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das inserat

Ich habe immer gemacht, was von mir erwartet wurde: Stand eine Ampel auf Rot, wartete ich am Strassenrand. Wurde in der Schule eine Prüfung angekündigt, lernte ich. Da meine Mutter bis sieben arbeitete, bereitete ich das Abendessen für die Familie zu; ausserdem ging ich nie ohne meinen Bruder Leo aus, weil Vater es verboten hatte. Vor allem habe ich meine Eltern nie angelogen.

Als ich das Inserat sah, war mir schlagartig klar, dass sich das ändern würde. Nur ahnte ich nicht, mit welchen Folgen.

Eigentlich hatte ich das Internet bloss aus Langeweile aufgestartet. Das Pfingstwochenende kam mir endlos vor. Letztes Jahr hatte ich Pfingsten mit meiner besten Freundin verbracht. Aber nun besuchte Nicole eine Tanzschule in New York. Obwohl ich mich für sie freue, fehlt sie mir schrecklich.

Für Leotrim ist es noch schlimmer. Nic und mein grosser Bruder sind seit über einem Jahr zusammen. Leo kommt mir vor wie der Held in einer romantischen Tragödie. Nach Nics Abreise lümmelte er lustlos auf dem Sofa herum und zappte von einem TV-Sender zum anderen. Er bekam kaum mit, was lief. Er hätte wohl noch ewig so weitergemacht, wäre Vater nicht der Kragen geplatzt. Meine Eltern deckten Leo mit Arbeit ein: Er musste das Wohnzimmer neu streichen, meinem Onkel beim Zügeln helfen und jede Menge Computerprobleme lösen. Obwohl er noch in der Lehre als Informatiker ist, ist mein Bruder der einzige der Familie, der etwas von PCs versteht. Hat ein Verwandter ein Problem mit seinem Computer, wendet er sich immer an Leo. Das bringt Leo manchmal ganz schön an seine Grenzen, denn wir haben 58 Cousinen und Cousins. Die meisten leben zwar in Kosova, aber das hindert sie nicht daran, Leo ihre Fragen zu mailen.

Auch am Nachmittag, an dem ich das Inserat entdeckte, sass Leo an seinem PC. Er suchte einen Virus, der immer wieder Mails versandte. Ich wollte shoppen gehen, doch ich fand keine Begleitung. In der Schule hatte ich nur wenige Kolleginnen, denn es gingen kaum Mädchen aufs mathematische Gymnasium. In unserer Klasse waren wir gerade mal fünf. Eine Mitschülerin lag mit einer Blinddarmentzündung im Spital, die anderen drei waren über Pfingsten verreist. Leo hatte versprochen, mit mir in die Stadt zu fahren, sobald er den Virus unschädlich gemacht hatte, aber das konnte noch ewig dauern.

So kam es, dass ich ebenfalls den PC aufstartete. Eigentlich wollte ich nach neuen Schnittmustern suchen. Zum Spass googelte ich aber die Begriffe «Mode» und «Design» und klickte wahllos einen Eintrag an.

«Möchten Sie in die Modebranche einsteigen? Absolvieren Sie ein Praktikum in New York! Erfahrener Designer sucht junge Persönlichkeit mit Individualität und dem Blick für das Besondere. Keine Erfahrung vorausgesetzt.»

Seit ich mich erinnern kann, möchte ich Modedesignerin werden. Mit zehn Jahren habe ich aus Stoffresten und Wäscheklammern ein Ballkleid gemacht. Daraufhin schenkten mir meine Eltern eine gebrauchte Nähmaschine. Ich liebte die alte Singer heiss. Noch immer steht sie in meinem Zimmer, obwohl ich heute mit einer modernen Bernina arbeite. Ab und zu nehme ich die Singer vom Regal, nur um das Glücksgefühl von damals wieder aufleben zu lassen. Es ist, als besuche mich eine alte Freundin.

Als ich das Inserat las, malte ich mir aus, wie es wäre, von einem richtigen Modedesigner zu lernen. Ich stellte mir vor, wie ich ihm beim Skizzieren über die Schulter schauen würde. Vielleicht dürfte ich sogar eigene Ideen einbringen.

Seufzend stützte ich das Kinn in meine Hände. Mein Vater würde einem Praktikum in der Modebranche nie zustimmen. Als ich ihn vor zwei Jahren gefragt hatte, ob ich eine Lehre als Schneiderin machen dürfe, hatte er mich entsetzt angeschaut. Für ihn war klar, dass ich aufs Gymnasium gehörte. Ich tröstete mich damit, dass ich nach der Matura immer noch eine Modeschule besuchen könnte. Doch bis es so weit war, dauerte es noch drei Jahre. Das kam mir an jenem Nachmittag unendlich lang vor. Selbstmitleid stieg in mir auf. Nicoles Traum war wahr geworden: Sie hatte ein Stipendium für eine super Tanzschule in New York erhalten. Dafür hatte sie hart gekämpft. Auch Leo hatte seinen Kopf durchgesetzt, als Vater ihn mit einem Mädchen aus Kosova verloben wollte.

