Читать книгу Gerechtigkeit für einen Mörder - Peter Lovesey - Страница 7

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Sergeant Brown fuhr, als wollte er vom Boden abheben.

Vom Rücksitz des roten Montego aus gesehen, unterwegs in Richtung M 4, verschwammen die Straßen von West London. Diamond, der sich in Autos nie wohl fühlte, versuchte wiederholt, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber seine Begleiter ließen sich nicht dazu verleiten, etwas über die »extreme Krise« zu verraten, die als Rechtfertigung für den nächtlichen Ausflug herhielt. Kurz vor der Autobahn kam Diamond zu dem Schluß, daß die beiden bloß Handlanger waren und keine Ahnung hatten.

Er wechselte das Thema und fragte, was es auf der Personalebene bei der Kripo von Avon und Somerset Neues gab. Wie sich herausstellte, hatte sich einiges getan, seit der neue Chief Constable da war. Von der einstigen Mordkommission – Diamonds Team – waren nur zwei dienstältere Detectives übriggeblieben. Nicht weniger als sieben waren in andere Abteilungen oder in den Vorruhestand versetzt worden. Die Überlebenden waren Keith Halliwell, charmant, aber ein Leichtgewicht, und John Wigfull, der ehrgeizige Karrierebeamte. Wigfull war zum Chief Inspector und Leiter der Mordkommission befördert worden.

Diamond schloß die Augen und sagte sich, daß er das alles hinter sich hatte. Was spielte es für ihn persönlich noch für eine Rolle, daß so ein Schleimer wie Wigfull jetzt an der Spitze stand?

»Gute Idee«, sagte Smith.

»Was?«

»Ein Nickerchen zu machen, solange Sie noch können.«

»Bei der Geschwindigkeit könnte es ein ewiger Schlaf werden.«

Trotzdem schlummerte Diamond ein.

Als er wach wurde, fest überzeugt, auf der Intensivstation eines Krankenhauses zu liegen, waren sie sechzig Meilen weiter, kurz vor einer Raststätte.

»Ich weiß nicht, wie es mit euch ist, aber ich hätte nichts dagegen, einen Kaffee zu trinken«, schlug er vor.

»Wir sind in knapp einer Stunde da«, sagte Smith.

»Dreiviertelstunde«, sagte Brown. »Trinken Sie einen Kaffee, wenn wir da sind.«

»Bis dahin brauche ich was Stärkeres als Kaffee.«

Das letzte Stück, auf der Landstraße über die Ausläufer der Cotswolds, gab Brown Gelegenheit, die Fahrt zu einem Finale zu steigern, bei dem einem das Herz in die Hose rutschte; unterbrochen von scharfen Bremsmanövern, so daß die Reifen Spuren auf dem Asphalt hinterließen, jagte er die kurvenreiche Straße von Cold Ashton hinab, neben der es, wie Diamond wußte, steil in die Tiefe ging.

Unter anderen Umständen wäre das nächtliche Panorama von Bath mit seinen unzähligen Lichtern, die von der hell erleuchteten Abteikirche abstrahlten, ein willkommener Anblick gewesen. Er sparte sich seine Freude für den Augenblick auf, als sie nach rechts in die ebene London Road einbogen.

»Gut.«

»Gut gefahren oder gut, hier zu sein?« sagte Smith.

»Wie spät ist es?«

»Kurz nach drei.«

»Alles in allem zwei Stunden. Wieso haben wir so lange gebraucht?«

Smith und Brown waren leichte Beute. Er freute sich schon auf härtere Gegner.

»Wen treffe ich im Polizeirevier an? Wer sind die von Schlaflosigkeit Geplagten, die heute nacht Dienst haben?«

Smith wußte es nicht oder hatte keine Lust zu antworten.

Der Wagen fuhr zum Haupteingang des Polizeireviers an der Manvers Street, und Diamond ging, nachdem er die Fahrt überlebt hatte, voller Elan zusammen mit Smith hinein, um Antwort auf seine Frage zu erhalten.

Der öffentliche Eingangsbereich war seit Diamonds Zeiten verändert worden, denn man hatte ihn durch Trennwände drastisch verkleinert. Die Silbertrophäen, die Beamte des Reviers gewonnen hatten, waren noch immer in einer Vitrine ausgestellt, praktisch eine Einladung an die jungen Burschen der Stadt, die gern Schaufenster ausraubten. Ein runder Spiegel war strategisch so angebracht, daß man jeden sehen konnte, der hereinkam. Der diensthabende Sergeant arbeitete hinter Sicherheitsglas, wie ein Bankangestellter. Er war einer von den alten Hasen, und sein Gesicht erstrahlte. »Mr. Diamond! Wie schön, Sie wiederzusehen.« Eine herzlichere Begrüßung, als nach dem Grad ihrer Bekanntschaft zu erwarten war. Diamond ließ sich nicht täuschen: Es sagte mehr über das neue Regime aus als über seine Beliebtheit.

