Читать книгу Control - Petra Ivanov - Страница 8
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lügen
Mein Herz blieb einfach mitten im Schlag stehen, als hätte jemand den Stecker gezogen. Ich wollte nicht wahrhaben, was ich sah: Chris hielt die Hand eines Mädchens. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Zum Glück war ich wie gelähmt, sonst hätte ich auf der Stelle losgeheult. Das Mädchen war nicht einmal schön. Ich glaube, ich hätte es leichter ertragen, wenn sie gut ausgesehen hätte. Doch ihre Nase war platt, ihr Hintern kugelrund, und die Haare standen ihr wie Draht vom Kopf ab. Immerhin war sie originell gekleidet: Sie hatte eine Kette aus eckigen Holzperlen um den Hals und ein buntes Tuch im Haar. Über einem hautengen T-Shirt trug sie eine kurze, bauchfreie Strickjacke mit riesigen Knöpfen. Ihre Haut hatte die Farbe von Milchkaffee.
«Julie, das ist Debbie», sagte Chris, den Blick auf das Mädchen gerichtet.
Automatisch verzog sich mein Gesicht zu einem Lächeln. «Hallo», hörte ich meine Stimme von weit weg. «Hallo, Julie», begrüsste mich Debbie.
Die Art, wie sie es sagte, nahm mir die letzte Hoffnung. Sie klang weder eifersüchtig noch unsicher. Ihr Blick war offen und neugierig. Sie wusste, dass sie von mir nichts zu befürchten hatte.
Ich wandte mich ab und tat, als widmete ich Lily meine volle Aufmerksamkeit. Sie hatte aufgehört zu tanzen und stand ganz still da. Ich hörte, wie sich Chris hinter mir bewegte, dann vernahm ich das Klimpern eines Schlüssels.
«Wir sind um neun zurück», sagte Chris. «Falls Lily Hunger hat, kannst du ihr vom Brei in der Küche geben. Bananen mag sie auch.»
Ich nickte. Tausend Dinge schossen mir durch den Kopf. Ich fragte mich, wohin Chris und Debbie gingen. Wo er sie kennengelernt hatte. Ob Leo von ihr wusste. Warum ich so blöd gewesen war, Chris meine Hütedienste anzubieten. «Jederzeit!», hatte ich ihm zugeflötet, als ich Lily vor einigen Monaten kennengelernt hatte. Wie dumm kann man sein? Kein Wunder, sah er in mir nur eine Kollegin – oder einen Babysitter. Tolle Typen standen immer auf Mädchen, die schwer zu kriegen waren wie Nicole. Obwohl sie manchmal ziemlich zickig ist, laufen ihr alle nach. Leider ist das gar nicht meine Art. Von klein auf wurde mir eingetrichtert, höflich zu sein. Ich kann nicht aus meiner Haut.
Ein Weinen riss mich aus meinen Gedanken. Lily stand vor der Tür, durch die Chris verschwunden war, und versuchte, nach der Klinke zu greifen. Ich hob sie hoch und drückte sie an mich. Als ich ihre Tränen an meiner Wange spürte, liefen meine Augen über. Gemeinsam heulten wir. Irgendwann wurde Lily still, und ich fühlte mich seltsam ruhig.
Ich ging mit ihr in die Küche, um eine Banane zu vermantschen. Während Lily konzentriert mit dem Löffel im Brei herumstocherte, starrte ich vor mich hin. Nic war weg, und Chris konnte ich mir auch abschminken. Die nächsten Jahre würde ich Tag für Tag in die Schule gehen, auf Prüfungen lernen, Hausarbeiten erledigen. Vermutlich würde mir Vater nach der Matura einen netten albanischen Jungen vorstellen, den ich brav heiraten sollte. Meine Lebensaufgabe bestünde darin, ihn zu bekochen, die Wohnung zu putzen und Kinder aufzuziehen.
Wozu das Ganze? Wer interessierte sich für meine Träume und Hoffnungen?
