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Ideologie und Imperium

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Das römische Kaiserreich galt unter seinen Bürgern als beste Form der politischen Organisation – nicht nur verglichen mit den Herrschaftssystemen aller anderen Staaten, die damals existierten (wobei die Ausdehnung der in der Spätantike bekannten Welt die Bandbreite möglicher Vergleiche von vornherein einschränkte), sondern auch gegenüber jedem denkbaren politischen System. Grundlage dieser Behauptung war ein Mix aus Ideen und Konzepten, die größtenteils der Philosophie und dem politischen Denken des klassischen Griechenland entlehnt waren und die unter dem Dach des römischen Kaiserreichs eine neue Ideologie bildeten.

Ausgangspunkt war ein spezifisches Verständnis des Menschen und seiner Rolle im Universum: Der Mensch steht an der Grenze zwischen der Welt des Spirituellen, die von überlegenen, vollkommen rationalen Wesen bevölkert ist, und der irrationalen, rein physischen Welt darunter, der alle anderen Lebewesen angehören. Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das zugleich eine rationale Seele und einen irrationalen physischen Körper hat, was bedeutet, dass er die inhärente Fähigkeit besitzt, entweder völlig rational zu werden, sodass die rationale Seele den irrationalen Körper kontrolliert (wie es die göttlichen Mächte vorgesehen haben), oder völlig irrational wie ein ausschließlich von seinen körperlichen Trieben gesteuertes Tier. Die überlegenen, komplett spirituellen Wesen sind zwangsweise rational und die minderwertigen, komplett physischen Wesen irrational. Allein der Mensch hat die Wahl, sich für eine der beiden Richtungen zu entscheiden.

Dadurch erhielt auch der klassische, griechisch-römische Kulturbegriff eine ganz spezifische Bedeutung. Zivilisation – im Lateinischen civilitas – meinte eine bestimmte Art der sozialen Organisation, die es den Menschen ermöglichte, vollkommen rationale Wesen zu werden, so wie ihr göttlicher Schöpfer es sich wünschte. Konkreter ausgedrückt: Nach der klassischen Theorie gab es eine Reihe spezifischer kultureller Elemente, die der griechisch-römischen Gesellschaft ihre einzigartige zivilisatorische Kraft verliehen, auch wenn diese von verschiedenen Theoretikern unterschiedlich gewichtet wurden. Die charakteristische klassische Bildung der gesellschaftlichen Elite, die Grammatik, Rhetorik und Literatur (auf Griechisch oder Latein) umfasste, galt als wesentlicher erster Schritt. Die Grammatik lehrte Logik und brachte Ordnung ins Denken, die Rhetorik vermittelte die Fähigkeit, beides auszudrücken, und die Literatur lieferte eine Art moralische Datenbank, aus der sich wichtige Erkenntnisse über menschliche Verhaltensweisen und ihre wahrscheinlichen Folgen ziehen ließen. Von Alexander dem Großen etwa konnte man lernen, dass es wenig ratsam war, beim abendlichen Gelage so viel zu trinken, dass man seinen besten Freund mit einem Speer attackierte. Andere Erkenntnisse waren durchaus gehaltvoller. Die Barbaren waren in den Augen der Römer geradezu lächerlich emotional – beim geringsten Erfolg glaubten sie, sie hätten die Welt erobert, beim kleinsten Rückschlag fielen sie in sich zusammen und degenerierten zu einem jämmerlichen Häufchen Elend. Wer sich mithilfe der Literatur mit dem Leben und dem Charakter der Menschen auseinandersetzte, konnten beide Extreme vermeiden.

Auch die Wichtigkeit ganz nüchterner verschriftlichter Gesetze wurde hervorgehoben, auch wenn sie je nach Kontext Ursache oder Wirkung sein konnten. Einige Theoretiker waren der Ansicht, dass die Gesetze das Individuum daran hinderten, seine eigenen Interessen über die aller anderen Menschen zu stellen. Anders formuliert: Die Bildung sorgte dafür, dass das Individuum vernünftig genug war, um seine persönlichen Interessen dem Wohl der Gemeinschaft unterzuordnen, indem es sich den geltenden Gesetzen unterwarf. Ein weiterer wichtiger Faktor waren selbstverwaltete Städte (civitates, Sg. civitas): Sich mit Gleichgesinnten zu treffen, um vernünftige Debatten zu führen und am Ende gemeinsam wichtige Entscheidungen zu treffen, half bei der Weiterentwicklung der eigenen Vernunft weit mehr, als zu Hause zu sitzen und nur mit Sklaven und Frauen zu interagieren. Wer Letzteres tat, war für Griechen und Römer ganz wortwörtlich ein »Idiot« (Lat. idiota, Griech. idiotes – jemand, der sich ins Privatleben zurückzieht, anstatt sich am öffentlichen Leben zu beteiligen, was zu Vernunft und civilitas führen würde).4