Smith eskortierte ihn die Treppe hinauf zu dem Raum, den die hohen Tiere benutzten, wenn sie zu Besuch kamen. Die Ironie des Schicksals wollte es, daß es just der Raum war, aus dem Diamond bei seinem letzten Auftritt hier herausgestürmt war. An jenem unglückseligen Morgen hatte Mr. Tott, der Assistant Chief Constable, in Uniform, zugeknöpft bis zum Hals, am äußeren Ende des ovalen Mahagonitisches gesessen und Diamond davon in Kenntnis gesetzt, daß er von der gerade laufenden Mordermittlung abgezogen und durch Wigfull ersetzt werden würde. Der Vorwurf? Daß er angeblich einem stürmischen zwölfjährigen Jungen, der ihm in die Weichteile getreten hatte, eine Gehirnerschütterung beigebracht hatte. Dabei hatte er ihn nur beiseite gestoßen, gegen eine Wand. Der kleine Matthew hatte später zugegeben, daß er die Gehirnerschütterung nur vorgetäuscht hatte, aber da war Diamond schon nicht mehr bei der Polizei.

Die Tür stand offen.

»Gehen Sie rein«, sagte Smith. »Mr. Tott wartet schon.«

Diamond schlug mit der Hand gegen den Türrahmen. »Haben Sie gesagt, Tott? Das glaube ich einfach nicht.«

»Der Assistant Chief Constable«, flüsterte Smith ehrfürchtig.

»Ich weiß, wer er ist«, sagte Diamond so laut, daß man es in dem Zimmer hören mußte. »Ich wünsche nicht, mit ihm zu sprechen.« Er wandte sich von der Tür ab und ging den Flur entlang zurück zur Treppe. Er wußte selbst nicht genau, wo er hinwollte, bloß weg von diesem verfluchten Mann, den er haßte. Der Zorn, von dem er geglaubt hatte, daß er sich vor zwei Jahren gelegt hatte, flammte wieder in ihm auf.

Smith kam ihm nach und hielt ihn am Arm fest. »Was ist los? Was habe ich denn gesagt?«

»Gerade genug, um ein Blutbad zu verhindern.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Macht nichts. Es hat nichts mit Ihnen zu tun.«

»Doch. Ich soll Sie in das Zimmer bringen. Sie warten dort, um mit Ihnen zu sprechen. Es ist mitten in der Nacht, zum Donnerwetter noch mal! Wo wollen Sie denn hin?«

»Möglichst weit weg von diesem Mistkerl. Ich bin Zivilist. Ich muß vor niemandem zu Kreuze kriechen.«

Er ging die Treppe hinunter.

»Ich kann Sie nicht gehen lassen, Mr. Diamond«, rief Smith ihm nach. »Sie dürfen das Gebäude nicht verlassen.«

»Versuchen Sie mal, mich aufzuhalten«, rief der Exdetective zurück. »Haben Sie einen Haftbefehl?«

Als er das Erdgeschoß erreicht hatte, ging er forsch in die Eingangshalle, vorbei an seinem Freund, dem diensthabenden Sergeant, den er nicht mal eines Blickes würdigte, durch die Doppeltür und hinaus in die Nachtluft.

Tott.

Er sagte laut: »Für wie blöd halten die mich eigentlich?«

Außer sich vor Wut marschierte er die Manvers Street hoch; sein Blutdruck schoß in die Höhe. Ein Stück die Straße hinauf begriff er, daß Punkte vor den Augen kein gesundes Zeichen waren und er besser daran tat, sich zu beruhigen. Zumindest hatte er den Mumm gehabt zu gehen. Eigentlich müßte er sich besser fühlen, weil er seine Unabhängigkeit bewiesen hatte. Er wollte es im Francis Hotel am Queen Square probieren; ein angenehmer Ort, um sein müdes Haupt bis zum Morgen zu betten, wenn er mit dem Zug nach Hause fahren würde. Früher war er manchmal in der Mittagspause, wenn im Revier alles ruhig war, auf ein Bier in die Roman Bar des Francis gegangen. In einer milderen Stimmung als jetzt hatte er die noble Atmosphäre genossen, die an weniger anstrengende Zeiten denken ließ. Dort konnte man sich ausmalen, wie hochgestellte Persönlichkeiten der Stadt, im Nadelstreifenanzug, mit Weste und Uhrkette, sich in Gesellschaft koketter junger Damen mit runden Hütchen amüsierten.

In der Innenstadt von Bath war es für einen Fußgänger weniger gefährlich als in London. Die einzigen Leute, die er sah, waren eine Gruppe Obdachloser, die sich um den Rost hinter dem Römischen Bad drängten, wo die warme Luft herausströmte. Er fühlte sich zwar sicher, aber die Aussicht, den Rest der Nacht auf der Straße zu verbringen, war nicht eben reizvoll. Wenn er um diese Uhrzeit kein Hotelzimmer mehr bekam, würde er zum Bahnhof gehen und auf den ersten Zug warten.

Vor sich sah er das Eingangsportal des Francis aus Glas und Eisen, gegenüber den imposanten Bäumen und dem unschönen Obelisken auf dem Queen Square. Er war nur noch wenige Schritte von der Drehtür entfernt, als ein Polizeiwagen mit Blaulicht und quietschenden Reifen um die Ecke der Chapel Row bog und auf ihn zukam, gegen die vorgeschriebene Fahrtrichtung.

Auf der Südseite des Queen Square ist nichts, wo man sich verstecken könnte. Keine Sträßchen, keine Passagen oder Geschäftseingänge. Dort ist nur das Geländer vor dem Hotel. Diamond hatte nicht die Statur fürs Laufen oder Springen, und er hatte keine Lust, mit der Polizei auf den Fersen ins Hotel hineinzugehen, also trat er an die Bordsteinkante und wartete.

