Читать книгу Gerechtigkeit für einen Mörder - Peter Lovesey - Страница 5

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Es heißt, wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere. Wenn sich im Gefängnis Albany eine Tür öffnet, schließt sich eine andere.

Wirklich entmutigend.

Wenn ein Verurteilter von einem Richter gesagt bekommt, daß lebenslänglich in seinem Fall wahrhaftig bis ans Ende seines Lebens bedeuten soll, und wenn er von jeder Berufungsinstanz abgeschmettert wird, dann wird sich dieser Mann vielleicht andere Möglichkeiten überlegen, um seine Strafe zu verkürzen. John Mountjoy wurde in die Kategorie A eingestuft: große Gefahr für die Öffentlichkeit, die Polizei und die Staatssicherheit. Und er dachte daran, seinen Wohnsitz zu wechseln.

Diese Türen. Sie funktionieren nach einem uralten Prinzip. Man geht durch eine hindurch und steht gleich darauf vor einer anderen, die einem den Weg versperrt. Bevor sich die zweite öffnen kann, muß sich die erste hinter einem schließen. So wurden vor tausend Jahren Burgtore gebaut. Aber im Zeitalter der Elektronik funktioniert der Mechanismus automatisch.

Den Neuankömmlingen in Albany wird mitgeteilt, daß sie nicht in einem Hochsicherheitsgefängnis sind, sondern in einem Ultrasicherheitsgefängnis. Sämtliche Tore und Türen sind mit einem Computer in einem Kontrollraum voller Monitore verbunden. Wenn sich jemand irgendwo in Albany einer Tür nähert, ist er auf dem Bildschirm zu sehen. Der Kontrollraum ist das Herz der Anstalt. Abgesehen von den Monitoren befinden sich dort die Übersichtstafel, ein Funkverbindungssystem, der Generator und natürlich das Team der diensthabenden Aufsichtsbeamten. Das Paradoxe daran ist, daß diese Wärter sicherer eingesperrt sein müssen als irgend jemand sonst im Gefängnis, ein Umstand, der unter den Insassen immer wieder für Belustigung sorgt. Stahltüren, Hunde, Flutlicht und ein Sicherheitsdrahtzaun rundherum. Bräche jemand in den Kontrollraum ein, würden sich Szenen abspielen wie beim Showdown in einem James-Bond-Film.

Mountjoy saß im D-Trakt, wo die meisten Lebenslänglichen untergebracht waren. Wenn sie vom D-Trakt zu den Werkstätten gingen, wurden sie durch die computergesteuerten Doppeltüren in den Hauptkorridor geschleust, wo sie stets von einer ganzen Reihe von Wärtern beobachtet wurden.

Der D-Trakt hat Glastüren. Lächeln Sie ruhig, aber die Insassen finden es nicht lustig. Das Glas ist bruchsicher und mit Stahlmaschendraht verstärkt. Diese Türen bewegen sich keinen Millimeter, wenn nicht der entsprechende Schalter im Kontrollraum betätigt wird. Zwischen dem Schließen der einen und dem Öffnen der anderen Tür vergehen sieben Sekunden. Wer den D-Trakt betreten oder – was wahrscheinlicher ist – ihn verlassen möchte, steht eingepfercht in dem hermetisch verriegelten Zwischenraum und wird genauestens inspiziert. Wenn das Überwachungsteam auch nur den geringsten Zweifel hat, läßt sich das zeitliche Intervall beliebig verlängern.

Nachdem John Mountjoy diese Prozedur eine Woche lang beobachtet hatte, kam er zu dem Schluß, daß die Elektronik unmöglich auszutricksen war. Einen Menschen kann man vielleicht täuschen. Einen Mikrochip nicht. Das System ist so ausgelegt, daß selbst bei einem Stromausfall eine der Türen stets verschlossen bleibt.

Eine andere Fluchtmöglichkeit gab es nicht. Die Wände sind einen halben Meter dick, die Fenster haben Gitterstäbe aus gehärtetem Stahl, und jede Fensterbank und jeder Mauersims sind mit rasiermesserscharfem Draht bespannt. Einen Tunnel zu graben kam für Mountjoy schon deshalb nicht in Frage, weil Lebenslängliche in Zellen untergebracht werden, die oben und unten und rechts und links jeweils Nachbarzellen haben. Überall sind Überwachungskameras angebracht. Wenn er aus dem Hauptgefängnisblock herauskäme, hätte er immer noch die Hundepatrouillen vor sich, die Bewegungsmelder, einen fünf Meter hohen Maschendrahtzaun und eine gewaltige Mauer, ausgeleuchtet von Flutlichtlampen an hohen Masten. Albany war als Ersatz für Dartmoor erbaut worden. Man nennt es auch das britische Alcatraz, weil es auf der Isle of Wight liegt. Selbst wenn also jemandem der Ausbruch gelänge, müßte er sich noch immer allerhand einfallen lassen.