An jenem Abend überlegte ich es mir zum ersten Mal ernsthaft, nach New York zu reisen. Bis dahin war meine Bewerbung nur ein Abenteuer gewesen. Ich wollte einfach mit einem Designer in Kontakt treten. Plötzlich fragte ich mich, warum ich immer alles akzeptierte. Leo hatte sich auch erfolgreich gewehrt, als ihm Vaters Pläne nicht passten. Es hatte furchtbaren Ärger gegeben, doch meine Eltern hatten eingesehen, dass sie Leo nicht vorschreiben konnten, wen er zu lieben hatte.
Natürlich glaubte ich nicht wirklich daran, die Praktikumsstelle zu bekommen. Trotzdem überlegte ich mir, ob es einen Weg gäbe, Vater die Erlaubnis abzuringen, wenn das Wunder geschähe. Der Gedanke, er könnte mich allein in die USA reisen lassen, war absurd. Ich durfte mich nicht einmal ohne Begleitung durch Zürich bewegen!
Lily hatte die Banane aufgegessen und versuchte, von meinem Schoss hinunterzuklettern. Ich wusch ihr das Gesicht und folgte ihr ins Wohnzimmer, wo sie sich mit neuer Energie auf die PET-Flasche stürzte. Sie liess sie über den Boden rollen und lachte, als ich sie zurückrollte. Ich beneidete sie um ihr Glück. Wäre mein Leben doch auch so einfach!
Pünktlich um neun hörte ich einen Schlüssel im Türschloss. Es war nicht Chris, der zurückkehrte, sondern sein Vater.
Als mich Herr Cavalli sah, blieb er überrascht stehen. «Wo ist Chris?»
«Er ist mit … Debbie unterwegs», antwortete ich. Den Namen auszusprechen, fiel mir schwer.
Herr Cavalli sah mich irritiert an.
Ich konnte nicht anders, als Chris in Schutz zu nehmen. «Er musste nur kurz weg», erklärte ich. «Er kommt gleich wieder.»
Lily verlor ihr Interesse an der Flasche und stürzte sich auf ihren Vater. Ich machte mich bereit zum Gehen. Ein Teil von mir hätte Chris gerne noch einmal gesehen, gleichzeitig war ich froh, ihm nichts vorspielen zu müssen. Ich erinnerte mich an die DVD, die ich Leo bringen sollte und warf einen Blick auf Chris’ Zimmertür. Bei der Vorstellung, dort Spuren von Debbie zu sehen, wurde mir übel. Ich würde Leo sagen, ich hätte den Film vergessen.
Herr Cavalli bedankte sich bei mir fürs Hüten. Ich gab Lily einen Kuss und ging. Draussen zog ich mein Handy hervor, um Leo anzurufen. Ich zögerte. Bis Leo hier wäre, verginge mindestens eine halbe Stunde. Warum sollte ich nicht allein nach Hause fahren? Es war noch hell. Auf dem Weg zur Bushaltestelle würde ich kaum überfallen werden.
Ich steckte das Handy zurück in meine Tasche. Ein ungewohntes Gefühl von Freiheit stieg in mir auf. Ich bemerkte Dinge, die mir nie auffielen, wenn ich mit Leo unterwegs war: Wie meine Schuhsohlen auf dem Asphalt quietschten; wie die Kieselsteine davonspickten, wenn ich sie traf. Ich roch grilliertes Fleisch aus einem Garten, frisch gemähtes Gras und Rauch. Ich konnte meinen eigenen Atem hören, sogar meine Bewegungen nahm ich wahr. Ich holte weit aus und liess die Arme schwingen. Der Raum gehörte mir ganz allein.
Ich spürte aber auch das Loch, das meine geplatzten Hoffnungen hinterlassen hatten. Wäre Leo hier gewesen, hätte seine Energie die Leere gefüllt. Nun pochte das Loch wie eine Wunde, und kein Pflaster war gross genug, um es zuzudecken. Seltsam, wie beides nebeneinander Platz hatte: die Trauer um Chris und die Freude über meine unerwartete Freiheit.