Der Streifenwagen hielt, jemand in Lederjacke und Jeans öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Zunächst registrierte Diamond, daß es eine Frau war, dann erst, daß er sie kannte. Sein Namensgedächtnis war doch nicht so schlecht, wie er befürchtet hatte. Julie Hargreaves war, als sie sich zuletzt gesehen hatten, Sergeant bei der Kripo im Präsidium gewesen. Er hatte sie als fähige und zuverlässige Beamtin in bester Erinnerung.

Er fühlte sich entwaffnet, nahm eine entspanntere Haltung ein und grinste. »Na schön, auf frischer Tat ertappt. Ich leiste keinen Widerstand.«

Sie lächelte zurück. »Ich wäre jede Wette eingegangen, daß Sie zum Francis wollten.«

»Meine alte Stammkneipe.«

»Smithie sucht Sie im Pratt’s.«

»Man muß mich eben kennen«, erwiderte er. »Nehmen Sie mich jetzt in den Schwitzkasten, Julie?«

Sie sagte: »Müßte ich eigentlich. Sie sind der meistgesuchte Mann in Bath.«

Er spürte, daß sie vielleicht bereit war, mit ein paar Informationen herauszurücken, und sagte ernst: »Ich wünschte, irgend jemand würde mir sagen, warum. Mr. Tott scheint zu glauben, daß er noch immer das Recht hat, mich mitten in der Nacht aus dem Bett zu holen, mich hundertzwanzig Meilen mit dem Auto herbringen und vor seinen Thron schleifen zu lassen. Ich habe naiverweise angenommen, die Zeit der absoluten Herrscher sei vorbei.«

Sie sagte: »Entschuldigen Sie, Mr. Diamond. Wir haben hier eine echte Krise.«

»Das hat man mir schon gesagt.«

»Nicht Mr. Tott hat Sie holen lassen.«

»Nein, das stimmt«, räumte er ein. »Es war der große weiße Häuptling, Farr-Jones.«

»Mr. Tott hat in dieser Sache nicht die Fäden in der Hand. Er hat damit zu tun, aber nur als Opfer.«

»Als Opfer?«

»In gewisser Weise, ja. Genauer gesagt, nicht er ist das Opfer.« Zögernd sagte sie schließlich: »Aber seine Tochter.«

»Totts Tochter?«

»Hören Sie, vergessen Sie bitte, daß ich Ihnen das erzählt habe, ja?« Sie blickte über die Schulter zu dem Fahrer. Er sprach gerade ins Funkgerät, also fügte sie hinzu: »Sie wollen Sie selbst über alles informieren. Sie zählen auf Ihre Mitarbeit, absolut.«

»Was kann ich tun, was andere Leute nicht können?«

»Das müssen Sie sich von denen erzählen lassen, Mr. Diamond. Die ganze Sache ist streng geheim.«

Er verkniff sich die Frage: »Was für eine Sache?« Es wäre nicht fair, aus Julie Informationen herauszuholen, die er von offizieller Seite bekommen konnte. Er wußte, was zu tun war. Der Widerwillen, den er bei der Vorstellung verspürte, Tott gegenüberzutreten, war eine persönliche Angelegenheit. Er mußte entscheiden, was wichtiger war: seine Selbstachtung oder das, was der Tochter dieses Mannes widerfahren war, und die Tatsache, daß seine Mitarbeit aus irgendeinem unerfindlichen Grund unabdingbar war.

Julie sagte ohne Umschweife: »Kommen Sie zurück zur Manvers Street und hören sich an, was die Ihnen zu sagen haben?«

»Also gut, Officer. Sie haben gewonnen.«

Im Auto erzählte sie ihm, man habe sie im letzten November zum Inspector befördert. Er sagte, das sei auch an der Zeit gewesen. Und das meinte er ehrlich.

Fünf Minuten später, vor Widerwillen dem Brechreiz nahe, stand er Tott gegenüber, diesem Relikt aus jenen Tagen, da hohe Polizeibeamte von Generälen aus dem Ersten Weltkrieg nicht zu unterscheiden waren. Die anderen an dem ovalen Tisch waren Chief Inspector John Wigfull, Inspector Julie Hargreaves und Inspector Keith Halliwell. Der Empfang, der ihm bereitet wurde, war beängstigend freundlich. Tott stand auf, kam um den Tisch herum und sagte, wie tief sie in seiner Schuld ständen, weil er hergekommen sei. Er ergriff nicht nur Diamonds Hand mit seiner Rechten, sondern hielt mit der Linken dessen Ellbogen und drückte ihn wie ein übereifriger Seelsorger.

Halliwell neigte zur Begrüßung den Kopf und grinste liebenswürdig. Wigfull brachte die Art von Lächeln zustande, das sich ein Tennisspieler abringt, der das Wimbledon-Finale verloren hat.

Diamond bedachte sie alle mit einem Naserümpfen und einem starren Blick.

Tott wandte sich an Wigfull. »Sehen Sie doch bitte nach, wo der Kaffee bleibt, den wir bestellt haben.«

Wigfull lief rot an und verließ den Raum.

Kaum hatte sich die Tür geschlossen, da sagte Tott auch schon: »Mr. Diamond, das hier wird für niemanden von uns leicht. John Wigfull ist jetzt der ranghöchste Beamte und leitet das Revier.«

»Da ich nicht mehr dazugehöre, ist mir das völlig egal«, sagte Diamond.