Mountjoys erster Schritt zur Flucht war ungeplant. In dem Gang vor dem Aufenthaltsraum, wo die Insassen herumhingen, fand er einen Knopf, einen silbernen Knopf mit eingeprägtem Kronmotiv, einen Knopf von einer Wärteruniform. Da man nie wissen kann, wofür etwas gut ist, versteckte er ihn achtzehn Monate lang in seiner Zelle, bevor er sich einen zweiten beschaffen konnte.

Die Gelegenheit bot sich an einem Sommerabend, als die Wärter ihn zum ›Tresor‹ schleppten, einer der Strafzellen für Störenfriede. Mountjoy war in eine Prügelei geraten, einen gerechten Entscheidungskampf, wie die alten Knackis es nannten, und zwar wegen eines Briefes, den irgendein Idiot ihm weggeschnappt hatte, einen Brief von seiner Mutter. Mountjoy fand das gar nicht lustig. Er wehrte sich, als die Wärter ihn auszogen und in die Zelle stießen. Er bekam blaue Flecke und eine blutige Nase ab, aber es hatte sich gelohnt. In der Faust hielt er die Entschädigung, eine glänzende Silbertrophäe, abgerissen von einer schwarzen Baumwoll-Uniform. Als er schließlich wieder in seine Zelle gebracht wurde, steckte er den Knopf zu dem ersten in sein Versteck unter dem Rücken eines Wörterbuchs.

Wärter hassen es, als nachlässig entlarvt zu werden. Die kleinste Charakterschwäche, die jemand im Gefängnis zeigt, wird gleich um ein Vielfaches verstärkt, und die Wärter fürchten jede Bloßstellung genauso wie die Männer, die sie bewachen. Nach dem, was man sich im Gefängnis erzählt, liegt der Gedanke nahe, daß sie noch schlimmer sind als die Insassen, wenn es darum geht, sich gegenseitig zu verpfeifen. Statt zuzugeben, daß er einen Knopf verloren hat, und danach zu suchen, was ja jeder mitbekommen würde, behält ein Wärter den Verlust für sich und läßt sich von seiner Frau einen neuen Knopf annähen. Gefängnisgepflogenheiten funktionieren nicht immer im Interesse des Systems.

Allmählich erkannte Mountjoy darin seine Chance. Er machte sich emsig daran, die Knopfsammlung zu erweitern. Als er ein oder zwei Monate später in der Schneiderei arbeitete, lernte er einen neuen Häftling kennen, einen Achtzehnjährigen, den man von Parkhurst nach Albany verlegt hatte und der ganz wild auf Tabak war. Sie machten ein Geschäft. Im Gefängnis herrschte ein reger Tauschhandel. Mountjoy bot dem Jungen Zigaretten für einen Brusttaschenknopf an und erzählte ihm wahrheitsgemäß, daß er, falls er mit den Wärtern in ein Handgemenge geriet, beim ersten Mal milde behandelt werden würde. Innerhalb eines Monats hatte er den Knopf, und der Junge hatte fünf selbstgedrehte Glimmstengel, ein Streichholz und die Drohung im Kopf, daß er kastriert werden würde, wenn er nicht den Mund hielt.

Geraume Zeit danach bot sich Mountjoy an einem sonnigen Nachmittag eine unverhoffte Gelegenheit. Wieder war es aufgrund einer Fehde zu Handgreiflichkeiten gekommen, und Mountjoy landete gemäß Vorschrift 48 erneut in Isolationshaft. Wenn man im Y-Trakt, wie der Isolationsbereich genannt wird, überhaupt Sport treiben darf, dann nur allein. Der Hof ist in eine Reihe von schmalen Fitneßbereichen unterteilt. Der Wärter, der Mountjoy baufsichtigte, hatte gerade seine Uniformjacke über die Lehne eines Plastikstuhls gehängt, als er zu einem Zwischenfall in der Nähe gerufen wurde. In den wenigen Sekunden, die Mountjoy nur durch eine Kamera überwacht wurde, vervollständigte er seine Knopfkollektion. In den drei Jahren, die er bereits im Gefängnis war, hatte er gelernt, wie man einem Kameraobjektiv ausweicht.