Die Fahrt mit dem Bus verlief ereignislos. Halb erwartete ich, dass etwas geschähe, als Strafe für meinen Ungehorsam. Doch der Bus krachte weder gegen einen Baum, noch wurde ich angemacht oder ausgeraubt. Niemand beachtete mich.
Vor der Wohnungstür wurde ich nervös. Was, wenn meine Eltern fragten, wer mich nach Hause gebracht habe? Ich hatte sie noch nie angelogen. Brächte ich die Worte über die Lippen? Merkten sie mir die Lüge nicht gleich an? So leise wie möglich stiess ich die Tür auf.
Vater sah von seiner Zeitung auf. «Wo ist Chris?», fragte Vater. «Wollte er nicht mit reinkommen?»
«Er hat zu tun.» Eigentlich log ich nicht, schliesslich war Chris tatsächlich beschäftigt.
«Hast du die DVD?», rief Leo aus seinem Zimmer.
Vater vertiefte sich wieder in seine Zeitung. War das alles gewesen? Wollte er nicht wissen, ob Chris mich bis vor die Haustür begleitet hatte? Ich war so verblüfft, dass ich einfach mitten im Raum stehenblieb. Zum Glück kam Leo ins Wohnzimmer, sonst wäre Vater bestimmt aufgefallen, wie seltsam ich mich benahm.
«Wo ist sie?», fragte mein Bruder.
«Sorry, ich habe den Film vergessen.» Diese Lüge fiel mir schwerer. Immerhin hatte Leo sein Training geopfert, um mich zu Chris zu begleiten.
Er seufzte entnervt.
«Leotrim!», mahnte Vater.
Leo wandte sich ab und stapfte zurück in sein Zimmer.
Ich folgte ihm. «Es tut mir echt leid», entschuldigte ich mich. «Herr Cavalli stand plötzlich vor mir, da habe ich einfach nicht mehr daran gedacht.»
Das leuchtete ihm ein. Herr Cavalli arbeitet bei der Kripo. Er sieht knallhart aus und hat einen unheimlichen Blick. Fast, als durchschaue er alles.
Leo liess sich aufs Bett fallen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Seine ganze Haltung signalisierte Niedergeschlagenheit. Ich wusste, dass seine Laune nichts mit dem Film zu tun hatte. Er vermisste Nicole. Mir kam Debbie wieder in den Sinn.
«Sag mal, kennst du Debbie eigentlich?», fragte ich so unauffällig wie möglich.
«Die Freundin von Chris?»
Ich zuckte zusammen.
«Nicht gut», fuhr Leo gleichgültig fort. «Ich find sie nicht so eine heisse Nummer, aber Chris steht halt auf grosse Ti…» Plötzlich merkte er, mit wem er sprach. «Ähm, ich meine … Chris mag ihre … sie ist ganz in Ordnung.»
«Woher kennt er sie?»
«Sie arbeitet im gleichen Hotel», erklärte er. «Nicht als Koch, als Zimmermädchen oder so.»
«Sind sie schon lange zusammen?»
«Einige Wochen.» Leo drehte sich auf die Seite. Sein Blick fiel auf ein Foto von Nic, das er neben dem Bett an die Wand gepinnt hatte.
«Willst du es nicht mit der Einbürgerung probieren?», wechselte ich das Thema.
«Auf der Beratungsstelle haben sie mir gesagt, dass ich nach der Lehre bessere Chancen hätte. Mit einer festen Arbeitsstelle.»
«Aber das dauert noch ewig!»
«Ich will es mir nicht versauen.»
Leo hatte Angst, sein Einbürgerungsgesuch würde abgelehnt. Er fürchtete immer noch, dass ihm die Spritzfahrt, die er vor einigen Jahren mit Vaters Taxi unternommen hatte, zum Verhängnis werden könnte. Erst recht, seit die Schweiz beschlossen hatte, kriminelle Ausländer auszuschaffen. Ich finde, es macht einen Unterschied, ob man ohne Führerausweis eine Runde dreht oder ob man einen Menschen verletzt, aber ich verstehe Leos Angst. Die Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz hat zugenommen. Persönlich merke ich nicht viel davon. Im Gegenteil, wenn mich Leute nach meiner Herkunft fragen, sind sie meistens überrascht, wenn ich «Kosova» sage. Sie stellen dann fest, man sehe «es» mir gar nicht an. Oder ich sei ganz anders als «die». Ich versuche jeweils zu erklären, dass die meisten Kosovaren nicht auffallen. Es sind immer die gleichen wenigen, die sich daneben benehmen. Mich nerven die auch, schliesslich leiden wir alle unter ihnen.