Tott senkte den Kopf und faltete die Hände unter dem Kinn. Die Körpersprache eines reuigen Sünders. »Ich ... ich möchte eine persönliche Erklärung abgeben. Es wäre erstaunlich, wenn Sie keinerlei Groll gegen mich hegten, aus Gründen, die wir hoffentlich heute nacht beiseite lassen können. Ich möchte Ihnen versichern, daß ich gewissermaßen ungebeten hergekommen bin. Aber ich dachte, daß ich hier sein sollte, wenn Sie eintreffen. Das bin ich Ihnen schuldig.«

»Mir? Wieso das?«

»Und meiner ... noch jemandem. Die Polizei von Avon und Somerset bittet Sie um Ihre Mitarbeit. Ich persönlich möchte an Sie appellieren – nein, verdammt – Sie inständig bitten, wohlwollend zuzuhören, und da wir nicht ganz so freundlich auseinandergegangen sind, als wir das letzte Mal in diesem Raum zusammen waren, so ist das mindeste, was ich tun kann ...«

»Schon verstanden, Mr. Tott«, sagte Diamond. »Ich habe damals gesagt, was ich empfunden habe. Ich habe nicht damit gerechnet, noch einmal hierher eingeladen zu werden, aber hier bin ich.«

»Danke.«

»Also, würde mir bitte jemand sagen, warum?«

Tott war überfordert. Seine Stimme zitterte. Er sagte: »Ich denke, ich überlasse das am besten Chief Inspector Wigfull. Er müßte jeden Moment wieder hier sein.«

Tott und Wigfull. Was für ein Team! Diamond konnte sich keine zwei Leute außerhalb eines Gefängnisses vorstellen, denen er lieber aus dem Weg gehen würde.

Ein Polizeischüler brachte Kaffee und Käse-Schinken-Sandwiches. Wigfull schlüpfte hinter ihm ins Zimmer und nahm wieder am Tisch Platz. Diamond registrierte hämisch, daß Wigfulls Beförderung zum Leiter der Mordkommission eine interessante Veränderung bewirkt hatte: sein Schnauzer war gestutzt. Jetzt sah er nicht mehr wie der smarte Kavalier, sondern eher wie der ehemalige Kapitän der englischen Kricket-Mannschaft aus.

»Wie ich höre, sollen Sie mich informieren, John.«

»Sofort.« Wigfull wartete, bis der Polizeischüler gegangen war. Nachdem sich die Tür wieder geschlossen hatte, warf er Tott einen Blick zu, aus Höflichkeit oder um sich bei ihm einzuschmeicheln, je nachdem, wie man es betrachtete, und erntete ein Nicken. »Wie Sie wissen, ist vor zehn Tagen, also am 4. Oktober, John Mountjoy aus Albany entflohen.«

»Sie sagen ›wie Sie wissen‹, aber ich weiß überhaupt nichts«, sagte Diamond.

Wigfull bedachte ihn mit einem ungläubigen Blick. »Es stand in allen Zeitungen.«

»Ich lese keine Zeitung. Ich bin ein freier Mann, John. Ich mache, was ich will.«

»Nun, er hat sich als Polizist verkleidet und es so durch Gott weiß wie viele elektronisch gesicherte Türen geschafft. Fairerweise muß man dem Gefängnispersonal zugute halten, daß es dort zu diesem Zeitpunkt in einem der Gefängnistrakte einen Zwischenfall gab. Es steht noch nicht fest, ob der Krawall nur inszeniert wurde, um den Ausbruch zu decken. Jedenfalls hatte Mountjoy gut zwei Stunden Vorsprung, ehe Alarm ausgelöst wurde. Er ist entweder tollkühn oder äußerst raffiniert, denn statt sich direkt auf den Weg zur nächsten Landstraße zu machen, ist er zum Nachbargefängnis Parkhurst gegangen, was ja bekanntlich nur einen Katzensprung querfeldein von Albany entfernt ist. Dort ist er zu einer der Personalunterkünfte und hat den Wagen der Frau eines Wärters gestohlen. Er wurde zwei Tage später verlassen in Bembridge aufgefunden.«

»Ein sonderbarer Fluchtweg. Liegt Bembridge nicht weit draußen an der Ostspitze der Insel?«

»Der Mann tut nichts Vorhersagbares. Während nördlich von Albany die ganze Gegend durchkämmt wurde, hat er aus einem Ferienhaus in der Nähe des Hafens ein Segelboot gestohlen.«

»Glück hatte er also auch noch.«

»Eigentlich nicht. Er konnte sich sozusagen eines aussuchen. Die Leute sind leichtsinnig mit ihren Booten auf der Insel. Der Besitzer hat die gesamte Ausrüstung an Bord gelassen. Mountjoy mußte das Boot nur im Schutz der Dunkelheit zum Strand schieben, die Abdeckung entfernen und Segel setzen.

»Wo hat er segeln gelernt?«

»Spielt das eine Rolle?« sagte Tott ungeduldig.