In der Gefängniswelt sind einige Ausbrüche legendär geworden. Noch heute spricht man mit Ehrfurcht davon, wie der Spion George Blake 1966 aus Wormwood Scrubs befreit wurde und wie zwei Insassen in Gartree 1987 mit einem Hubschrauber aus dem Gefängnishof rausgeholt wurden. John McVicars Flucht aus Durham lieferte die Vorlage für einen Film. Auch John Mountjoy wollte sich seinen Platz in dieser Ruhmeshalle verdienen. Viele Leute meinen, es war ein erstaunlich gewagtes Glücksspiel. Ganz und gar nicht. Es war eine nüchterne Kalkulation, der wohlüberlegte Einsatz eines Pokerspielers in einer Partie von unbegrenzter Dauer.

Wie plant man einen Ausbruch, wenn man einen kompletten Satz Knöpfe hat? Mountjoy verwarf das Naheliegende. Er machte sich keine Gefängniswärteruniform in der frommen Hoffnung, mit einem Bluff durch die Türen zu schlüpfen. Wärter mögen zwar nicht gerade für ihren hohen IQ bekannt sein, aber sie sind durchaus imstande, einander zu erkennen und die Mängel an einer selbstgeschneiderten Uniform wahrzunehmen.

Er belegte einen Kunstkurs. Das heißt, er verschaffte sich einen Grund, mit Bleistift und Papier zu arbeiten, wobei er abstrakte Formen zeichnete und sie schattierte. Nichts sonderlich Anspruchsvolles. Wie der Lehrer bemerkte, erinnerte sein Stil eher an Mondrian als an Picasso. Nur schwarzweiße Quadrate. Kleine, von gleichmäßiger Größe. Der Lehrer vermutete, Mountjoy wolle sich ein Miniaturschachbrett anlegen, statt ein abstraktes Bild zu zeichnen, was zwischen ihnen immer wieder zu Witzeleien führte.

Er arbeitete auch mit anderen Materialien. Heimlich experimentierte er damit, wie sich Stoff färben ließ. Er suchte nach einer Methode, um T-Shirts einzuschwärzen. Sein Ziel war reines Schwarz. Es war ein mühseliges Unterfangen, und zunächst gelang ihm nur eine Serie von Grautönen. Er war geduldig. Er hatte reichlich Zeit und einen stattlichen Vorrat an Lumpen, die er entlang des Sicherheitszaunes um den Hof herum einsammelte, wo der Müll landete, der regelmäßig aus den Zellen geworfen und am nächsten Tag von Putzkolonnen beseitigt wurde. Erst als er mit dem Schwarz seiner gefärbten Lumpen zufrieden war, tauchte er zwei T-Shirts aus Gefängnisbeständen ins Färbebad. Dann machte er sich nachts an die schwierige Arbeit – mit Nadeln aus der Schneiderei und einer Klinge, die aus dem an der Zellenwand rasiermesserscharf geschliffenen Griff einer Zahnbürste bestand –, eine passable Uniform zu schneidern und zu nähen. Die Uniform eines Polizeibeamten.

Schwarz hat zwei Vorteile. Erstens läßt es sich leichter färben als das Mitternachtsblau einer Wärteruniform. Zweitens sind die Nähte nicht so auffällig. Die Wirkung ist um so besser, wenn glänzende Knöpfe das Auge ablenken.

Die Polizeimütze war kurioserweise leichter herzustellen als die Jacke, aber schwieriger zu verstecken, deshalb wartete er damit bis zum Schluß. Er bereitete die Materialien vor, ohne sie zusammenzulegen. Aus Streifen kariertem Papier, das er mit Pappe verstärkte, würde er die Krempe formen. Das flache Oberteil würde aus gefärbter Baumwolle bestehen, die er über eine Pappscheibe spannte, und den Schirm wollte er aus dem glänzenden schwarzen Deckel einer Schachtel Schreibmaschinenpapier schneiden, die er aus dem Mülleimer des stellvertretenden Gefängnisdirektors stibitzt hatte.

Blieben nur noch das Mützenabzeichen und die Silberknöpfe und Rangabzeichen an den Epauletten. Als Grundmaterial dafür verwendete er das Staniolpapier einer Tiefkühlpackung aus dem Küchenabfall. Das Abzeichen wurde zu einem kleinen Meisterwerk der Fälscherkunst; er bildete genau das Emblem der Polizei von Hampshire nach, das er von einem Blatt Briefpapier kopierte, das er ebenfalls aus dem Abfalleimer des stellvertretenden Direktors hatte.

Verglichen damit waren Hemd und Krawatte ein Kinderspiel.

Aber natürlich mußte er seine Fluchtausrüstung verstecken. Zellendurchsuchungen finden in der Regel am frühen Abend statt, wenn die Gefangenen noch nicht in ihren Zellen sind. Daher nahm er alles mit, was Verdacht erregen konnte, und trug es unter seiner Anstaltskleidung. Einige Sachen werden von den Wärtern toleriert. Sie melden niemanden wegen des Besitzes von Nadel und Faden oder Stoffstücken. Sie suchen eher nach Drogen.