Leo glaubt, ich nenne mich deshalb Julie statt Gjyle, wie ich auf Albanisch heisse. Aber das stimmt nicht. Ich mag es einfach nicht, meinen Namen jedesmal zu wiederholen, wenn mich jemand danach fragt. Wenn ich ihn schreiben muss, ist es noch schlimmer. Die Buchstabenkombination kennt man auf Deutsch nicht. Deshalb habe ich mir einen Namen ausgesucht, der ähnlich klingt, aber in der Schweiz bekannt ist. Ausserdem passt Julie viel besser zu einer Modedesignerin. Ich spreche es französisch aus. Die tollste Mode kommt schliesslich aus Frankreich.
Ich holte Leo eine Cola, um ihn aufzumuntern, und setzte mich dann an meinen PC. Obwohl es unlogisch war, hoffte ich, Cal habe bereits zurückgeschrieben. Aber meine Inbox war leer. Enttäuscht loggte ich mich aus. Stattdessen versuchte ich, mehr über Debbie herausfinden.
Ich erfuhr, dass sie aus Madagaskar stammte. Als Hobbies gab sie Musik und Volleyball an. Von den Websites, mit denen sie verlinkt war, kannte ich nur wenige. Die meisten hatten irgendetwas mit Afrika zu tun. Als mein Blick auf ihren Beziehungsstatus fiel, zog sich mein Magen zusammen. «In festen Händen» hatte sie geschrieben.
Niedergeschlagen wollte ich mich ausloggen, als ein Chatfenster aufging.
«hey sweetie!», schrieb Nic, «nicht im bett?»
«bin down», antwortete ich.
«?»
«chris ist verliebt! in eine andere»
«shhhhhhit»
Ich stimmte ihr zu.
«kann nur noch aufwärts gehen schatz», schrieb sie.
«weiss nicht»
«sicher!»
«vermisse dich»
«sooooorry wegen sommer. hab einen hammerjob, tanzunterricht für kids»
«wow! trotzdem schade»
«komm mich doch besuchen»
«ha ha»
«du bist eine niete in englisch. täte dir gut»
Ich wollte schon «keine chance» antworten, als ich plötzlich nachdenklich wurde. Nic hatte Recht. Ich war wirklich eine Niete in Englisch. Nächste Woche hatte ich eine Prüfung und keine Ahnung vom Thema. Sprachen finde ich unlogisch. Es gibt mehr Ausnahmen als Regeln, und je nach Zusammenhang bedeuten die Wörter etwas ganz anderes. Einen Sprachkurs hatte ich bitter nötig. Nur zu dumm, dass mein Französisch genauso schlecht war. Wie konnte ich Vater erklären, ich müsse nach New York fliegen, um Englisch zu lernen, wenn ich in die Romandie fahren könnte, um mein Französisch aufzubessern? Ausserdem reisten wir jeden Sommer nach Kosova, um Verwandte zu besuchen.
«hallo», stupste Nic.
«love you», schrieb ich zurück.
Im Bett dachte ich über Nicoles Vorschlag nach. Nicht ernsthaft, es war mehr eine Art Tagtraum. Ich malte mir aus, wie Nic und ich die halbe Nacht zusammen quatschten und lachten, wie früher, als sie die Wochenenden bei mir verbracht hatte. Ich könnte sie tanzen sehen, und sie würde mir die Wolkenkratzer zeigen. Vielleicht würden wir sogar eine Modeshow besuchen. Und shoppen! Stundenlang die Läden durchstöbern! Mit diesem Bild vor Augen schlief ich endlich ein.