»Für ihn muß es eine Rolle gespielt haben, als er das Boot ins Wasser schob.«

Wigfull sagte, als wäre es eigentlich unnötig, das Offensichtliche auszusprechen: »Er ist in Eastbourne zur Schule gegangen. Privatschule.«

Diamond – der ein normales Gymnasium besucht hatte – weigerte sich hartnäckig, irgend etwas als selbstverständlich vorauszusetzen. »Kriegen die Jungs da Segelunterricht?«

»Normalerweise in kleinen Segelbooten.«

Wigfull besaß nicht nur Insiderwissen über das Privatschulsystem, sondern auch frisch erworbene Segelkenntnisse. »Er muß das Boot im Schutz der Dunkelheit zu Wasser gelassen haben und hart ostwärts gesegelt sein. Zu dieser Zeit war Flut, und sie wird ihn Richtung Portsmouth getrieben haben. Schließlich hat er es tatsächlich geschafft, das Boot über rund fünfzehn Seemeilen bis zum Festland, genauer gesagt, nach West Wittering zu steuern.«

»Woher wissen Sie das so genau?«

»Der Besitzer ist aus London gekommen, um sein Ferienhaus winterfertig zu machen, und dabei hat er festgestellt, daß das Boot nicht mehr da war. Teile vom Rumpf wurden am Strand bei West Wittering gefunden. Man hätte vielleicht annehmen können, Mountjoy sei ertrunken, wenn nicht ein Farmer das Segel und eine Schwimmweste zusammengerollt in einer Hecke gefunden hätte. In der Zwischenzeit hatten Suchtrupps die ganze Insel von Albany bis Cowes durchkämmt, jede Fähre wurde überwacht, und Hubschrauber patrouillierten.«

»Und Mountjoy hat es bis nach Bath geschafft?«

Wigfull nickte. »Alles, was ich Ihnen jetzt sage, unterliegt der Geheimhaltung. Die Medien werden warten müssen, bis wir eine Lösung gefunden haben. Fast eine Woche lang fehlte von Mountjoy jede Spur. Gestern abend dann ist in der Zentrale des Royal Crescent Hotel ein Anruf eingegangen. Der Anrufer klang gebildet. Er hat die Telefonistin angewiesen, sie solle alles mitschreiben, was er sagt, und es so schnell wie möglich an die Polizei weitergeben. Und das hier haben wir bekommen.« Er reichte Diamond ein Blatt mit dem Briefkopf des Royal Crescent.

Diamond warf einen flüchtigen Blick darauf, mit dem er eigentlich seinen Widerwillen demonstrieren wollte, überhaupt in die Sache hineingezogen zu werden, doch der Anblick seines Namens auf dem Zettel war unwiderstehlich. Er nahm das Blatt und las:

»Mr. Tott, im Interesse des Mädchens, sagen Sie Diamond, er soll sich morgen um neun Uhr mit einem Wagen bereit halten. Allein. Kein Funkgerät, keine Wanze, und niemand darf ihm folgen. Vergessen Sie nicht, ich habe nichts zu verlieren.« »Das Mädchen? Es handelt sich also um eine Entführung?« sagte Diamond, und ohne Julie anzusehen, fragte er gleich darauf ausdruckslos: »Weiß man, wer sie ist?«

»Meine Tochter Samantha«, sagte Tott mit vor Aufregung brechender Stimme.

»Oh.«

Nach einer respektvollen Pause fügte Wigfull hinzu: »Deshalb sind wir ja so besorgt.«

»Bei jedem anderen wären Sie doch auch besorgt«, sagte Diamond barsch. »Oder etwa nicht, John?«

Falls Wigfull die Situation peinlich war, so überspielte Tott sie, indem er sagte: »Sie ist Musikerin. Sie wurde in der Menuhin School ausgebildet.«

»Eine ausgesprochen attraktive junge Frau«, sagte Wigfull.

»Ist das von Bedeutung?« sagte Diamond mit einem Seitenblick auf Julie, die wohl mit ihm einer Meinung war, daß der Sexismus soeben sein finsteres Haupt erhoben hatte.

»Ja, es ist von Bedeutung«, sagte Tott. »Alle Welt sagt, wie schön sie ist, und wenn ich mich jetzt wie ein vernarrter Vater anhöre, dann kann ich es auch nicht ändern. Vor etwa fünf Wochen hat der ›Daily Express‹ in seiner Wochenendbeilage einen Artikel über talentierte Musiker gebracht, die aufgrund der wirtschaftlichen Rezession gezwungen sind, als Straßenmusiker zu arbeiten. Es wurde ein Foto von Sam veröffentlicht, auf dem sie auf dem Platz bei der Abteikirche vor dem Pump Room Geige spielt. Ich bin sicher, daß der Fotoredakteur sich wegen ihres Aussehens für das Bild entschieden hat. Unglücklicherweise wird im Text erwähnt, daß sie die Tochter des Assistant Chief Constable ist. Wir gehen davon aus, daß Mountjoy die Zeitung im Gefängnis gelesen hat.«

»Wie lange wird sie schon vermißt?«

Wigfull antwortete: »Seit Samstag abend.«

»Offiziell vermißt, meine ich.«

Tott hustete und sagte: »Sam tut, was ihr paßt. Wir haben uns erst ernstlich Gedanken gemacht, als das hier kam.«

»Ihr Name wird nicht erwähnt.«

Wigfull sagte: »Es sind in den letzten Tagen keine jungen Frauen als vermißt gemeldet worden. Und die Nachricht ist so zu verstehen, daß wir wissen, wer gemeint ist.«

»Wie alt ist Ihre Tochter, Mr. Tott?«

»Zweiundzwanzig.«

»Was glauben Sie, wie wird sie mit so einer Krisensituation fertig?«

»Sie ist robust.« Totts Mund zuckte. »Aber es gibt Grenzen.«

Diamond drückte die Hände gegen die Tischkante und lehnte sich zurück. Die Rolle des Vernehmenden reizte ihn. Er nahm den Zettel erneut in Augenschein, als müßte er sich noch einmal vergewissern, was da geschrieben stand. »Wieso ich?«

»Sie haben ihn ins Gefängnis gebracht«, sagte Wigfull. »Er war die ganze Zeit in Albany. Er kann eigentlich nicht wissen, daß Sie vor zwei Jahren aufgehört haben.«

»Ja, aber was will er von mir?«

Tott sagte: »Hat er nicht damals seine Unschuld beteuert?«

»Wer tut das nicht?« sagte Diamond. »Er war schuldig. Der Mann war kein unbeschriebenes Blatt, was Gewalt gegen Frauen anging.« Er wandte sich an Tott. »Tut mir leid, aber wir wissen doch alle, daß das eine Tatsache ist.«

Tott nickte und schloß die Augen.