Dieses Modell war ganz unverhohlen elitär. Nur Angehörige der vermögenden Elite konnten sich eine private klassische Bildung leisten, und dem Stadtrat einer griechischen oder römischen Gemeinde konnte nur angehören, wer über eine bestimmte Menge Grundeigentum verfügte. Außerdem war das Modell eindeutig patriarchalisch ausgerichtet. Zwar sah das Konzept rein theoretisch die Existenz vollkommen vernünftiger Frauen vor, aber in der Realität galten sie als absolute Ausnahme. Die allgemeine Überlegenheit der gesellschaftlichen Institutionen der Griechen und Römer indes war grenzenlos. Unter Bezugnahme auf die Philosophen Pythagoras und Ptolemaios hatten die Griechen und Römer ein Organisationsprinzip entdeckt, das den gesamten Kosmos durchzog und dafür sorgte, dass allen Dingen eine gewisse Ordnung zugrunde lag. Diese Ordnung spiegelte sich im Abstand der Planeten zur Erde genauso wider wie in der Harmonie in der Musik und in den Proportionen in der Architektur.5 Deshalb war die Vernunft so wichtig: Sie half den Menschen dabei, in die Tat umzusetzen, was der Schöpfer sich ausgedacht hatte. Das erklärt auch, wie die Römer – eine letzte, aber für unsere Zwecke entscheidende ideologische Wendung – zur Überzeugung gelangen konnten, das Göttliche habe ein einzigartiges Interesse an ihrem Staat und seinem Schicksal. Auch hier laufen wieder einige Gedankengänge zusammen: Erstens machte die kosmologische Ordnung auch vor der menschlichen Politik nicht halt; kein irdischer Herrscher konnte Macht ausüben, wenn die göttlichen Mächte dagegen waren. Zweitens war die kulturelle und gesellschaftliche Ordnung, die die römische Politik perfektioniert hatte, auf einzigartige Weise im Einklang mit den allgemeinen Zielen des Göttlichen für die Menschheit – nach dieser Logik war das Römische Reich Gottes Werkzeug zur Schaffung vollkommen vernünftiger Menschen; das Wohlergehen des römischen Staates und seine guten Absichten waren damit ein einzigartiges Zeugnis dafür, dass dieser Staat göttliche Unterstützung genoss.6

Alle diese Gedankengebäude waren längst etabliert, als Konstantin seinen Traum hatte. Sie waren Teil der Ausbildung, die die römische Elite – von adligen Grundbesitzern aufwärts – genoss und die zu diesem Zeitpunkt im gesamten Römischen Reich einigermaßen einheitlich war. Von Schottland bis zum Irak wurden jungen Leuten diese Ideen und Konzepte vermittelt, und alle genossen sie eine sprachlich-literarische Bildung in Latein und/oder Griechisch. Ihre Lehrer waren Grammatiker, Privatgelehrte, wie es sie in jeder größeren Marktstadt des Reiches gab und deren Bildungsprodukt die Conditio sine qua non für eine Aufnahme in die kaiserliche Elite war, sprich: für eine Chance auf eine profitable Karriere innerhalb der politischen und administrativen Strukturen des Kaiserreichs. Es gab gute und nicht so gute Grammatiker, guten und nicht so guten Unterricht, aber alle Grammatiker vermittelten die gleichen Grundwerte und -konzepte; sie waren ein fester Bestandteil des römischen Ausbildungssystems und sorgten über viele Tausend Kilometer hinweg für ein überraschend hohes Maß an kultureller Einheit.7

