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antwort

Ich hatte das Inserat schon fast vergessen, als ich eine Nachricht von einem unbekannten Absender erhielt. Ich klickte sie an, ohne auch nur im geringsten an den Modedesigner zu denken.

«Hey, Julie, how are you?» Ich blinzelte ungläubig. «Cool, dass du ein eigenes Portfolio hast. Ich würde es mir gerne ansehen. Schickst du es mir? Cal.»

Cal? Ich starrte volle fünf Minuten auf den Bildschirm, bis ich mich endlich regen konnte. Mein Magen schlug Purzelbäume, und meine Gedanken flogen in alle Richtungen davon. Zum Glück wusste ich, dass Calvin Klein nicht mehr im Geschäft war, sonst hätte ich auf der Stelle einen Herzinfarkt bekommen. Mir wurde eiskalt: Vielleicht plante er ein Comeback?

Ich sprang vom Stuhl, als habe mich eine Wespe gestochen, und umarmte die Schneiderpuppe, die in meinem Zimmer stand. Eine Stecknadel piekste mich, doch ich spürte den Schmerz kaum. Als sich mein Herzschlag beruhigt hatte, setzte ich mich und klickte auf «Antworten». Ich schrieb den Satz sechs Mal, bis ich endlich zufrieden war. Ich versuchte, gelassen zu klingen, so, als verschickte ich mein Portfolio tagtäglich. Deshalb wollte ich auch nichts über Cal oder das Praktikum wissen. Ich erzählte, ich begänne bald mit dem Studium als Modedesignerin. Das war nicht einmal gelogen.

Es kommt nur darauf an, was man unter «bald» versteht.

Ich wollte Nic unbedingt die Neuigkeiten erzählen, doch sie war nicht online. Enttäuschung wallte in mir auf. Erst da realisierte ich, dass es in New York zwei Uhr nachmittags war. Ich vergass die Zeitverschiebung immer. Vielleicht war es sowieso keine gute Idee, Nic von Cal zu schreiben. Was, wenn sie Leo davon berichtete? Meine Familie durfte nichts vom Inserat erfahren. Wenn Vater wüsste, dass ich mit einem fremden Mann Kontakt hatte, nähme er mir den PC weg.

Ich verstand, warum er sich Sorgen machte. Aber da ich Cal nie träfe, sah ich nicht ein, was am Mailkontakt falsch war. Damals dachte ich nicht im Traum daran, dass mehr aus der Geschichte werden könnte. Meine selbst entworfenen Kleider finden zwar alle klasse, doch ich bin nicht naiv. Es gibt viele Leute, die in die Modebranche einsteigen möchten. Und sie alle haben eigene Portfolios. Warum sollte Cal ausgerechnet mich fürs Praktikum auswählen?

Und wenn schon, dachte ich. Angenommen, er fände meinen Stil genial. Es war mir klar, dass ich nie und nimmer nach New York fliegen dürfte. Nicht einmal, wenn Leo mich begleitete. Das war sowieso unmöglich, denn im Gegensatz zu mir hat mein Bruder keinen Schweizer Pass. Er braucht ein Visum, um in die USA einzureisen. Die nötigen Papiere bekommt man nur, wenn man viel Geld oder Verwandte dort hat. Leo fehlt es an beidem.

Ich wollte mich gerade ausloggen, als plötzlich eine Nachricht von Chris auf dem Bildschirm erschien. Chris ist der beste Freund meines Bruders. Mit seinen langen, schwarzen Haaren, den hohen Wangenknochen und den dunklen Augen sieht er aus wie ein Model. Wenn ich nur schon an ihn denke, könnte ich sterben!

Der heutige Tag war kaum zu fassen. Zuerst Cal, dann Chris. Vielleicht lag es an der Sternenkonstellation? Seit einigen Monaten studierte ich regelmässig mein Horoskop. Mir war eine aufregende Zeit vorausgesagt worden.

«zeit heute abend?», wollte Chris wissen.

Und ob ich Zeit hatte! Für Chris immer.

«klar», schrieb ich mit einem Smiley zurück.

«19 uhr bei mir»

Meine Zimmertür ging auf, und Leo kam herein. Er legte die Hand unter mein Kinn. «Es zieht», sagte er und klappte mir den Mund zu.

Ich sah ihn an. «Ich muss heute Abend zu Chris! Begleitest du mich?»

Er knackte mit den Knöcheln.

«Bitte, bitte, bitte!»

«Ich wollte noch ins Training.»

Ich fiel vor ihm auf die Knie. «Ich mach dir Manti! Oder Baklava! Was immer du willst!»

Leo kniff die Augen zusammen. «Lasagne.»