Wigfull sagte: »Dadurch, daß er hierhergekommen ist, statt sich zu verstecken, geht er ein großes Risiko ein. Wir glauben, er will mit Ihnen verhandeln.«

»Worüber verhandeln? Ich kann ihm nicht helfen. Ich könnte ihm auch dann nicht helfen, wenn ich noch bei der Polizei wäre. Ich bin nicht der Innenminister. Die Sache wurde gerichtlich entschieden, zum Donnerwetter noch mal.«

Wigfull sagte: »Peter, bei allem Respekt, aber ich glaube, Sie begreifen nicht, worum es eigentlich geht.«

Jetzt wurde er schon Peter genannt, rasch abgeschwächt durch »bei allem Respekt«. Es hatte sich einiges verändert in den letzten zwei Jahren.

»Dann erklären Sie’s mir«, sagte Diamond.

»Die neue Taktik bei Entführungen ist, zunächst einmal auf die Forderungen einzugehen. Entscheidend ist, mit dem Kidnapper Kontakt herzustellen und, falls möglich, eine Beziehung aufzubauen. Ziel ist es, die Situation einzuschätzen. Nur dann läßt sich ein fundierter Plan zur Befreiung des Opfers erarbeiten.«

Was für ein aufgeblasener Heini, dachte Diamond. »Das heißt also, nach den Regeln des Entführers zu spielen.«

»Genau. Herausfinden, was er will, und ihn davon abhalten, Gewalt anzuwenden. Seine Forderungen mögen unerfüllbar sein – das wissen wir noch nicht –, aber wir müssen den Anschein erwecken, daß wir zu Verhandlungen bereit sind.«

»Und ich bin dabei der Köder?«

Wigfull zuckte die Achseln. »Er hat Sie verlangt. Wie ich eben schon sagte, oberstes Prinzip ...«

»Geschenkt«, fiel Diamond ihm ins Wort. »Sie wollen, daß ich John Mountjoy bei Laune halte. Da ich ihn in den Knast gebracht habe, halte ich das für ziemlich aussichtslos.«

»Er hat ausdrücklich Sie verlangt.«

»Ach, wie rührend! Seien wir doch mal ehrlich, er will sich das Vergnügen gönnen, mich wegzupusten. Wie könnten Sie mich schützen? Gar nicht. Das sehe ich Ihnen an den Augen an.«

»Wir wissen nicht, ob er bewaffnet ist«, sagte Wigfull.

Wohl weil er einsah, daß sie so nicht weiterkamen, sagte Tott zu Diamond: »Mein lieber Freund, ich streite nicht ab, daß es riskant ist. Natürlich ist es riskant. Ich weiß nicht, ob Sie selbst Vater sind ...«

»Nein«, sagte Diamond.

»Oh.« Darauf war Tott nicht eingestellt. Sein Überredungsversuch kam abrupt zum Erliegen.

Dann sagte Julie Hargreaves leise: »Es erfordert einigen Mut, die junge Frau zu retten.«

Diamond war zwar alles andere als ein Held, aber er hatte eine altmodische Abneigung dagegen, als Feigling dazustehen, schon gar nicht vor einer Frau. Statt eine definitive Absage zu erteilen, sagte er: »Ist Mountjoy von irgend jemandem hier in der Gegend gesehen worden? Wenn sein Foto in den Zeitungen war, muß ihn doch jemand gesehen haben.«

»Nicht in Bath«, sagte Wigfull. »Praktisch in jeder anderen Stadt in der Region, aber Sie wissen ja, wie Bath ist.«

Diamond brummte beipflichtend. Ob die Architektur der Stadt die Leute ablenkte, wußte er nicht, aber die Öffentlichkeit schien die Fähigkeit zu verlieren, Gesichter wiederzuerkennen. Manchmal kauften Mitglieder der königlichen Familie auf der Milsom Street ein, und kaum einer schenkte ihnen Beachtung.

»Sie können von der Bevölkerung nicht die geringste Hilfe erwarten, solange Sie die Nachrichtensperre aufrechterhalten. Haben Sie daran gedacht, sie aufzuheben?«

Tott umklammerte die Armlehnen seines Stuhls. »Ich halte das nicht für klug.«

»Wir möchten die Entführung aus vielerlei Gründen geheimhalten«, sagte Wigfull.

»Zum Beispiel um dem Ansehen der Kripo von Avon und Somerset nicht zu schaden?«

Wigfull war ein viel zu gewandter Diplomat, um zu kontern. Er bedachte Diamond mit einem eher gekränkten als wütenden Blick. »Der Hauptgrund ist, Mountjoy keine Gelegenheit zu geben, die Medien zu manipulieren. Er ist kein Narr.«

Tott fügte hinzu: »Und wir möchten nicht, daß die Presse oder die Öffentlichkeit die Operation behindert.«

»Dann handelt es sich also um eine Operation, ja?« sagte Diamond.