Nachdem alles bereit war und nur der genaue Zeitpunkt noch nicht feststand, faßte Mountjoy sich in Geduld. Er durfte seine Flucht nicht übereilen. Das Timing würde von äußeren Faktoren abhängen. Acht Monate vergingen, ohne daß ihm irgend etwas zu Ohren kam, das ihm hätte Mut machen können. Damit war er inzwischen drei Jahre und acht Monate in Albany. Dann kam ein neuer Gefangener in den D-Trakt. Manny Stokesay war ein Mörder, was an sich nichts Ungewöhnliches ist; ungewöhnlich war jedoch, daß er angeblich einem Mann mit bloßen Händen das Rückgrat gebrochen hatte. Beeindruckend. Stokesay war Bodybuilder, über ein Meter achtzig groß und zwei Zentner schwer. Und er hatte einen bösen Charakter.

Binnen einer Woche nach Stokesays Einlieferung fing Mountjoy an, sich für die Flucht bereitzumachen. Er hatte schon andere kräftige, gefährliche Gefangene erlebt, hatte beobachtet, wie sie von den Wärtern systematisch fertiggemacht wurden. Stokesay, so vermutete er, würde sich nicht kampflos unterwerfen. Der Ausgang würde blutig sein, wenn nicht sogar tödlich. Für Mountjoys Plan war ein größerer Tumult im D-Trakt unabdingbar, und jetzt vergrößerte sich die Chance, daß es dazu kam, von Tag zu Tag. Er nähte seine schwarze Hose fertig. Er setzte seine Polizeimütze zusammen. Jetzt war er gefährdet. Eine Zellendurchsuchung, und er war erledigt.

Aber er hoffte zuversichtlich, daß etwas passieren würde. Der neue Insasse sorgte für Spannungen unter den Gefangenen. Alte Allianzen waren bedroht, und es bildeten sich neue Bündnisse. Im Gefängnis gibt es keine Bande der Freundschaft, nur der Angst. Einige der alten Hasen fanden, daß Stokesay zu gefährlich war, um es sich mit ihm zu verscherzen, und ließen ihn wissen, daß sie ihn unterstützen würden. Andere, die nur deshalb überlebten, weil sie clever waren, fungierten als Unterhändler. Die Gefängnishierarchie wurde durch soviel Unsicherheit in ihren Grundfesten erschüttert.

Mountjoy war ein Einzelgänger. Er hatte sich nie von der einen oder anderen Gruppe vereinnahmen lassen. Er kam niemandem in die Quere und erledigte unauffällig seine Aufgaben. In drei Jahren, acht Monaten und dreiundzwanzig Tagen hatte er jeden Körperkontakt mit Mitgefangenen ebenso wie mit Wärtern erfolgreich vermieden. Außer in Kampfsituationen.

Eine Reihe kleinerer Streitereien ebnete über mehrere Tage hinweg den Weg zum ganz großen Krach. Dreimal täglich werden die Toiletten in Albany stark frequentiert, das letzte Mal um halb neun Uhr abends, kurz vor der Zellenschließung. Mountjoy sollte nie erfahren, was genau an dem Abend gesagt wurde, weil er sich bereits gewaschen hatte und in seine Zelle gegangen war, aber dem Geschrei nach zu urteilen, das über die Treppen hallte, hatte Stokesay sich beleidigt gefühlt und einen Mann namens Harragin geschlagen. Das geschah in dem Gebäudeteil, wo sich die Toiletten, Waschbecken und Mülleimer befinden. Harragin war Stokesay zwar körperlich nicht gewachsen, aber er war einer von der zähen Sorte, ein westindischer Exboxer, der für seine Aggressivität bekannt war. Und er hatte eine starke Gefolgschaft. Zwei seiner Anhänger waren auch dort und kamen ihm zu Hilfe. Der große Neuling schleuderte einen von ihnen so heftig gegen ein Waschbecken, daß er einen Schädelbruch davontrug. Mountjoy konnte von seiner Zelle aus hören, wie der Knochen brach. Eine karibische Stimme schrie: »Du hast ihn alle gemacht, du weißes Arschloch!«

Mountjoy trat nach draußen auf die umlaufende Rampe vor den Zellen. Irgendwer schleuderte eine Mülltonne, und das Chaos brach aus. Die beiden Wärter, die die Aufsicht hatten, wurden von Harragins Leuten überwältigt. Mindestens ein Dutzend Gefangene preschten aus ihren Zellen; wer nicht mithalf, würde später bestraft.

Mountjoy sagte sich, jetzt oder nie.

Sein Zeitpunkt war gekommen.