Auf den meisten Ebenen passte Konstantins neue Religion in diese Gedankengebäude auffallend gut hinein. Der erste wirklich christliche Theoretiker des Römischen Reiches, Bischof Eusebius von Caesarea, erklärte noch zu Lebzeiten Konstantins, es sei kein Zufall, dass Christus während der Herrschaft des ersten römischen Kaisers, Augustus, zur Welt kam. Das Christentum und das Reich seien im Geiste des Göttlichen miteinander verbunden, und mit der Ankunft der christlichen Kaiser sei es Roms Schicksal, die gesamte Menschheit zum Christentum zu bekehren. In der christianisierten Version der althergebrachten römischen Ideologie war der Kaiser nicht weniger als der Stellvertreter Jesu Christi, der bis zu dessen Wiederkunft an seiner Stelle auf Erden regierte, und der römische Staat war der irdische Ausläufer des Himmelreichs. Jedes staatliche Ereignis galt als direkte verbale und zeremonielle Ausdrucksform dieser zentralen christlichen Ideologie, und eine sakrale Aura umgab die Person des Kaisers und seine Untergebenen. Alles war »heilig«, vom kaiserlichen Schlafzimmer bis hin zum kaiserlichen Finanzamt.8

Die Gottheit, der so viel am Wohlergehen des Römischen Reiches lag, zum Gott des Alten und Neuen Testaments umzudeuten, war nicht allzu schwierig, doch es gab durchaus auch einige weiter reichende Veränderungen. Im vorchristlichen Reich beispielsweise hatte keiner so recht gewusst, ob der göttliche Plan auch die armen Landbewohner der römischen Welt (85 bis 90 Prozent der Bevölkerung) betraf, die keinerlei Zugang zu jenen Strukturen hatte, die einen Menschen zum vernünftigen Wesen machten, wie Bildung, Stadträte usw. Die Lehre des Christentums hingegen stellte ganz kompromisslos klar, dass jeder Mensch eine Seele habe und dass vor Gott das Heil jeder einzelnen Seele gleich wichtig sei. Aus diesem Grund galten in den entsprechenden Debatten der postkonstantinischen Zeit, soweit sie uns überliefert sind, immer häufiger nicht mehr die Bildung und die Teilhabe an der städtischen Selbstverwaltung als entscheidendes kulturelles Merkmal, das die vernünftige, von Gott geweihte römische Gesellschaft von ihren minderwertigen – »barbarischen« – Nachbarn unterschied, sondern die schriftlich festgelegten Gesetze.

In einer berühmt gewordenen Stelle bei einem römischen Autor verkündet der westgotische König Athaulf, er habe den Plan, das Römische Reich durch ein gotisches zu ersetzen, aufgegeben, weil seine Anhänger nicht in der Lage seien, sich an schriftlich fixierte Gesetze zu halten. Seine beste Option, fand er, bestand darin, das gotische Militär dazu einzusetzen, Rom zu unterstützen. Und bei einem anderen Autor bricht ein ehemaliger römischer Kaufmann, der inzwischen ein wohlhabender Hunne ist, in Tränen aus, als er sich daran erinnert, wie angenehm das Leben damals war, als sich die Menschen noch an das kodifizierte römische Recht hielten. Überhaupt kam das Erlassen von Gesetzescodices im poströmischen Westen einer Deklaration gleich, dass das eigene Gemeinwesen nun dem Club zivilisierter christlicher Nationen angehörte, selbst wenn diese Gesetze in der Praxis gar nicht zur Anwendung kamen.9 Gesetze eigneten sich dafür deshalb so gut, weil sie jeden Bürger, den Adligen wie den Bauern, innerhalb einer festgelegten Sozialstruktur verorteten. Das geschriebene Recht war eine Gabe Gottes, die dazu diente, allen Menschen den Platz zuzuweisen, der ihnen gebührte.