»Oder meinetwegen die Ermittlung. Nennen Sie es, wie Sie wollen.«

»Die Terminologie ist mir egal, Mr. Tott. Ich möchte lediglich klarstellen, daß ich, wenn Sie wollen, daß ich mitmache, einen Anspruch darauf habe, den Gesamtplan zu kennen.«

»Absolut«, sagte Tott zustimmend, richtete sich in seinem Sessel auf und griff nach dem, wie er meinte, rettenden Strohhalm.

»Was ist bisher geschehen?«

Mit einem Wink der rechten Hand forderte Tott John Wigfull auf zu antworten. »Wir gehen nach der bei Entführungen üblichen Verfahrensweise vor. Intensive Durchsuchungen möglicher Verstecke innerhalb eines Fünf-Meilen-Radius um das Stadtzentrum.«

»Das sind nicht wenige.«

»Wir haben sehr viele Leute im Einsatz. Im Moment überprüfen wir alle gemeldeten Einbrüche und Autodiebstähle.«

»Sie glauben, er ist in der Stadt?«

»Er muß in der Stadt gewesen sein, um Samantha zu verschleppen. Sie hat auf der Stall Street musiziert.«

»Was meinen Sie mit ›verschleppen‹? Man verschleppt nicht einfach so an einem Samstag nachmittag eine Frau von der Stall Street. Da wimmelt es von Einkäufern und Touristen. Hat sie allein Musik gemacht?«

»Ja.«

»Wurde sie gesehen?«

Wigfull nickte. »Eine Freundin von ihr hat sie gegen Viertel nach vier spielen sehen. Sie heißt Una Moon, dieselbe junge Frau, die uns am Montag erzählt hat, daß Miss Tott vermißt wird. Sie wohnt mit einigen anderen jungen Leuten in einem Haus in Widcombe.«

»Ein besetztes Haus, meinen Sie?«

Tott rutschte unruhig hin und her. »Ja, das Haus wird von arbeitslosen jungen Leuten besetzt. Samantha ist vor etwa einem Jahr von zu Hause ausgezogen, gegen unseren Willen, wie ich leider gestehen muß.«

Wenn Samantha sich gegen Mr. Tott aufgelehnt hatte, dann war sie in guter Gesellschaft, und es sprach einiges für sie. »Ihre Suchtrupps haben doch vermutlich ein Foto.«

Julie Hargreaves holte ein Schwarzweißfoto im 13 mal 18-Format hervor und reichte es über den Tisch. Das Original mußte aus dem Familienalbum der Totts stammen, denn es zeigte ein junges Mädchen in einem Taftabendkleid mit altmodischen Puffärmeln, wie sie gern von jungen Musikerinnen auf der Konzertbühne getragen werden. Neben ihrem linken Bein baumelte eine Geige und neben dem rechten ein Bogen. Sie hatte ein bemerkenswertes Gesicht mit großen, dunklen Augen und einem schön geformten Mund, der an den Seiten nach oben geschwungen war und so die etwas steife Pose in Frage stellte. Ihr Haar war aufsehenerregend – ein regelrechter Berg von Naturlocken, eine herrliche Version des Afro-Looks. Um so aufsehenerregender, wenn man es mit dem Haar ihres Vaters verglich, das hinten und an den Seiten kurz geschnitten war und flach am Kopf anlag.

»Vermutlich war sie am Samstag nicht so angezogen, oder?«

Julie Hargreaves antwortete: »Ein schwarzes Stricktop und Bluejeans mit einer schwarzen Strumpfhose darunter. Außerdem lange schwarze Socken. Es ist kalt auf der Straße. Dazu ausgetretene Reebok-Sportschuhe. Sie hatte natürlich ihre Geige dabei und den Kasten.«

»Und die Geige ist nicht gefunden worden?«

»Nein.«

Diamond griff nach einem Sandwich. Dabei stieß er, ob aus Versehen oder mit Absicht, zwei weitere an, die auf den Tisch fielen, und legte sie auf seinen Teller. Während die anderen ihm dabei zusahen, fragte er beiläufig: »Wie sieht der Plan aus, John?«

Der Schreck über diesen Blitz aus heiterem Himmel löste bei Wigfull einen Verzögerungsmechanismus aus. Er strich sich langsam mit einer Hand über das Gesicht, scharrte mit den Schuhen und räusperte sich laut. »Das hängt davon ab, ob Sie mitarbeiten«, sagte er schließlich.

»Nein, tut es nicht«, sagte Diamond. »Hören Sie, wir feilschen hier nicht wie auf einem ägyptischen Basar. Sie haben einen Plan, und ich habe einen Anspruch darauf, ihn zu erfahren.«

»Stimmt.«

»Also?«

»Äh ...«

»Ja?«

»Wir, äh, wir empfehlen, Sie gehen auf alles ein, was Mountjoy vorschlägt. Wir stellen Ihnen einen Wagen zur Verfügung, der mit einem Überwachungssystem ausgerüstet ist.«

»Das schlägt Mountjoy nicht vor. Er verbietet es. Ausdrücklich.«

Wigfull nickte. »Aber unsere Wanzen sind inzwischen so unglaublich klein, daß er sie unmöglich ausfindig machen kann, es sei denn, er zerlegt den Wagen in einer Werkstatt in alle Einzelteile. Wir können laufend Ihre Position feststellen und Sie unauffällig überwachen. Die Betonung liegt auf unauffällig, Peter. Wir werden auf keinen Fall zuschlagen, solange Sie bei ihm sind. Ziel ist es, ihn anschließend verfolgen zu können.«

