Читать книгу Control - Petra Ivanov - Страница 11
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die zusage
Was genau geschehen war, erfuhr ich erst am nächsten Tag. Vater verliess das Spital gegen Abend, um zu duschen und frische Kleider anzuziehen. Meine Tante überredete ihn, zum Essen zu bleiben. Er nahm aber fast nichts zu sich. Noch nie hatte ich ihn so erlebt.
Während der Mahlzeit schilderte er den Unfall. Mutter hatte sich nach der Arbeit ganz normal auf den Weg nach Hause gemacht. An einer Ampel hatte sie gewartet, bis es grün wurde. Plötzlich schoss ein Velofahrer um die Ecke. Ein Autofahrer, der Vortritt hatte, musste ausweichen. Er merkte nicht einmal, dass er auf einen Fussgängerstreifen zufuhr, er riss einfach das Lenkrad herum. Alles ging ganz schnell, Mutter hatte keine Chance.
Vater sagte, es sei ein Wunder, dass sie keine Kopfverletzungen davongetragen habe. Trotzdem war ihr Zustand schlimm. Sie hatte einen Beckenbruch erlitten; der Knochen musste mit Schrauben und Platten stabilisiert werden. Ausserdem war ihre Harnröhre verletzt. Als ich die Begriffe später in Wikipedia suchte, erfuhr ich, dass bei solchen Diagnosen manchmal dauerhafte Nervenschädigungen zurückblieben. Es würde lange dauern, bis Mutter wieder richtig würde gehen können, vielleicht hätte sie sogar bleibende Lähmungen.
«Ihr werdet Wochen, vielleicht Monate ohne sie auskommen müssen», sagte Vater ernst. «Und auch ohne mich. Ich werde viel im Spital sein.»
«Bleiben wir hier?», fragte ich mit einem Seitenblick zu meiner Tante.
«Natürlich, so lange ihr wollt», erwiderte mein Onkel.
Leo rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er würde das Zimmer mit zwei Cousins teilen müssen, das stresste ihn. Vater bemerkte es nicht, er war in Gedanken bei Mutter. Mir war es gleich, wo ich wohnte. Nach dem Unfall kam mir alles bedeutungslos vor.
Ich dachte, ich würde mich nie an Mutters Abwesenheit gewöhnen, aber schon nach wenigen Wochen war es normal, sie im Spital zu besuchen. Das Leben ging einfach weiter, ob wir damit einverstanden waren oder nicht. Ich fuhr jeden Tag nach der Schule zu ihr, um sechs löste mich Leo ab, dann kam Vater. Manchmal verbrachte er auch den Vormittag im Spital, je nachdem, welche Schicht er fuhr. Mutter hatte starke Schmerzen, doch sie klagte nie. Sie machte sich sogar Gedanken um Leo und mich. Sie war es, die Vater vorschlug, uns wieder zu Hause wohnen zu lassen. Sie merkte, wie unwohl Leo sich fühlte, und überzeugte Vater davon, dass wir alt genug seien, um allein zurechtzukommen.
Für mich änderte sich nicht viel. Zum Kochen kam jetzt noch die Wäsche hinzu, aber das störte mich nicht. Leo beteiligte sich dafür am Einkaufen. Am Wochenende putzte er sogar ab und zu. Die grösste Umstellung bestand darin, dass wir diesen Sommer nicht nach Kosova fahren würden. Meine Tante hatte angeboten, uns mitzunehmen, doch ich wollte nicht ohne meine Eltern reisen. Es wäre nicht das Gleiche.
Mich störte es nicht, dass ich keine Pläne hatte. Vater erzählte, Mutter werde voraussichtlich Mitte Juli in eine Reha-Klinik verlegt. Vielleicht konnte ich sie dort besuchen. Ich war so dankbar, dass ich eine zweite Chance erhalten hatte. Jedesmal, wenn ich sie sah, sagte ich ihr, wie viel sie mir bedeute. Meine eigenen Probleme waren wie weggeblasen. Ich dachte fast nie an Chris, und Cal vergass ich so gut wie ganz.
Deshalb fiel ich aus allen Wolken, als er mir plötzlich schrieb. «I chose you», stand auf meinem Monitor. Zuerst begriff ich nicht, was er damit meinte. Ich schlug jedes englische Wort nach, falls es sich um eine Redewendung handelte. Es dauerte geschlagene fünf Minuten, bis mir dämmerte, was er damit sagen wollte: Cal hatte mich als Praktikantin ausgewählt!
Er entschuldigte sich dafür, dass er mich so lange habe warten lassen. Es seien über zweihundert Bewerbungen eingegangen, deshalb sei das Auswahlverfahren so langwierig gewesen. «Your portfolio is the best!», schrieb er. Das allerbeste! Meine Designs seien originell und phantasievoll, ich hätte den gewissen Touch. «Your work is promising.» Zur Sicherheit schlug ich auch das nach: Meine Arbeiten seien vielversprechend!
Ich war ausser mir vor Freude. Heute kann ich nur den Kopf schütteln über meine Dummheit. Weil mir Cal genau das sagte, was ich hören wollte, glaubte ich ihm alles. Ich schwebte im siebten Himmel. Wie gerne hätte ich mein Glück mit jemandem geteilt, doch es war niemand da. Meine Familie kam nicht in Frage. Nicht nur, weil ich etwas Verbotenes tat. Auch, weil ich mir gemein vorgekommen wäre. Wie konnte ich so glücklich sein, während Mutter im Spital lag? Mein Hochgefühl verschwand schnell wieder, als mir klar wurde, dass ich absagen musste. Ich hatte nie damit gerechnet, in die engere Auswahl zu kommen. Schon gar nicht damit, die Stelle zu erhalten. Doch was blieb mir anderes übrig? Um den Moment hinauszuzögern, fragte ich Cal nach den Details. Ich wusste gar nicht, wann genau das Praktikum beginnen und wie lange es dauern würde.