Das Christentum hatte auch einen Einfluss auf die religiöse Komponente des Berufsbilds des Kaisers. Die römischen Kaiser hatten schon immer auch eine religiöse Funktion gehabt; seit Augustus gebührte allein dem Kaiser der Titel Pontifex Maximus, und als solcher trug er letztendlich die Verantwortung dafür, dass die Götter dem Imperium gewogen waren. Dazu hielt er beispielsweise bestimmte Sühne-Rituale ab, wenn Omina (Vorzeichen) oder Ereignisse darauf hindeuteten, dass die Unterstützung der Götter ausblieb. Da es im Christentum bereits die »Fachleute« gab, die für alle Rituale verantwortlich waren, wurde schnell klar, dass der Kaiser nicht länger als bloßer Priester gelten konnte. Als Gottes Stellvertreter hatte er nach wie vor eine einzigartige Beziehung zum Göttlichen und behielt eine allumfassende religiöse Autorität. Genau das aber machte seine Beziehung zur christlichen Priesterschaft so kompliziert – Kaiser und Bischöfe brauchten eine gewisse Zeit, allein um auszuhandeln, ob und wie der Kaiser an einer öffentlichen Messe teilnehmen konnte, ohne dass seine religiöse Autorität von den Priestern kompromittiert wurde, die ganz offensichtlich Dinge tun konnten, die dem Kaiser nicht möglich waren.10 Es gab auch immer wieder christliche Führungspersönlichkeiten, die die religiöse Autorität des Kaisers in bestimmten Situationen hinterfragten. So sind mehrere Darstellungen von Heiligen und Bischöfen überliefert, die den Inhaber des kaiserlichen Throns zurechtwiesen. Ende des 5. Jahrhunderts verwendete Papst Gelasius in einem Brief an Kaiser Anastasios I. in Konstantinopel eine Metapher von zwei Schwertern, die suggerierte, dass sich die kaiserliche Autorität nicht auf das Heilige erstrecke.11

Zu diesem Zeitpunkt musste sich Gelasius zumindest vor Ort in Rom schon nicht mehr mit einem Kaiser auseinandersetzen, denn die westliche Hälfte des Römischen Reiches war eine Generation zuvor bereits Geschichte. Spätrömische Kirchenmänner, so prominent sie auch sein mochten, hätten aber ohnehin nicht gewagt, dem Kaiser offen ablehnend zu begegnen. In privaten Briefwechseln mit ihren Anhängern ließen sie sich manchmal zu unverschämten Bemerkungen über einzelne Kaiser hinreißen, mit denen sie unterschiedlicher Meinung waren, aber insgesamt übten die Kaiser von Konstantin bis Justinian de facto und de jure Macht über die Kirche aus.

Tatsächlich setzte die Bekehrung Konstantins, was das Wesen und Wirken der christlichen Religion betrifft, eine Revolution in Gang, die mindestens ebenso umfassend war wie die Veränderungen, die die Strukturen und Ideologien des Imperiums durch das Zutun der Religion erfuhren. Man definierte wichtige Dogmen wie die Dreifaltigkeit, richtete neue Herrschaftsstrukturen ein, die die Rechte und Pflichten von Bischöfen, Erzbischöfen und Priestern definierten, und legte neue Regeln für religiöses und moralisches Verhalten fest.

Die Kaiser spielten dabei eine zentrale Rolle. Sie beriefen große Konzilien ein, an denen theoretisch die Gesamtheit aller christlichen Kirchen teilnahm (daher der Begriff »ökumenisches Konzil«), führten dort den Vorsitz und legten sogar die Tagesordnung fest. Bei diesen Konzilien wurden viele der erwähnten Punkte beschlossen – die erste solche Zusammenkunft fand 325 in Nicäa statt.

Die ranghöchsten Kirchenmänner der spätrömischen Zeit waren die fünf Patriarchen: die Bischöfe von Rom, Alexandria, Antiochia, Jerusalem und Konstantinopel. Vier dieser fünf Bischofssitze waren jeweils von einem der Apostel Christi gegründet worden (Konstantinopel war Bischofssitz, weil es als »neues Rom« dem alten Rom in nichts nachstehen sollte). Rom sah sich selbst als prestigeträchtigste dieser fünf Städte, aber die anderen vier teilten diese Ansicht nicht, und eine päpstliche Autorität, wie sie im Hochmittelalter entstand, existierte noch nicht. Dass nur der Kaiser ein ökumenisches Konzil einberufen konnte und die Patriarchen lediglich für regionale Konzile zuständig waren, zeigt noch einmal deutlich, welche religiöse Autorität der Kaiser besaß. In der Praxis erzwangen Kaiser auf den Konzilien Entscheidungen, ernannten hochrangige Kirchenmänner, und die Gesetze, die sie erließen, enthielten viele wichtige formelle Anordnungen für die Kirche. Der ambitionierteste formale Anspruch auf Autorität über die westliche Kirche aus spätrömischer Zeit unterstreicht diesen Punkt; es handelt sich um einen im Jahr 445 verfassten Text, der erklärt: »Nichts darf gegen oder ohne die Autorität der römischen Kirche getan werden.« Dass dies in der Praxis aber völlig ignoriert wurde, ist ein ganz wesentlicher Punkt – es sollte noch einmal siebenhundert Jahre dauern, bis diese Anordnung Wirkung zeigte; ein anderer ist, dass sie aus der Gesetzgebung des weströmischen Kaisers Valentinian III. stammt. In der Realität fungierte der spätrömische Kaiser als Oberhaupt der sich rasch entwickelnden christlichen Kirche (wie es die Auffassung des Kaisers vom göttlichen Ursprung seiner Autorität ja bereits nahelegt), und die Kirche selbst war im Großen und Ganzen eine Unterabteilung des römischen Staates. Mit anderen Worten: Die meisten Reichsbewohner, nicht nur kirchliche Amtsträger, akzeptierten nach wie vor, dass der Kaiser das Recht hatte, eine allumfassende religiöse Autorität auszuüben.12

