in namenkundlicher Sicht“ gezeigt, dass im anfänglichen bairischen Raum von Ober- und Niederbayern, Salzburg und Oberösterreich eine größere Anzahl von Gewässernamen und eine geringere von Ortsnamen indogermanisch-voreinzelsprachlicher oder keltischer Herkunft auftritt. Im selben Sinn einer romanischen Namenkontinuität ließ Schwarz ein Jahr später die Studie „Baiern und Walchen“ folgen. Die Tradierung all dieser Namen von den Römern und Romanen zu den Baiern war nur dann möglich, wenn Siedlungskontinuität und damit der Fortbestand zumindest einer geringen romanischen Bevölkerung in die bairische Frühzeit gegeben war, worauf auch noch die auf Romanen Bezug nehmenden romanisch-deutschen Mischnamen mit einem romanischen Personennamen sowie die wenigen deutschen Walchen- und Parschalken-Namen hinweisen. Es können also nicht, wie es aus der Vita Severini hervorgeht, wegen ständiger barbarischer Überfälle und Bedrängnisse nach dem Tod des Mönches Severin († 482) 488 alle Romanen nach Italien abgezogen sein, sondern es muss eine romanische Restbevölkerung geblieben sein.
Zu ähnlichen und weitergehenden Auffassungen gelangte auch die Archäologie. Besonders aussagekräftig erwiesen sich hier die neu entdeckten, zum Teil kontinuierlichen, vom 4. bis 7. Jh. belegten Gräberfelder im Bereich des Donaulimes von Neuburg über Regensburg bis Passau, wobei die zahlreichen Gräberfelder in Straubing mit dem nördlich davon gelegenen Friedenhain besonders aufschlussreiches Material lieferten. Hier zeigte sich nicht nur, dass bereits zur Römerzeit seit dem 4. Jh. Germanen als Föderaten angesiedelt wurden, sondern es gelang auch der archäologische Nachweis einer Verbindung mit Böhmen, wie sie dem Baiernnamen schon lange beigelegt worden war. Bereits 1963 hatte der tschechische Archäologe Bedřich Svoboda in seiner Studie „Zum Verhältnis frühgeschichtlicher Funde des 4. und 5. Jhs. aus Bayern und Böhmen“ auf archäologische Fundzusammenhänge aufmerksam gemacht. Nun verwiesen besonders Rainer Christlein († 1983) und dann Thomas Fischer anhand von Funden im Altmühl- und Donauraum auf eine Feinkeramik vom Typus Přešt’ovice ‒ Friedenhain, benannt nach den Hauptfundorten Přešt’ovice bei Pisek in Südböhmen und Friedenhain bei Straubing.3 Dabei handelt es sich um handgeformte dünnwandige Essschalen mit einer charakteristischen Verzierung in Form von Schrägriefen und Dellen auf dem Umbruch. Auf diese Weise konnte die langjährige Annahme einer Einwanderung von „Männern aus Böhmen“ nun archäologisch erhärtet werden. Dass diese Leute zwar namengebend, aber nur ein Teil der an der bairischen Ethnogenese beteiligten weiteren germanischen Gruppen waren, zeigten Untersuchungen weiterer Gräberfelder, besonders jener von Altenerding und München-Aubing mit Bestattungen seit der 2. Hälfte des 5. Jhs. Dort folgen in der Zeit um 500 „Gräber von Leuten verschiedenster Herkunft: Alamannen, Ostgoten, Leute aus Mitteldeutschland bzw. Böhmen und Germanen von der mittleren Donau (Langobarden)“.4 Diese zugewanderten Menschen unterschiedlicher Herkunft verschmelzen mit der verbliebenen romanischen Restbevölkerung schließlich zum Neustamm der Baiern, so dass sich die bairische Ethnogenese bodenständig im Voralpenraum südlich der Donau vollzog. Wie man sich diese Amalgamierung vorstellen kann, illustrierten in der Ausstellung von Mattsee gezeigte drei Abbildungen als Kreise, die man allerdings dem Ausstellungskatalog nicht beifügte. Der 1. Kreis zeigte für die Raetia secunda und Noricum in der 1. Hälfte des 5. Jhs. eine provinzialrömische Bevölkerung aus Romanen und Germanen als Föderaten und als dicker eindringender Pfeil den Einzug von namengebenden „Männern aus Böhmen“. Der 2. Kreis für das späte 5. und frühe 6. Jh. vermittelte in Segmenten die verschiedenen, um diese Zeit zugewanderten germanischen Bevölkerungsgruppen. Es waren zu den ca. 5 % verbliebenen Romanen ca. 25 % Alemannen, ca. 25 % Ostgoten, ca. 25 % Langobarden, ca. 10 % ostgermanische Gepiden, Heruler und Rugier und ca. 10 % Thüringer. Im 3. Kreis für das spätere 6. Jh. waren dann diese verschiedenen Gruppen zum Neustamm der Baiern verschmolzen.