Ich bin keine Rebellin, aber dieses eine Mal wollte ich auch das tun, wozu ich Lust hatte. Ich beschloss, mich auf das Inserat zu melden. Natürlich würde ich mich nicht um die Stelle bewerben. Doch schon die Vorstellung, mit einem echten Designer in Kontakt zu treten, erschien mir aufregend. Ausserdem sind Beziehungen wichtig. Vielleicht wäre ich irgendwann froh, jemanden aus der Modebranche zu kennen. Ich klickte auf den Link und wartete gespannt. Es erschien keine Homepage, sondern eine Mailadresse.

«Hi», schrieb ich auf Englisch. «Mein Name ist Julie Ramadani. Ich bin 16 Jahre alt und …» Ich löschte die 16 und setzte eine 17 ein. Schliesslich entschied ich mich für «fast 18». «Mode ist mein Leben!» Klang das zu dramatisch? Damit man sah, dass es mir mit meinem Berufswunsch ernst war, erwähnte ich mein Portfolio. Ich hatte begonnen, meine tollsten Kreationen zu fotografieren und die Bilder zusammenzustellen. Da mir Nicole nicht mehr als Model zur Verfügung stand, waren sie in letzter Zeit etwas gewöhnlich ausgefallen. Nic hatte eine super Figur. Egal, was sie trug, dank ihrer langen Beine und aufrechten Haltung sah es toll aus. Ich hoffte, dass meine Entwürfe trotzdem auffielen.

Ich rätselte, wer hinter dem Inserat stecken könnte. Bestimmt ein bekannter Designer, der seinen Namen absichtlich nicht genannt hatte, weil er fürchtete, von Bewerbungen überschwemmt zu werden.

Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Meine Zimmertür ging auf, und Leo streckte den Kopf rein. Rasch klickte ich auf «senden» und schloss das Fenster auf dem Bildschirm.

«Wenn du schon klopfst, könntest du auf ein ‹Herein› warten!», maulte ich.

«Willst du nun in die Stadt oder nicht?», fragte er.

«Bist du schon fertig?» Ich sprang auf und schnappte meine Handtasche. Es war erst vier Uhr. Wir hatten noch über eine Stunde, bevor die Läden schlossen. «Ich brauche Knöpfe für Mutters Regenmantel und hellbraunen Faden. Meinst du, Grossmutter würde sich über ein Foulard freuen? Ich weiss noch nicht, was ich ihr zum Geburtstag schenke. Oder doch lieber Strümpfe?»

Leo antwortete nicht. Er schlüpfte in seine Turnschuhe und fischte sein Handy aus der Tasche. Das macht er fast alle fünf Minuten, obwohl Nic ihm selten schreibt. Sie hat keine Zeit. Wenn sie nicht an der Schule ist, gibt sie Nachhilfe. Sie muss aufs Geld achten, trotz Stipendium. Von ihrer Mutter, die als Verkäuferin arbeitet, bekommt sie nur wenig. Ihr Vater sitzt im Gefängnis, weil er seine Kunden betrogen hat.

«Hast du etwas von Nic gehört?», fragte ich, weil es das Einzige war, was Leo interessierte.

Sofort begannen seine Augen zu leuchten. «Sie hat mir Fotos geschickt, von einer Bootsfahrt. Hast du sie auch bekommen?»

«Meinst du die Bilder auf der Staten Island Ferry?» Nic fuhr oft mit der Fähre hin und her. Es war gratis, und sie liebte das Wasser. Früher hatte sie ein eigenes Segelboot besessen.

«Schon möglich», meinte Leo. «Im Hintergrund ist die Freiheitsstatue zu sehen.»

«Ja, das ist die Fähre.»

«Nic sieht gut aus! Sie hat etwas mit ihren Haaren gemacht.»

Ich rollte die Augen. «Und das merkst du erst jetzt? Sie hat keinen Pony mehr. Sie lässt ihn schon seit einem Jahr wachsen.»

«Steht ihr.» Leo knackte mit den Fingerknöcheln und trat von einem Fuss auf den anderen.

Ich nahm meine Jacke von der Garderobe. Der Himmel lag wie ein grauer Deckel über der Stadt. Leo trug trotzdem nur ein T-Shirt. Er friert nie.

Wir nahmen den Bus an die Bahnhofstrasse, wo sich die grossen Warenhäuser befinden. Ich war nicht die Einzige, die Besorgungen machen wollte, bevor die Geschäfte fürs lange Wochenende schlossen. Es wimmelte von Menschen. Zielstrebig stürzte ich mich ins Getümmel. Ich mag Menschenmassen. Stundenlang könnte ich Kleider studieren, Frisuren und Schminke der Leute vergleichen.