Der Alarm wurde ausgelöst, ein schreckliches Geräusch, das alles übertönte. Weitere Wärter eilten herbei, doch ihnen war der Weg durch den Berg Mülltonnen auf dem Gang versperrt. Die Gefangenen wollten ihren Streit ungestört austragen. Und wenn Mountjoy etwas über Gefängnisinsassen gelernt hatte, dann würden sie nach einem blutigen Kampf mit vereinten Kräften die Wärter fernhalten. Es sah ganz nach einer Revolte aus.

Mountjoy hatte nicht viel Zeit. Die Wärter würden bald jeden in seiner Zelle einschließen, der nicht schon hinter der Barrikade war. Sie würden aus allen Teilen des Gefängnisses kommen. Falls nötig, würde man Verstärkung aus dem Nachbargefängnis Parkhurst herbeirufen.

Er trat zurück in seine Zelle, als der Alarm losschrillte, holte seine Polizeiuniform aus den verschiedenen Verstecken und stopfte sie in die Waschschüssel aus Gefängnisbeständen. Er schloß die Zellentür hinter sich. Er würde nicht zurückkommen. Doch kaum hatte er ein paar Schritte auf der Rampe gemacht, rief ihm ein Wärter von unten zu: »Wo zum Teufel willst du hin?«

»In meine Zelle.«

Mountjoy dankte Gott, daß der Wärter normalerweise nicht im D-Trakt arbeitete. Er hatte nicht gesehen, woher Mountjoy gekommen war, und wußte nicht, welches seine Zelle war. Er rief: »Dann aber mal dalli.«

»Ja, Sir.«

Natürlich ging Mountjoy nicht in seine Zelle. Er ging auf das Ende der Rampe zu, das von dem Krawall am weitesten entfernt lag. Die letzte Tür stand offen. Hier war das Büro der Wärter, und dort würde niemand hineinkommen, solange der Tumult im Gange war.

Nachdem er sich mit einem Blick über die Schulter vergewissert hatte, daß niemand ihn beobachtete, betrat er sein Umkleidezimmer. Auf einem Tisch standen zwei Tassen mit noch dampfendem Kaffee. Eine Sexzeitschrift lag aufgeschlagen auf einem Stuhl. Eine Reihe Spinde. Eine Pinnwand voller Zettel mit Gefängnismitteilungen. In der Ecke ein tragbarer Fernseher, in dem gerade eine Folge von »Inspector Morse« wiederholt wurde.

Jetzt wird es verdammt brenzlig, dachte er. Ich kann mich erst raustrauen, wenn sie die Polizei in den Trakt reingelassen haben – was sie zwangsläufig tun werden, wenn Grund zu der Annahme besteht, daß ein Gefangener jemanden getötet hat. Ich schätze, ich werde mindestens zwanzig Minuten warten müssen, und kann nur hoffen, daß die Meute da unten so lange durchhält. Die am schwersten erträgliche Zeit meiner Haftstrafe. Bis dahin kann ich nicht riskieren, mich umzuziehen.

Er konnte darauf bauen, daß niemand in den Raum kam, solange der Krawall andauerte. Revolten sind in unseren Gefängnissen mittlerweile an der Tagesordnung, so daß man sie nach einem Routineverfahren behandelt. Dabei gilt es vor allem zu vermeiden, daß jemand vom Gefängnispersonal als Geisel genommen wird, daher spielt heutzutage niemand mehr den Helden. Die Wärter stürmen nicht sofort die Barrikade. Sie schließen sämtliche Zellen, die sie gefahrlos erreichen können, und machen dann ihrem Vorgesetzten vor Ort Meldung. An einige wird die minimale Einsatzausrüstung ausgeteilt: Schutzhelme, braune Overalls, Plexiglasschilde, Schlagstöcke und Tränengas. Genau das passierte vermutlich gerade, dachte Mountjoy.

In der Hosentasche hatte er einen falschen Schnauzer aus eigenen Haaren, die mit Klebeband, das er von einem Brief entfernt hatte, zusammengehalten wurden. Um die Klebefähigkeit zu erhalten, hatte er ihn nicht ein einziges Mal anprobiert. Falls er nicht richtig fest saß, würde er ihn nicht benutzen, was bedauerlich wäre, denn die Attrappe war gut gelungen, ein hübsches dunkles Bärtchen, wie Polizisten es gern trugen. Leider klebte eine Seite nicht. Fluchend steckte er den Schnurrbart wieder in die Tasche.

Ein rhythmisches Schlagen setzte ein. Einen Moment lang dachte Mountjoy entsetzt, die Schilde wären bereits im Einsatz, viel früher, als er erwartet hatte. Dann riß er sich zusammen und kam zu dem Schluß, daß der Krach vom anderen Ende der Rampe kam. Das mußten die tobenden Gefangenen sein. Sie hatten sich wohl inzwischen genug geprügelt und versuchten nun, im Kampf gegen die Autorität vereint, sich Mut zu machen. Bestimmt hatten sie die halbe Installation aus der Wand gerissen und sich mit Schrubberstielen bewaffnet.