Gegenüber dieser Neudefinition seiner religiösen Autorität blieben die meisten anderen Elemente des kaiserlichen Amtes im Wesentlichen unverändert. Was die Zivilgesellschaft betraf, so galt es als Pflicht des Kaisers, die wichtigsten Institutionen der civilitas zu schützen, indem er Vorgaben machte, wie der Verwaltungsapparat und die Beamten, aus denen dieser Apparat bestand, das Reich zu regieren hatten. Laut Themistios, einem politischen Berater des Kaisers im 4. Jahrhundert, war die wichtigste kaiserliche Tugend in diesem Zusammenhang die Philanthropie: die Liebe zu den Menschen (und zwar zu allen Menschen, nicht zu ein paar Auserwählten oder Gruppen). In den ideologischen Konstrukten der Griechen und Römer war dies die göttliche Tugend schlechthin; sie ermöglichte es dem Kaiser, für alle seine Untertanen zu sorgen, indem er die wichtigsten gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen förderte, die die civilitas stützten. In der Praxis bedeutete es, dass der Kaiser in einer ganzen Reihe wichtiger Bereiche angemessen handeln musste (oder zumindest so tun musste, als handelte er so). Was das Rechtssystem betraf, so musste er die juristischen Strukturen aufrechterhalten, die die Römer immer häufiger als zentrales Merkmal wahrnahmen, durch das sich ihre zivilisierte Gesellschaft von all den barbarischen Nachbarvölkern unterschied. Ab dem ausgehenden 3. Jahrhundert waren in der römischen Welt größtenteils die Kaiser für die Gesetzgebung zuständig; sie galten für gewöhnlich als »lebendiges Recht« – auf Griechisch nomos empsychos.13 Sie konnten Gesetze erlassen (und manchmal auch brechen), wie es ihnen beliebte, doch da das Recht in ideologischer Hinsicht eine so wichtige Rolle spielte, mussten sie stets in der Lage sein zu demonstrieren, dass das, was sie taten, die Ideale der vernünftigen civilitas unterstützte, auch wenn es sich in Wirklichkeit – wie nicht selten der Fall – ganz anders verhielt.

Eine zweite wichtige zivile Funktion des Kaisers bestand darin, alle hohen Beamten zu ernennen, die in ihrer Gesamtheit den Herrschaftsapparat bildeten. Der Kaiser war der oberste Autokrat, aber wie jeder Autokrat, der über riesige Gebiete mit eingeschränktem Bürokratieapparat herrscht, erledigten de facto seine Beamten die Regierungsgeschäfte; diese besaßen ein hohes Maß an Autonomie. Die ersten Phasen seiner Regierungszeit war ein Kaiser folglich mit der Ernennung neuer Beamter beschäftigt und damit, Beziehungen zu einer ganzen Reihe lokaler Lobbyisten herzustellen, um sich so ein funktionierendes Regime aufzubauen. Wiederum wurde viel von dem, was da geschah, von der Realpolitik diktiert, doch wie Themistios es ausdrückte, formte ein Kaiser den Charakter seines Regimes durch die persönlichen Qualitäten seiner »Freunde«, mit denen er die Machtpositionen besetzte. Der Prozess, wenn der Kaiser seinen Herrschaftsapparat einrichtete, musste zumindest nach außen hin so wirken, als stärke er die civilitas, und dazu brauchte er Repräsentanten, die über passende persönliche Eigenschaften verfügten.14

