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die englischprüfung

Die nächsten Tage erschien mir die Welt unwirklich, als ginge sie mich nichts an. Dauernd dachte ich an Chris. Bei jeder Kleinigkeit fing ich an zu heulen. Für die Englischprüfung lernte ich überhaupt nicht. Alles kam mir sinnlos vor.

Volle fünf Minuten starrte ich auf das Prüfungsblatt, ohne etwas zu schreiben. Ich konnte mich nicht daran erinnern, was der Unterschied zwischen den einzelnen Vergangenheitsformen ist und wann sie angewendet werden. Auf gut Glück füllte ich Verben ein; genauso gut hätte ich Strichmännchen zeichnen können.

Das Resultat war keine Überraschung: 2,25. Ein Wunder, dass ich keine Eins geschrieben hatte. Langsam machte ich mir Sorgen, ob mein Notendurchschnitt für eine definitive Versetzung genügte. In Mathe und Physik war ich zwar gut, aber das reichte nicht, um meine schlechten Sprachnoten zu kompensieren. Ausserdem war ich auch im Turnen und in Geschichte kein Ass.

Wie würde Vater reagieren, wenn ich nur provisorisch versetzt würde? In Kosova war er Lehrer gewesen. Er ist immer noch enttäuscht, dass Leo die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium nicht geschafft hat. Ich muss Vater jede Prüfung zeigen, er weiss also genau, was ich kann und was nicht. Und er merkt es sofort, wenn ich nicht gelernt habe, da nützen Ausreden nichts.

Ich wartete bis nach dem Essen, um ihm meine Englischprüfung zu zeigen. Vater hatte es sich mit seiner Zeitung im Sessel bequem gemacht, Mutter räumte in der Küche auf. Aus Leos Zimmer hörte ich Reifen quietschen, er spielte eines seiner langweiligen Games. Ich verstehe nicht, wie man stundenlang auf einem Bildschirm virtuelle Runden drehen kann.

«Mmh?», fragte Vater, ohne aufzusehen.

«Ich habe … da wäre …»Mein Gestammel weckte sein Interesse. Ich drückte ihm das Blatt in die Hand.

Er studierte es genau. Da er selber kaum Englisch sprach, konnte er diese Prüfung schlechter beurteilen als andere. «Es sieht aus, als hättest du einfach aufs Geratewohl etwas hingeschrieben», stellte er fest.

«Nicht ganz», wehrte ich mich. «Englisch ist schwierig.»

«Wie lange hast du für die Prüfung gelernt?»

«Ziemlich lange», antwortete ich. «Aber ich konnte mir nichts merken.»

«Warum nicht?»

«Englisch ist einfach nicht logisch», versuchte ich zu erklären.

Ich beschrieb, wie viele Zeitformen es gebe, und dass man für jede Situation eine andere wählen müsse. Mutter war aus der Küche gekommen und hörte mir ebenfalls zu. Vater wechselte einen Blick mit ihr. Als sie leicht nickte, beschlich mich ein ungutes Gefühl.

«Vielleicht würdest du die Grammatik verstehen, wenn du mehr lernen würdest», sagte Vater streng. «Bis zu den Sommerferien bleiben dir noch acht Wochen. Zeit genug, um deinen Notendurchschnitt aufzubessern. Du wirst dich ganz auf die Schule konzentrieren. Deine Nähmaschine …»

Ich hielt den Atem an.

«… wird so lange im Estrich aufbewahrt.»

«Nein! Das ist nicht fair!» Der Protest rutschte mir einfach so heraus.

Mutter riss die Augen auf. «Gjyle!»

«Das bringt doch nichts! Was hat Nähen mit Englisch zu tun?» Ich konnte mich nicht beherrschen. «Ihr seid gemein!»

«Das reicht!» Vater stand auf. «Wir ermöglichen dir eine gute Ausbildung. Deine Aufgabe ist es, der Schule oberste Priorität einzuräumen. Glaubst du, deine Mutter sitzt gerne den ganzen Tag an der Kasse im Supermarkt? Oder dass mir das Taxifahren Spass macht? Wir tun es für dich und für Leotrim! Damit aus euch etwas wird.»

Mein schlechtes Gewissen meldete sich, doch es reichte nicht, um mich zum Schweigen zu bringen. «Englisch kann man nicht lernen. Es bringt nichts, wenn ich Stunden vor meinem Grammatikbuch sitze. Im Gegenteil! Dann bin ich so verwirrt, dass ich noch schlechter werde.»

Vater holte Luft, doch Mutter unterbrach ihn. «Ich weiss, dass dir Fremdsprachen nicht liegen, Gjyle, doch glaub mir, sie sind lernbar. Möchtest du Nachhilfeunterricht?»