Er versuchte es erneut mit dem Schnurrbart. Ein noch kläglicherer Versuch. Zumindest könnte er sich die Koteletten kürzen. Jede noch so geringe Veränderung seines Aussehens war von Vorteil. Er machte sich mit der Zahnbürstenklinge an die Arbeit und hatte dabei das Gefühl, mehr Haare auszureißen als abzuschneiden, aber es war der Mühe wert, und es vertrieb ein wenig die Zeit.

Nach fünfzehn Minuten im Zimmer der Wärter zog er sich die Sachen an. Sie waren so geschneidert, daß sie über sein normales Hemd und die Jeans paßten. Sie hatten keinen Futterstoff. Er zog sie vorsichtig an, aus Angst, daß eine Naht reißen könnte. Sie fühlten sich ungewohnt an. Er rief sich in Erinnerung, daß sie auf einem Kontrollmonitor überzeugend aussehen mußten, mehr nicht. Er mußte Vertrauen in ihre Wirkung haben, sonst war er geliefert. Zuletzt setzte er die Mütze auf. Sie paßte wie angegossen und schien perfekt zu sein. Niemand in Albany hatte ihn je mit einer Mütze gesehen. Er stand aufrecht da, die Schultern nach hinten. Polizeibeamter 121.

Weitere zehn Minuten verstrichen. Zehn leere, entnervende Minuten. Er wünschte, er hätte die Gorillas da hinten dazu bringen können, mit dem Trommeln aufzuhören. Er hatte keine Ahnung, was die Wärter machten. Er wagte nicht, nach draußen zu gehen, bis er einigermaßen sicher war, daß Polizisten im Gebäude waren. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit und lauschte.

Irgend jemand sprach durch ein Megaphon.

Die Meute achtete nicht darauf.

Mountjoy lauschte angestrengt, was gesagt wurde.

»... braucht dringend ärztliche Hilfe. Wenn Sie sich weigern, den Arzt zu ihm zu lassen, könnte das für Sie alle schwerwiegende Konsequenzen haben.«

Damit konnte man einen Haufen Lebenslänglicher nicht beeindrucken.

Er drückte die Tür ein bißchen weiter auf und spürte das T-Shirt kalt auf der Haut. Er konnte sehen, wie ein Stoßtrupp in Kampfausrüstung die Rampe entlang auf die Barrikade zuging. Er zog die Tür zu. Das alles ging schneller, als er erwartet hatte. Sie würden doch wohl nicht da reingehen? Vielleicht wollten sie nur die Lage peilen.

Ein Metallgegenstand klapperte auf der Rampe. Wahrscheinlich war der Stoßtrupp gesichtet worden. Es folgte ein Hagel von Flüchen. Und das Geräusch von weiteren Wurfgeschossen, die das Metallgeländer trafen.

Er mußte unbedingt wissen, was unten vor sich ging. Seit Ausbruch des Krawalls waren bestimmt schon fünfundzwanzig Minuten vergangen – eigentlich doch Zeit genug? Er mußte sich beeilen, ehe es auf der Rampe von Wärtern nur so wimmelte. Die nächste Treppe war etwa vier Schritte von der Tür entfernt. Er hoffte darauf, es bis unten zu schaffen, ohne auf sich aufmerksam zu machen.

Wieder spähte er hinaus. Die Wärter hatten sich offenbar zurückgezogen. Der stellvertretende Direktor – Mountjoy konnte seine Stimme hören – sprach eine Warnung durchs Megaphon. »... Grund zu der Annahme, daß ein Mann schwer verletzt ist, womöglich getötet wurde. Ich habe keine andere Wahl, als diesen Zwischenfall rasch zu beenden. Das Gefängnispersonal wird ab sofort von einigen Polizeibeamten unterstützt...«

Mehr brauchte Mountjoy nicht zu wissen. Nach einem weiteren prüfenden Blick trat er nach draußen und ging rasch auf die Treppe zu. Es war eine Doppeltreppe mit einem kleinen Absatz auf halber Höhe. Acht Stufen bis zum Absatz, eine halbe Drehung und acht Stufen bis nach unten. Und dann war es an der Zeit zu beten.

Die erste Treppenhälfte war teilweise vor Blicken geschützt. Die zweite bot keinerlei Schutz. Er erinnerte sich an eine Szene in dem Film »Der letzte Kaiser«. Wie der kleine Junge aus dem Kaiserpalast trat und sich einer riesigen Menschenmenge gegenübersah. So werde ich mich gleich fühlen, dachte er. Wie auf dem Präsentierteller.