Aus ähnlichen Gründen suchten die Kaiser immer wieder nach Situationen, in denen sie demonstrieren konnten, wie sie lokale Bildungs- und Regierungseinrichtungen unterstützten, die als Grundbedingung der civilitas galten (auch wenn ihr Handeln dann in Wirklichkeit wenig mehr als Fassade war). Lehrstühle zu vergeben, war immer ein guter Schachzug, genau wie alles, das als Unterstützung der lokalen Selbstverwaltung der städtischen Eliten durchging. Auch wenn die ständige Einmischung durch die zentrale Reichsregierung die lokale Autonomie der Bürger in der Realität immer weiter ausgehöhlt hatte, übten diese kulturellen ideologischen Imperative auch im christlichen Reich des 6. Jahrhunderts noch eine gewisse Kraft aus. Und obwohl Prokop in den Bauten die größte Emphase auf das Christentum und die Verteidigung legt, kam der Stadt als einzig möglichem Kontext für ein wirklich zivilisiertes Leben immer noch eine gewisse Bedeutung zu. So beschreibt Prokop in den 550er-Jahren, wie sich Caput Vada (im heutigen Tunesien) verändert hat, seit dort zwanzig Jahre zuvor Belisars Invasionsstreitmacht landete:

Die Bauern haben den Pflug beiseitegelegt und sind nun eine Gemeinschaft, die sich nicht mehr landwirtschaftlichen Aufgaben widmet, sondern ein städtisches Leben führt. Tagsüber sind sie auf dem Forum und halten Versammlungen ab, um die Fragen zu erörtern, die sie beschäftigen; und sie treiben Tauschhandel miteinander und widmen sich all jenen Dingen, die die Würde des Städters ausmachen.15

Die alte zivilisatorische Kraft, die der lokalen Selbstverwaltung innewohnte, war – zumindest theoretisch – immer noch quicklebendig.

Der vom christlichen Gott persönlich für seine Aufgabe ausgewählte Kaiser hatte auch wichtige militärische Pflichten. Bis weit ins 4. Jahrhundert hinein nahmen die Kaiser als Militärkommandanten aktiv an Feldzügen teil, und manche wurden vor allem deshalb in dynastische Interregna berufen, weil sie bereits bekannte Feldherren waren, so zum Beispiel Valentinian I. und Theodosius I. Doch das Amt des Kaisers behielt seine allgemeine militärische Funktion – oder besser: Verantwortung – auch dann noch bei, als die Kaiser Ende des 4. Jahrhunderts damit aufhörten, persönlich mit in den Krieg zu ziehen. Im Jahr 402 wertete der Dichter Claudian den Sieg der weströmischen Armeen über die gotischen Streitkräfte Alarichs als persönliche Leistung von Kaiser Honorius.16 Dabei hatte Honorius in Wirklichkeit keinen Fuß auf das Schlachtfeld gesetzt, denn er war damals erst zwölf Jahre alt. Und die Schlacht endete auch gar nicht mit einem Sieg der Römer, sondern ging unentschieden aus. Der springende Punkt hier ist jedoch nicht, dass Claudian es mit der historischen Wahrheit nicht so genau nimmt: Entscheidend sind seine Gründe dafür, Honorius’ Beitrag zu dem fiktiven Triumph zu verklären.