Ich warf mich ihm an den Hals. «Danke! Das werde ich dir nie vergessen. Du bist der beste Bruder …»

«Lass das!» Leo wand sich aus meiner Umarmung. «Warum musst du überhaupt zu Chris?»

«Bloss so», wich ich aus.

Obwohl mein Bruder ziemlich schlau ist, wusste er nicht, wie viel mir Chris bedeutete. Ich habe meine Gefühle immer sorgfältig verborgen. Ich hatte Angst, dass Leo aus Versehen etwas verraten oder, viel schlimmer, sich über mich lustig machen würde. Chris könnte jede haben. Was wollte er mit einem Mädchen wie mir? Ich bin drei Jahre jünger als er und keine Schönheit. Nicht dass ich hässlich wäre, aber meine Nase ist einige Nummern zu gross für mein Gesicht, und meine Beine sind zu kurz im Verhältnis zu meinem Körper. Dafür gefallen mir meine Haare. Sie haben die Farbe von Honig und reichen mir mittlerweile bis Mitte Rücken.

Leo verliess mit einem Schulterzucken mein Zimmer. Kaum war er weg, riss ich meine Schranktür auf. Was sollte ich anziehen? Leo hat mir einmal verraten, dass Chris auf enge Kleider und tiefe Ausschnitte stehe. Das ist nicht so mein Stil. Nicht nur, weil Vater ausflippen würde, wenn ich zu viel Haut zeigte, sondern weil mir selbst nicht wohl ist dabei. Ich finde, mein Körper ist etwas Persönliches.

Ich entschied mich für ein zitronengelbes Top mit Spaghettiträgern und eine lindgrüne Bluse darüber. Wenn mir danach war, könnte ich die Zipfel der Bluse immer noch so verknoten, dass das Top darunter zu sehen wäre. Dadurch wirkten meine Beine länger. Ausserdem passte das blasse Gelb gut zu meiner pinkfarbenen Haarsträhne.

Anschliessend bereitete ich eine Bolognesesauce zu. Mutter würde nur noch die Spaghetti ins Wasser werfen müssen, wenn sie nach der Arbeit nach Hause käme. Unter der Woche ist sie froh, wenn ich mich ums Abendessen kümmere. Für Leos Lasagne reichte die Zeit nicht, aber ich kochte die doppelte Menge Sauce, um die Hälfte für die Lasagne später einzufrieren. Vor lauter Aufregung konnte ich kaum das Küchenmesser halten. Als es endlich Zeit war zu gehen, hatte ich zwei kleine Schnitte am Finger.

Die Fahrt zu Chris dauerte über eine halbe Stunde. Leo wirkte abwesend. Wenn ihn etwas beschäftigt, ist er meistens still. Bei mir ist es gerade umgekehrt, ich kann dann gar nicht anders als reden. Wenn ich schweige, werde ich nur noch nervöser.

«Hast du etwas von Nic gehört?», fragte ich.

Leo schob das Kinn vor. Das war kein gutes Zeichen.

«Was ist?», bohrte ich.

Er fuhr mit dem Daumennagel über das Polster des Vordersitzes.

«Leo! Sag schon!»

«Sie kommt nicht», presste er hervor.

«Was, sie kommt nicht? Meinst du, im Sommer?»

«Sie hat einen Ferienjob gefunden.»

«Aber … sie hat es versprochen! Das ist nicht fair! Ich meine, das kann sie doch nicht machen. Was ist mit ihrer Mutter?»

«Frau Ritzi geht im Herbst nach New York.»

«Und Herr Ritzi? Er sitzt im Gefängnis! Er kann nicht einfach ins nächste Flugzeug steigen. Nic wird doch nicht … das kann nicht sein! Stell dir seine Enttäuschung vor. Ausserdem weiss Nic, dass du kein Visum kriegst. Sie will bestimmt …»

«Vielleicht will sie mich gar nicht sehen!», unterbrach mich Leo wütend.

Warum sollte Nic meinen Bruder nicht sehen wollen? Am Flughafen hatte sie so geheult, dass sich Leo kaum beherrschen konnte. Klar war inzwischen ziemlich viel Zeit vergangen, aber jedes Mail beendete Nic mit Grüssen an Leo.

«Das verstehe ich nicht», stammelte ich.

«Es gibt bestimmt jede Menge cooler Typen in New York!», schnauzte Leo.

Ich schüttelte den Kopf so heftig, dass mir schwindlig wurde. «Sie liebt dich! Nie würde sie etwas mit einem anderen anfangen!»

Leo drehte sich weg. Sein Gesicht spiegelte sich im Fenster. Als ich seinen Schmerz sah, nahm ich seine Hand. Ich war erstaunt, dass er sie nicht zurückzog. Früher hatte er mich oft an der Hand genommen, doch seit wir älter waren, berührten wir uns selten. Ich dachte daran, wie er mich als Kind gekitzelt hatte, wenn ich weinte. Wir sind nicht nur älter geworden, auch unsere Sorgen sind gewachsen. Irgendwann hilft kitzeln nicht mehr.