In der Geschichtswissenschaft bildeten sich 1985/86 zwei unterschiedliche Standpunke. So sah 1985 der Wiener Historiker Herwig Wolfram in spekulativer Weise das Aufkommen des Baiernstammes bereits zur Zeit der Herrschaft des Königs der Ostgoten Theoderich im 1. Viertel des 6. Jhs. in Italien.5 Theoderich war es gelungen, seine Herrschaft über die Alpen in die Raetia secunda und nach Noricum auszudehnen, und er versuchte, sich gegen die von Westen andrängenden expansiven Franken und gegen die Thüringer im Norden durch Verträge abzusichern. Dabei ging es um das von ihm übernommene Machtvakuum und in der Raetia secunda und in Noricum, wo sich seit 488 nach dem Teilabzug der Romanen eine germanische Bevölkerung angesiedelt hatte. Sie erhielt nun den Namen Baiern, der wahrscheinlich in der um 525 entstandenen, doch verlorenen Gotengeschichte von Theoderichs Kanzler Cassiodor erstmals festgehalten wurde, aus der ihn dann 551 Jordanes in seine „Getica“ übernahm. So erscheinen die Baiern als „Findelkinder der Völkerwanderung“ im Rahmen der Gebietssicherungen gegenüber den nördlichen Thüringern, mit denen Theoderich 510 in engen Kontakt trat, indem er zu deren Bindung an ihn dem Thüringerkönig Hermanafrid seine Nichte Amalaberga zur Frau gab.6
Dagegen vertrat der Gießener Historiker Jörg Jarnut 1986 in seiner Studie „Die Agilolfinger und die Ethnogenese der Bayern“ einen positivistischen Standpunkt. Er geht davon aus, dass nach dem Tod Theodrichs 526 schon unter seiner Nachfolgerin Amalasvintha und erst recht nach ihrem Tod 535 die Gotenherrschaft zu schwächeln begann, so dass die expansive Politik der fränkischen Merowinger, die Theoderich noch einzudämmen verstand, neuerlich einsetzte. So gelang es ihnen, 531 das Reich der Thüringer zu stürzen und dann der Raetia secunda den ihnen nahestehenden Agilolfinger Garibald als Herzog aufzuzwingen. Obwohl Garibald erst um 555 bezeugt ist, sprechen Indizien bereits für einen viel früheren Beginn seiner Regentschaft. Das aber führte nicht nur zu einer Stammeswerdung der Baiern und Bildung eines eigenen Stammesherzogtums, sondern auch zum Aufgreifen des in den eigenen Reihen vorhandenen Namens. So korrespondieren zeitlich die Entstehung des Herzogtums und die Erstüberlieferung des Stammesnamens.
Durch das Zusammenwirken von Namenforschung, Archäologie und Geschichtswissenschaft wurde also in den 1980er Jahren eine schlüssige Erklärung der bairischen Stammesbildung und Frühgeschichte bis ins 6. Jh. erzielt. Diese Forschungsergebnisse hatten rund zwei Jahrzehnte Bestand.