In der gesamten Geschichte der römischen Kaiserzeit galt eine Tugend als wichtigstes Charaktermerkmal eines Herrschers: die Fähigkeit, auf dem Schlachtfeld den Sieg davonzutragen. Dass sich daran auch mit dem Aufkommen des Christentums nichts änderte, hatte einen ganz einfachen Grund: Ein militärischer Sieg zeitigte eine weitaus größere ideologische und politische Wirkung als jeder religiöse oder zivile Akt. Letztere beiden Dimensionen des kaiserlichen Amtes – darunter die Beilegung theologischer Streitfragen, Gesetze, die die civilitas sicherstellten usw. – konnte als mögliches Zeichen göttlicher Begünstigung gesehen werden (und wurde es auch regelmäßig), aber die Taten eines Kaisers an diesen »Fronten« waren anfechtbar und wurden immer wieder infrage gestellt. Wurde eine theologische Streitfrage entschieden, gab es dabei immer auch Verlierer in den eigenen Reihen – und sie leugneten oft jahrzehntelang die Legitimität der Entscheidung. Der Streit um die Person Christi innerhalb der Dreifaltigkeit, der eigentlich im Jahr 325 in Nicäa »beigelegt« wurde, ging de facto noch drei Politikergenerationen lang weiter. Wie die folgenden Kapitel zeigen, beschäftigte Justinian Mitte des 6. Jahrhunderts ein weiterer kirchlicher Disput, der theoretisch bereits 451 auf dem Konzil von Chalkedon entschieden worden war. Bei der Gesetzgebung war es ähnlich: Es gab kein Gesetz, das allen Menschen auf die gleiche Weise von Nutzen gewesen wäre (auch wenn die kaiserliche Propaganda dies gerne behauptete).17

Kurz: Ein militärischer Sieg besaß eine größere legitimierende Macht als jede andere kaiserliche Aktivität. Der allmächtige Gott konnte kein deutlicheres Zeichen seiner Gunst senden als einen kolossalen militärischen Sieg über die den Römern innerhalb der göttlichen Schöpfungsordnung per definitionem untergeordneten Barbaren. Während der gesamten römischen Kaiserzeit waren die Kaiser bei allem, was sie taten, darauf bedacht klarzustellen, dass sie im Einklang mit dem göttlichen Plan für die Menschheit handelten. Und in ideologischer Hinsicht gab es dabei nichts, das einem militärischen Sieg gleichgekommen wäre. Selbst wenn ein Kaiser wie der junge Honorius die Truppen nicht persönlich ins Feld führte, konnte eine siegreiche Schlacht seine gottgegebene Legitimität beweisen: Die Feldherren hatten ja in seinem Namen gekämpft. Damit schloss sich der ideologische Kreis. Ein legitimer Kaiser hatte göttliche Kräfte hinter sich, die sich in einem Sieg auf dem Schlachtfeld manifestierten. Und andersherum brachte ein militärischer Erfolg eben mehr politische Legitimität mit sich, als es jede andere Tat eines Kaisers vermocht hätte.18

Dementsprechend nahmen militärische Siege als ultimatives Zeichen göttlicher Unterstützung in der Propaganda aller römischen Herrscher einen zentralen Platz ein. Seit Konstantins unmittelbaren Vorgängern, den Tetrarchen, gaben sich die Kaiser Siegertitel aus den Adjektiven der Namen der besiegten Feinde und fügten sie der Liste ihrer bisherigen Titel hinzu. Zu »Caesar«, »Augustus« oder »Pontifex Maximus« gesellten sich so »Parthicus«, »Alamannicus«, »Gothicus« und viele andere Titel mehr. Diokletian und die anderen Tetrarchen fügten jedem dieser Titel sogar noch eine Zahl hinzu, die anzeigte, wie oft sie (oder einer ihrer Kollegen) einen bestimmten Gegner besiegt hatten: »VII Carpicus« hieß also »siebenmal Sieger über die Karpen«. Nach Konstantin waren die Kaiser nicht mehr so sehr auf Zahlen fixiert, auf Siege aber schon. Jedes Mal, wenn der offizielle Name eines Kaisers erwähnt wurde, wurden seine Untertanen nolens volens mit einer Liste von Siegen konfrontiert, die unterstrich, dass Gott sein Regime unterstützte.19