Während er die Treppe hinunterging, verließ ihn sein Selbstvertrauen. Was mache ich hier eigentlich, zum Donnerwetter noch mal, mit Klamotten aus gefärbten Lumpen und Pappe als Polizist verkleidet? Wie konnte ich mir nur einreden, daß dieser Plan gelingen könnte?

Er erreichte den Absatz und ging um die Kehre. Weiter, sagte er sich. Wer auch immer dich da erwartet, geh weiter.

Unten waren zig Beamte in dunkelblauen Uniformen. Zum Glück blickte niemand in seine Richtung. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand die Rampe mit der Barrikade. Ein Scheinwerferstrahl glitt über das Metallgitter. Mountjoy ging weiter nach unten. Links von sich, am Rande seines Gesichtsfeldes, gab jemand der Sondereinsatztruppe Anweisungen. Mountjoy schaute geradeaus, versuchte, Blickkontakt zu vermeiden, rechnete jede Sekunde damit, erkannt zu werden.

Er erreichte den Fuß der Treppe und hoffte, in der Menge untertauchen zu können. Die Lampen hier unten waren zum Teil ausgeschaltet, wohl um die Randalierer zu verwirren, was für ihn von Vorteil sein müßte. Er schätzte, daß es bis zur ersten Sicherheitstür fünfzehn Schritte waren, doch bei dem Gewimmel von Menschen war es unmöglich, in gerader Linie darauf zuzugehen. Es war, als würde er ein Minenfeld überqueren. Gott, dachte er, werde ich einem Wärter über den Weg laufen, der mich kennt?

Rücken geradehalten, sagte er sich. Geh wie ein Cop. Was ich jetzt gebrauchen könnte, wäre ein Walkie-talkie, um es mir vors Gesicht zu halten und reinzusprechen, falls jemand auf mich zukommt. Für einen solchen Gedanken war es jetzt reichlich spät.

Er war wie betäubt vor Angst. Die Dinge liefen wie in Zeitlupe ab, als wäre er bloß Zuschauer. Das mußte der Zustand sein, bevor eine fürchterliche Panik einsetzt. Obwohl es von Wärtern nur so wimmelte, hatte er noch keinen einzigen Polizisten entdeckt. Er wollte nicht unbedingt einem begegnen, aber zu wissen, daß die Polizei da war, wäre beruhigend gewesen.

Als er gerade um eine Gruppe herumging, ertönte das Megaphon, und er zuckte so heftig zusammen, daß er beinahe seine Pappmütze verlor.

»Zurück unter die Rampe«, sagte der stellvertretende Direktor. »Wir brauchen hier mehr Platz.«

Er sprach nicht nur Mountjoy an. Die Aufmerksamkeit wurde von oben abgelenkt. Alle setzten sich in Bewegung. Jemand neben Mountjoy fragte ihn: »Ist da oben einer getötet worden?«

»Ist noch unklar«, brummte er, während er versuchte, sich gegen den Strom zu bewegen, und von seinem Kurs abgedrängt wurde. Er kam sich allmählich vor wie ein Ertrinkender. Er haßte die Nähe von Leuten, und das hier waren Wärter. Er war mit ihnen Schulter an Schulter, unfähig, sich zu bewegen.

Er konnte bloß noch vor Angst zittern.

Hinter ihm sagte jemand: »Die rücken wieder vor.«

Offenbar war das Einsatzkommando auf genau der Treppe in Stellung gegangen, die Mountjoy gerade heruntergekommen war. Alles drängte vor, um den Stoßtrupp sehen zu können. Das Gedränge löste sich ein wenig auf, und Mountjoy schob sich nach rechts. Er hatte noch immer gut die Hälfte der Strecke bis zur Tür vor sich. Er war so darauf aus voranzukommen, daß er mit jemandem zusammenprallte und ihn beinahe umgestoßen hätte.

Der Wärter drehte sich um und starrte Mountjoy an. Es war Grindley, der in seinem Trakt arbeitete und den er jeden Tag sah. Er war einen Moment lang wie gelähmt, während Grindley die Augen zusammenkniff und ihn zu erkennen schien. Dann blinzelte Grindley zweimal. Es war ihm am Gesicht abzulesen, daß er sich nicht ganz sicher war. Er konnte nicht glauben, was er da sah, und nüchterne Überlegung sagte ihm, daß er sich täuschen mußte. Dann sagte er: »Tschuldigung, Kumpel.«

Mountjoy traute sich nicht, zu sprechen. Er nickte und ging weiter.

Er war jetzt der ersten Tür ganz nahe. Gott steh mir bei, sagte er sich – eine Gruppe Polizisten stand neben der Tür.