In meine Erinnerungen versunken, vergass ich Chris einen Moment. Als wir an seiner Haltestelle ankamen, holte mich die Gegenwart ein und mein Herz galoppierte davon. Leo fragte noch einmal, was Chris von mir wolle. Es gelang mir, ihn abzulenken. Der Abend war mild, ich hörte den Aufprall von Bällen auf den Tennisplätzen am Waldrand und roch Rauch von einer Grillstelle.

Vor einem gelben Wohnblock blieb ich stehen. «Chris wird mich nach Hause bringen. Danke für die Begleitung.»

«Ich komme mit.» Leo drückte auf die Klingel. «Ich wollte ihn sowieso fragen, ob er mir einen Film ausleiht.»

«Ich bring dir den Film», sagte ich schnell. «Du musst nicht extra hoch kommen. Echt, das ist kein Problem, wirklich nicht.»

Leo musterte mich kritisch.

«Wolltest du nicht einige Songs für Nic brennen?», fügte ich rasch hinzu. «Das Top, das ich ihr genäht habe, ist fertig. Ich bringe es morgen zur Post. Wenn du willst, kann ich die CD mitschicken.»

Es funktionierte. Leo kontrollierte die Uhrzeit auf seinem Handy und brummte etwas Unverständliches. Den Blick aufs Display gerichtet, machte er sich auf den Weg. Ich klingelte erst, nachdem er um die Ecke verschwunden war. Meine Beine fühlten sich wie weiche Spaghetti an. Irgendwie schaffte ich es trotzdem, die Treppe hochzusteigen.

Die Tür zu Chris’ Wohnung stand offen. Eigentlich ist es nicht seine Wohnung, sondern diejenige seines Vaters. Herr Cavalli wohnt jedoch die meiste Zeit bei seiner Freundin. Sie haben eine gemeinsame Tochter, ab und zu nimmt er sie mit zu sich. Ich blicke da nicht ganz durch, aber Lily finde ich süss. Sie hat genauso schwarze Haare wie Chris, ihre Augen sind aber blau. Auch ihre Haut ist heller. Chris’ Vater ist Indianer, er sieht aus wie eine Mischung aus einem Asiaten und einem Latino, einfach etwas europäischer.

Aus der Wohnung hörte ich ein Poltern, dann ein Quietschen, das verdächtig nach Lily klang. War Herr Cavalli hier? Ausgerechnet heute! Ich hatte mich so gefreut, allein mit Chris zu sein.

Vorsichtig streckte ich den Kopf zur Tür rein. «Hallo?»

«Hey», rief Chris von irgendwoher.

Als Erstes erblickte ich Lily. Sie watschelte barfuss im Wohnzimmer herum, eine leere PET-Flasche in der Hand. Dazu gab sie immer die gleichen, hohen Töne von sich, fast, als würde sie singen. Sobald sie mich sah, verstummte sie und sperrte die Augen auf. Ich kniete mich hin und streckte ihr die Hand entgegen. Nach kurzem Zögern reichte sie mir die Flasche. Ihre Haare standen wie Federn von ihrem Kopf ab und wippten im Takt ihrer Bewegungen.

«Du hast es geschafft», sagte Chris hinter mir.

Ich wirbelte herum. Als ich ihn sah, verschlug es mir die Sprache. Er trug neue Jeans und ein T-Shirt, auf dem eine Friedenspfeife abgebildet war. Seine langen Haare waren frisch gewaschen und glänzten im Abendlicht. Er hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, so dass ich seine schmalen Augen sehen konnte. Normalerweise fallen ihm die Haare ins Gesicht. Er kam mir seltsam nackt vor. Den dunklen Schatten an seinem Kinn hatte ich nie bemerkt. Seit wann rasierte er sich? Überhaupt erschien er mir anders. Er hielt sich aufrechter und roch nach Pinienwald. Als er lächelte, blitzten seine weissen Zähne auf.

In der Regel war er der Schweigsame, doch nun war ich es, die stumm am Boden kauerte. Chris hob Lily hoch und blies ihr ins Ohr. Lily quietschte vergnügt. Er stellte sie wieder auf den Boden, und sie begann, sich im Kreis zu drehen.

Ich wollte gerade etwas sagen, als es klingelte. Chris schoss zur Tür. So schnell bewegte er sich sonst nie. Er kam mir vor wie ausgewechselt. Ich hörte, wie er im Treppenhaus etwas sagte, kurz darauf kehrte er zurück.

Mit einem Mädchen.

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