Anlässe dafür gab es reichlich. Die kaiserliche Titulatur tauchte in allen offiziellen kaiserlichen Verlautbarungen auf, von kurzen Briefen bis zu formellen Gesetzestexten. Und sie fand sich auch auf vielen Inschriften wieder, die meistens mithilfe der Namen der Konsuln datiert wurden – das Konsulamt übten die Kaiser in spätrömischer Zeit regelmäßig selbst aus. Die meisten öffentlichen Anlässe im Römischen Reich, sei es auf zentraler, regionaler oder lokaler Ebene, beinhalteten eine formelle Akklamation, bei der auch sämtliche Titel des amtierenden Kaisers ausgerufen werden mussten. So begann jede Sitzung eines der vielen Hundert Stadträte des Römischen Reichs der Spätantike mit einer solchen Akklamation (auch wenn nur von einer einzigen derartigen Sitzung das Protokoll überliefert ist), genau wie jede formelle Zeremonie im Reich, nicht zuletzt die sorgfältig orchestrierte Ankunft – adventus – des Kaisers in einer seiner Städte. Bei solchen Anlässen wurden die militärischen Leistungen des Kaisers nicht nur in Form der Titulatur erwähnt, sondern in der Regel auch noch ausführlich besprochen. Bei den meisten kaiserlichen Zeremonien brachte jemand einen Panegyricus zu Gehör, eine formelle Lobrede zu Ehren des Kaisers, und wer das Glück hatte, eine solche Lobrede halten zu dürfen, konnte damit seine eigene Karriere vorantreiben. Ein Panegyricus konnte individuell gestaltet werden, doch eine der am häufigsten verwendeten Formen beinhaltete einen Abschnitt, der die Heldentaten des Kaisers im Krieg aufzählte. Und auch wenn sich der Redner für eine andere Form entschied: Er verzichtete niemals darauf, die kaiserlichen Erfolge auf dem Schlachtfeld zu erwähnen.20

Was bei einer Aufzählung dieser Taten indes nie fehlen durfte, war der Hinweis auf den göttlichen Beistand, mithilfe dessen der Kaiser seine Siege errungen hatte. Die Darstellung des Barbaren, der sich den Römern unterwift, spielte in der spätrömischen Ikonografie eine wichtige Rolle. Auf diversen Münzen war – oft begleitet von einer passenden Inschrift wie debellator gentium (»Eroberer von Völkern«) – auf dem Revers ein am Boden liegender Barbar abgebildet, der daran erinnern sollte, dass es für den Kaiser quasi zum Tagesgeschäft gehörte, solche Feinde zu besiegen. Besiegte Barbaren in verschiedenen Posen wurden auch regelmäßig auf den Reliefs abgebildet, mit denen die Kaiser die größeren Städte ihres Reiches zu schmücken pflegten, nicht zuletzt an den gewaltigen Triumphbögen.21 Der kapitulierende Barbar war der ideale Begleiter des siegreichen römischen Kaisers, der göttliche Kräfte hinter sich wusste. In ideologischer Hinsicht dienten Darstellungen wie diese dazu, die Botschaft zu verbreiten, dass das derzeitige Regime alles richtig machte.

Die Ideologien des Römischen Reiches, die sich mit dem aufkommenden Christentum kaum veränderten, legten fest, was der Kaiser zu tun hatte – weniger im Sinne bestimmter Tätigkeiten, sondern indem sie (was nicht weniger wichtig war) eine Reihe von Zielvorgaben definierten, die der Kaiser irgendwie erreichen musste. Ein legitimer römischer Kaiser war kein weltlicher Herrscher im modernen Sinne des Wortes, sondern einer, der direkt vom allerhöchsten Schöpfergott des gesamten Kosmos dazu ausgewählt worden war, dafür zu sorgen, dass die zentralen Säulen intakt blieben, auf denen die vernünftige römische Zivilisation ruhte – Bildung, urbanes Leben, niedergeschriebenes Recht und das Wohlergehen der christlichen Kirche; denn diese Säulen sorgten dafür, dass der Mensch dem göttlichen Plan ein Stück weit näherkam, und im Gegenzug sorgte Gott dafür, dass der Herrscher alle, die ihm im Weg standen, auch tatsächlich aus dem Weg räumen konnte. Dieses Konstrukt war bereits mehrere Jahrhunderte alt, als Justinian 527 den Thron bestieg, doch es war wirkmächtig wie eh und je.

Was auch immer ein Regime sonst noch anstellen mochte: Gemessen wurde es daran, ob es in allen Bereichen dem entsprach, wie man sich eine legitime römische Regierung vorstellte, und der weitaus wichtigste Faktor dabei war einer, der sich (scheinbar) ganz leicht messen ließ: der militärische Erfolg. Man sollte stets bedenken, dass hiermit nicht etwa abstrakte Strategien zur Selbstdarstellung des Regimes gemeint sind. Der überwältigende ideologische Imperativ, der der göttlichen Legitimitierung von Macht und dadurch vor allem dem militärischen Sieg anhaftete, hatte für die politischen Prozesse der römischen Spätantike einen regelrechten Dominoeffekt.

Die letzte Blüte Roms

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