Er konnte jetzt unmöglich stehenbleiben. Die Kamera hatte ihn erfaßt, deshalb würde er seine Rolle wie geplant weiterspielen.

Zwei von den Cops drehten sich zu ihm um und blickten überrascht, was kein Wunder war.

Sie erwarteten, daß er etwas sagte, eine Erklärung lieferte, warum er hier war. Er sagte so glaubwürdig, wie er nur konnte: »Da oben hat’s einen Toten gegeben. Der Direktor will, daß wir uns in Bereitschaft halten.« Dann ging er auf die Tür zu und hob eine Hand, um dem Wärter im Kontrollraum ein Zeichen zu geben. Zitternd wartete er.

Einer der Polizisten sagte: »Bist du aus Cowes, Kollege?«

»Shankling«, antwortete er, »Sondereinsatz«, fügte er hinzu.

»Du kamst mir gleich nicht bekannt vor. Wieso bist du vor uns hier gewesen? Wir sind doch gleich um die Ecke.«

»War ein Tip«, antwortete Mountjoy, und dann – Gott sei Dank – öffnete sich die Tür. Er trat in die Kammer.

Dieser Augenblick, der ihm über Jahre hinweg schlaflose Nächte bereitet hatte, war eine Art Antiklimax. Er mußte die sieben Sekunden lang dastehen, während der Beamte im Kontrollraum ihn genau unter die Lupe nahm. Doch nach dem Nervenkitzel, den er soeben durchgemacht hatte, war dieser Ort das reinste Refugium.

Nichts geschah.

Er wartete.

Er zählte im Geiste mit, den Blick starr geradeaus.

Sieben Sekunden waren vergangen. Mußten vergangen sein, dachte er. Der mustert mich aber genau.

Dann öffnete sich die zweite Tür, und er spürte die kältere Luft des Hauptkorridors im Gesicht. Er trat vor.

Er konnte jetzt den ganzen Weg über beobachtet werden, falls er jemandem verdächtig vorkam. Er ging forsch voran, mit erhobenem Kopf, vorbei an dem Eingang zum C-Trakt zu seiner Rechten und der Krankenstation zur Linken. Er kannte den Weg gut, weil er ihn oft gegangen war, wenn er zu den Kursräumen und zur Bibliothek wollte – natürlich stets in Begleitung. Der Haupteingang lag links hinter den Kursräumen.

Er näherte sich dem B-Trakt. Als er an der Tür war, öffnete sie sich, und eine Gruppe Wärter kam heraus. Sie liefen auf Mountjoy zu, und einen gräßlichen Augenblick lang dachte er, sie hätten Anweisung, ihn aufzuhalten. Aber sie rannten an ihm vorbei zu dem Trakt, den er gerade verlassen hatte. Er ging weiter und bog um die Ecke.

Der Haupteingang des Gefängniskomplexes ist durch ein dreifaches System von Schiebetüren abgesichert. Die Beleuchtung hier ist grell, und Mountjoy war überzeugt, daß jeder Stich an seiner zusammengenähten Uniform auf den Monitoren zu sehen war. Es gab einen Klingelknopf, der jedoch, da war er sicher, vollkommen überflüssig war.

Dann ertönte ein Knistern, und eine Stimme sprach ihn an. »Sie gehen schon, Officer?«

Er lieferte die Antwort, die er sich für den Fall zurechtgelegt hatte, daß er gefragt wurde: »Ist die Verstärkung noch nicht da? Ich soll die einweisen.«

Die erste Tür glitt auf.

»Danke.« Er trat vor.

Er wartete.

Die zweite Tür öffnete sich.

Und die dritte.

In der richtigen Welt war es inzwischen dunkel, aber die Flutlichtlampen an den Masten verwandelten den Gefängnishof in eine gleißende Wüste. Von seinen Füßen strahlten mindestens sechs Schatten ab. Vor dem Haupteingang standen zwei Streifenwagen. Da er wußte, daß er unter Videoüberwachung stand, blieb er kurz neben dem nächsten Wagen stehen und stützte sich ein paar Sekunden lang auf den Fensterrahmen, als würde er einen Funkspruch durchgeben. Dann ging er über den Hof auf das Wachhaus am Hauptportal zu.

Ein Hund bellte, und der Hundeführer brüllte etwas, um das Tier von seinem Irrtum abzubringen, daß John Mountjoy ein Ausbrecher sei. Weiteres Bellen. Mindestens zwei Hundepatrouillen kontrollierten den ersten der beiden fünf Meter hohen Umgrenzungszäune vor der Außenmauer. Er mußte noch durch vier Tore hindurch.

Und jetzt glaubte er, daß er es schaffen würde.

Gerechtigkeit für einen Mörder

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