«Ich möchte einen Sprachkurs machen», schoss es aus mir heraus. Ich hatte den Streit nicht absichtlich herbeigeführt, um meine Eltern davon zu überzeugen, es gäbe für mein schlechtes Englisch keine andere Lösung als einen Sprachaufenthalt. Ich hatte reagiert, ohne zu überlegen. «Ich kann eine Sprache nur im Land lernen. Nicht aus einem Buch», erklärte ich.

«Du willst nach England?», fragte Mutter erstaunt.

«Nein, nach Amerika», korrigierte ich.

Vater schüttelte den Kopf. «Kommt nicht in Frage.»

«Warum nicht? Bald sind Sommerferien. Wenn ich einige Wochen lang einen Sprachkurs besuche, wäre mein Englisch nachher super!»

«Das wäre es auch, wenn du mehr lernen würdest.»

Vater setzte sich wieder und griff nach seiner Zeitung. Das Thema war abgeschlossen. Ich wusste, dass es keinen Zweck hatte, weiter zu betteln. Mir lag eine trotzige Bemerkung auf der Zunge, doch ich schluckte sie runter. Geknickt zog ich mich in mein Zimmer zurück. Mein Blick fiel auf meine Nähmaschine, und ich stellte mir vor, ganze acht Wochen ohne sie leben zu müssen.

Ich weiss nicht, wie lange ich so da sass. Irgendwann strich mir Mutter über den Kopf. Ihre Berührung war sanft, ich musste daran denken, wie ich jeweils als Kind auf ihrem Schoss gesessen und sie gedankenverloren mit meinem Haar gespielt hatte, während sie mit meinen Tanten redete.

«Was liegt dir wirklich auf dem Herzen, Schatz?», fragte sie.

Ich schaffte es nicht, ihr von Chris zu erzählen. Stattdessen erklärte ich, dass ich eine Krise in der Schule durchmachte.

«Das ist normal», beruhigte sie mich. «Ich hatte manchmal auch Mühe. Genau wie dir fallen mir Sprachen schwer. Aber sobald du die Matura hast, kannst du eine Studienrichtung wählen, die dir mehr entspricht. Die Jahre, die ich in Belgrad verbracht habe, gehören zu den schönsten meines Lebens. An der Universität habe ich gelernt, was es bedeutet, mit Hingabe zu lernen. Für dich wird es noch schöner sein, denn du wirst dein Wissen nach dem Studium sogar anwenden können.»

«Hast du von Anfang an gewusst, dass du nie als Chemikerin würdest arbeiten können?», fragte ich.

«Nein», antwortete sie. «Nach dem Studium musste ich mich entscheiden, ob ich in Belgrad bleiben oder nach Kosova zurückkehren wollte. Ich habe mich für deinen Vater und die Heimat entschieden. Insgeheim hatte ich aber gehofft, dass sich eine Lösung finden würde. Doch es gab kaum Stellen für Naturwissenschaftler.»

«Weil sie von den Serben besetzt wurden?»

«Nein, weil es keine Industrie gab», erklärte Mutter. «Später kam hinzu, dass viele Albaner entlassen und durch Serben ersetzt wurden. Aber damals war es auch Albanern möglich, verantwortungsvolle Funktionen zu übernehmen.» Sie drückte mich an sich. «Du wirst einmal beides haben können, eine Familie und eine gute Arbeit. Deshalb ist es wichtig, dass du jetzt für die Schule lernst.»

«Ich will aber nicht an der Uni studieren! Ich möchte eine Modeschule besuchen.»

Mutter gab mir einen Kuss, ohne darauf zu antworten.

«Du glaubst mir nicht!» Plötzlich packte mich eine verzweifelte Wut. «Ihr nehmt mich nicht ernst! Ihr habt keine Ahnung, wer ich wirklich bin!»

Mutter seufzte leise. «Gjyle, bitte …»

«Ich will keine Familie», fuhr ich fort, «sondern Karriere machen. Als Modedesignerin ziehe ich vielleicht nach Paris oder New York.»

«Willst du deshalb einen Sprachaufenthalt in New York machen? Oder ist es wegen Nicole?» Mutter sah mich verständnisvoll an. «Ich weiss, wie sehr sie dir fehlt.»

«Gar nichts weisst du!», schnauzte ich sie an. «Du hast überhaupt keine Ahnung!»

Ich hatte noch nie so mit meiner Mutter gesprochen. Was ich sagte, stimmte gar nicht, denn sie verstand mich erstaunlich gut. Doch obwohl sie oft Heimweh hatte und ihre Familie vermisste, akzeptierte sie, dass ihr Leben hier war, genauso wie sie sich damit abfand, bis zur Pensionierung als Kassiererin zu arbeiten. Mich nervte, dass sie sich einfach fügte. Vielleicht hatte ich auch nur Angst, so zu werden wie sie. Ich kämpfte nie für das, was mir wichtig war. Ich gehorchte einfach.

Hätte ich gewusst, was am nächsten Tag passieren würde, hätte ich mich ganz anders benommen.

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