»Dorthin, wo Samantha festgehalten wird?«

»Hoffentlich, ja.«

»Ich bin froh, daß Sie hoffentlich sagen«, bemerkte Diamond. »Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, daß Mountjoy darauf hereinfällt. Er ist nicht so naiv zu glauben, daß Sie keine Wanzen benutzen werden, nur weil er darum gebeten hat. Ich vermute, er wird mit einem gestohlenen Wagen am vereinbarten Treffpunkt auf mich warten und mich zu einem entlegenen Ort bringen, wo er mich dann umlegt, bevor ihr zugreifen könnt.«

Wigfull schüttelte den Kopf. »Er hat nicht vor, Sie zu töten.«

»Woher wollen Sie wissen, was in seinem Kopf vorgeht?«

»Damit würde er sich jede Chance auf eine Wiederaufnahme seines Verfahrens verderben. Er behauptet, er wurde reingelegt.«

Diamonds Blutdruck schnellte wieder in die Höhe. »Ich habe ihn nicht reingelegt. Wollen Sie damit etwa sagen, ich hätte nicht korrekt oder sogar niederträchtig gehandelt?«

Tott sagte: »Immer mit der Ruhe, Mr. Diamond.«

»Ich ziehe ›reingelegt‹ zurück«, sagte Wigfull. »Er behauptet, es läge ein Justizirrtum vor, er habe keinen Mord begangen. Das beteuert er schon seit seiner Verurteilung. Über seinen Anwalt hat er dreimal versucht, Berufung einzulegen. Der Direktor von Albany hat uns darüber informiert, daß er unentwegt seine Unschuld beteuert. Das ist kein Killer, der den Polizeibeamten umbringen will, der ihn ins Gefängnis gebracht hat.«

»Mountjoy ist ein Mörder«, sagte Diamond. »Das wissen wir doch alle, oder etwa nicht?«

»Abgesehen davon...«

»Sie machen wohl Witze!«

Wigfull fuhr unbeirrt fort: »Er glaubt, er hat ein Recht auf Berufung. Sämtliche Anträge wurden bisher abgelehnt. Wir glauben, er möchte Ihre Unterstützung. Ich weiß, er lebt in Wolkenkuckucksheim. Wir erinnern uns alle an den Fall Britt Strand, und da gab es nicht den geringsten Zweifel. Aber Mountjoy setzt seine ganze Hoffnung auf die Berufung. Das Treffen mit Ihnen paßt in dieses Schema.«

»Er ist ein Mörder.«

Julie Hargreaves sagte: »Genau deshalb ist Samanthas Leben in Gefahr.«

Diamond bedachte Julie mit einem eher überraschten als vorwurfsvollen Blick. Er hatte nicht erwartet, daß sie sich einmischen würde. Auch sie war dem Druck erlegen. Man sollte nie die schwesterliche Verbundenheit unterschätzen, die eine Frau für eine andere empfindet, die in Schwierigkeiten steckt.

Tott versuchte, die Diskussion in eine allgemeinere Richtung zu lenken. »Es gibt so viele Urteile, die in den letzten Jahren aufgehoben wurden. Und was die für eine Publicity kriegen! Das muß doch jedem im Gefängnis Auftrieb geben.«

»Mountjoy hat nicht den Hauch einer Chance.«

»Zugegeben, aber darum geht es nicht«, sagte Wigfull. »Er glaubt, er hat ein Recht auf Berufung. Jeder, der ein paar Jahre in Albany sitzt, ist überzeugt, daß er ein Wiederaufnahmeverfahren verdient. Alle finden sie irgendwas, auf das sie ihre Hoffnung setzen. Sehen Sie, warum ist er sonst nach Bath gekommen, wo es passiert ist? Er hätte sich doch verstecken oder das Land verlassen können. Er ist hergekommen.«

»Das sind doch alles vage Vermutungen«, sagte Diamond. »Sie wissen nicht, was er vorhat.«

»Ich interpretiere seine Handlungsweise. Was er vorhat, werden wir später wissen.«

»Ich kann es Ihnen jetzt schon sagen«, sagte Diamond. »Gewalt.«

»Zugegeben. Wenn ihm dieses Treffen mit Ihnen verwehrt bleibt, wird er Samantha das Leben zur Hölle machen.« Wigfull legte Tott eine Hand auf den Arm. »Tut mir leid, Sir. Das hätte ich nicht sagen sollen.«

Ohne Wigfull anzublicken, sagte Tott: »Wir haben lange genug geredet. Werden Sie uns helfen, meine Tochter zu retten, Mr. Diamond? Stellen Sie Ihre Bedingungen. Wir werden sie akzeptieren.«

Diamond nahm den Sandwichteller und bot ihn Julie Hargreaves an. Sie schüttelte den Kopf, also stellte er ihn wieder hin und nahm sich noch zwei. »Habt ihr hier im Revier noch immer ein Zimmer mit einem Bett drin? Ich würde mich gern für zwei Stunden aufs Ohr legen. Wecken Sie mich um acht, mit Tee und Frühstück? Wenn wir Mountjoys nächste Nachricht erhalten, teile ich Ihnen meinen Entschluß mit.«

Gerechtigkeit für einen Mörder

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