Den Faden fand ich rasch, nicht jedoch die passenden Knöpfe. Als ich die Auswahl studierte, seufzte Leo demonstrativ. Ich konnte mich kaum konzentrieren.

«Mach schon», drängte er mich.

Kunststoff oder Horn? Die Knebelknöpfe würden Mutter gefallen, die Grösse passte jedoch nicht. Ich müsste die Laschen abändern. Ich versuchte auszurechnen, ob ich dafür zusätzliches Material brauchte, aber Leo lenkte mich ab. Schliesslich nahm ich gewöhnliche Modeknöpfe – wohlwissend, dass ich es später bereuen würde.

Nachdem ich bezahlt hatte, verkündete Leo, er gehe in die Elektronikabteilung.

«Ich warte bei den Handtaschen auf dich», sagte ich.

Leo schüttelte den Kopf. «Du hast kein Handy dabei.»

Ich hatte es Vater ausgeliehen, weil sein Akku kaputt war. «Du wirst mich schon finden», sagte ich.

«Vergiss es!» Leo steuerte auf die Rolltreppe zu.

«Leo, bitte!»

Er drehte sich nicht einmal um. Eigentlich war es nett, dass er mich überhaupt in die Stadt begleitet hatte. Normalerweise wäre ich ihm dankbar gewesen. Doch jetzt stieg Groll in mir auf. Leo hätte jederzeit allein in die Elektronikabteilung gehen können. Ich durfte nicht ohne ihn weg. Ich weiss nicht, warum mich das plötzlich störte. So wichtig war mir die Handtasche nicht.

Trotzdem blieb ich einfach stehen. Leo merkte es nicht. Er fuhr nach oben, ohne zurückzuschauen. Als er aus meinem Blickfeld verschwand, überkam mich plötzlich ein Gefühl von Leichtigkeit. So, als hätte ich einen schweren Rucksack abgelegt. Ich schlenderte langsam zum Notausgang und nahm die Treppe nach unten. Kaum war ich in der Handtaschenabteilung angekommen, packte mich das schlechte Gewissen.

Wenn Leo ohne mich nach Hause zurückkehrte, würde Vater ihm die Kappe waschen. Leo hatte zwar mehr Freiheiten als ich, dafür musste er den Kopf hinhalten, wenn etwas schieflief. Was das bedeutete, war mir erstmals bewusst geworden, als Vater ihm meinetwegen eine Woche Hausarrest aufgebrummt hatte. Ich war damals in der sechsten Klasse gewesen, Leo in der achten. An einem Mittwochnachmittag musste er mich zum Zahnarzt bringen. Fast dreiviertel Stunden sassen wir im Wartezimmer, bis ich endlich an der Reihe war. Es war stickig, und ein Kind quengelte ununterbrochen. Als mich die Assistentin rief, sagte Leo, er warte draussen auf mich.

Die Untersuchung dauerte nicht lange. Leo war nirgends zu sehen. Ich beschloss, mich allein auf den Heimweg zu machen. Unglücklicherweise war Vater an diesem Nachmittag zu Hause. Er hatte einen Kunden in der Nähe abgesetzt und die Gelegenheit genutzt, aufs Klo zu gehen. Als Taxifahrer ist er den ganzen Tag unterwegs. Er wollte gerade losfahren, als ich auftauchte. Noch bevor er mich begrüsste, fragte er, wo Leo sei.

Ich versuchte, die Situation herunterzuspielen, doch Vater liess nicht locker. Ich hatte allein das Rotlichtmilieu durchquert. Obwohl mich niemand angequatscht hatte, sorgte sich Vater ständig um mich und um meinen Ruf.

Eine halbe Stunde später kam Leo ausser Atem an. Er hatte mich überall gesucht. Vater stellte ihn zur Rede. Leo erklärte, er habe sich nur kurz eine Cola gekauft, während er auf mich wartete. Vater liess die Entschuldigung nicht gelten. Ich fand das unfair, schliesslich war es meine Schuld, ich war einfach davongelaufen. Trotzdem durfte Leo eine ganze Woche lang nicht mehr weg.

Nie werde ich seinen roten Kopf, die Scham in seinen Augen vergessen. Er hatte versagt. Vater war enttäuscht. Das war für Leo schlimmer gewesen als der Hausarrest.

Plötzlich war mir die Handtasche egal. Ich drängte mich an den Menschen vor den Verkaufsauslagen vorbei und stürzte auf die Rolltreppe zu. Ohne die Proteste zu beachten, bahnte ich mir einen Weg nach oben.

Leo starrte gebannt auf einen Bildschirm, in den Händen hielt er einen Controller. Ich stellte mich neben ihn. «Bin gleich so weit», murmelte er.

Er hatte nicht einmal gemerkt, dass ich mich abgesetzt hatte.

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