Erneut war es Mutter, die merkte, dass etwas mit mir nicht stimmte. Sie glaubte, dass mir alles zu viel sei und dass ich mich einsam fühlte. Das erfuhr ich, als Vater eines Abends zu mir ins Zimmer kam. Ich lag schon im Bett, wie immer war er bis spät nachts im Spital geblieben. Er setzte sich auf den Bettrand, was mich total überraschte. Das machte sonst nur Mutter.
Als er sich räusperte, wurde ich nervös. «Gjyle», begann er. «Ich weiss, dass es für dich nicht einfach ist, den ganzen Haushalt zu erledigen und gleichzeitig zu lernen. Es lastet viel auf deinen Schultern. Ich danke dir für deine Hilfe. Ich weiss nicht, was ich die vergangenen Wochen ohne dich gemacht hätte. Wie läuft es in der Schule?»
Seit dem Unfall hatte ich ihm keine einzige Prüfung gezeigt. «Besser», antwortete ich. Das stimmte sogar. Ich lernte viel mehr, weil ich das Gefühl hatte, so etwas für Mutter tun zu können. Ich wollte nicht, dass sie sich auch noch wegen meiner Schulleistungen Sorgen machte.
Vater nickte. «Ich bin stolz auf dich. Du übernimmst viel Verantwortung. Vielleicht ein bisschen zu viel. Mutter meint, etwas Abstand täte dir gut.»
Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinaus wollte.
«Möchtest du immer noch einen Sprachkurs machen?», fragte er.
«W-was?», stammelte ich. «Einen Kurs?»
«Vor einigen Wochen hast du gesagt, ein Sprachkurs würde dir helfen, deine Noten zu verbessern», erklärte er. «Dass dir …»
«Ja!», entfuhr es mir. «Ja! Einen Englischkurs!»
«Meinst du, du findest noch einen freien Platz? Es ist sehr kurzfristig, in drei Wochen beginnen die Sommerferien, aber vielleicht …»
«Bestimmt! Ganz sicher!» Ich sprang fast aus dem Bett. «Ich kann gleich im Internet nachschauen!»
Zum ersten Mal seit Langem huschte ein Lächeln über Vaters Gesicht. «Ich glaube, morgen wird auch noch reichen. Ich kann dir nicht bei der Suche helfen, mir fehlt im Moment schlicht die Zeit. Kennst du Organisationen, die Englischkurse anbieten?»
Ich nickte heftig. «Jede Menge! Das ist kein Problem.» Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke. «Aber … das Geld? Ist das nicht sehr teuer?»
Ich hatte gehört, wie Vater über unsere Versicherung geflucht hatte. Obwohl meine Mutter keine Schuld am Unfall traf, wollte die Unfallversicherung nicht alle Kosten übernehmen. Das hatte mit der Haftpflicht des Autofahrers zu tun. Die Sache war ziemlich kompliziert.
«Mach dir keine Gedanken darüber», meinte Vater. «Das regle ich.»
«Aber was ist, wenn nicht genug Geld für Mutters Behandlung da ist?» Mir wurde zudem klar, dass ich Mutter nicht mehr besuchen könnte, wenn ich im Ausland wäre. Meine Freude erlosch. «Mutter braucht mich. Ich kann sie nicht allein lassen!»
Vater nahm meine Hand. «Deiner Mutter wird es an nichts fehlen, dafür sorge ich. Natürlich wird sie dich vermissen, aber die Rehabilitation wird sie sehr anstrengen. Sie wird täglich Übungen machen müssen und sehr müde sein. Ausserdem wird sie nach Basel verlegt. Du wirst sie nicht mehr so oft besuchen können. Denk darüber nach. Du musst dich nicht heute Abend entscheiden.»
Lange lag ich wach. Ich war hin- und hergerissen. Ein Teil von mir wollte Vaters Angebot unbedingt annehmen. Doch hatte ich das Recht, Spass zu haben, wenn Mutter so litt? Es kam mir furchtbar gemein vor. Aber wenn Mutter nach Basel musste, würde ich sie tatsächlich nicht mehr so häufig besuchen können. Vielleicht wäre Vater insgeheim sogar froh, wenn ich weg wäre. So müsste er kein schlechtes Gewissen haben, weil er nie zu Hause war.
Die ganze Nacht wälzte ich mich im Bett hin und her. Als mein Wecker klingelte, hatte ich mich noch nicht entschieden. Schliesslich war es Cal, der den Ausschlag gab. Bevor ich mich unter die Dusche stellte, kontrollierte ich meine Inbox. Cal hatte bereits wieder zurückgeschrieben: «Es wäre super, wenn du im Juli beginnen könntest. Meine Mitarbeiterin ist dann in den Ferien, du hättest also einen eigenen Arbeitsplatz.»
Im Juli! Das käme genau hin! Wenn das kein Wink des Schicksals war. Ich musste einfach zusagen. Wie ich es anstellen würde, gleichzeitig einen Sprachkurs zu besuchen und zu arbeiten, wusste ich noch nicht. Bestimmt würde ich eine Lösung finden. Hauptsache, ich käme irgendwie nach New York. Wäre ich erst mal dort, schien mir alles möglich.
Im Tram schrieb ich Nicole eine Nachricht: «darf kommen!!!»
Sie schickte mir einen riesigen Smiley.
Gleich darauf piepste es wieder. «kannst bei mir wohnen»
«love you»