Читать книгу Dann klappt's auch mit dem Nachbarn - Petra Nouns - Страница 5

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Anne war nicht frisch geschieden. Sie hatte schon die erste und nun auch die zweite posteheliche Liebelei hinter sich, seit gerade vierundzwanzig Stunden. Freitag gegen siebzehn Uhr hatte sie David verlassen, für immer. Jedenfalls hatte sie diejenige sein wollen, die ihn verließ – und nicht etwa umgekehrt. Leider war der Auftritt nicht sehr überzeugend gewesen, denn er hatte nicht widersprochen und nicht mehr Betroffenheit gezeigt, als unbedingt nötig war.

Mittlerweile ging es ihr deshalb genau so, wie es ihr immer ging, wenn sie verlassen wurde.

Übrig blieb dieses scheußliche Gefühl, Hoffnungen, Träume und Zukunft zu verlieren.

Hatte sie gestern noch einen Triumph erlebt, als sie erhobenen Hauptes und ohne sich umzublicken Davids Wohnung verließ, so hatte heute das scheußliche Gefühl endgültig gesiegt. Dennoch verbot sie sich, diesen Samstagabend ausfallen zu lassen. Sie konnte es sich nicht leisten, womöglich die Bekanntschaft eines neuen, potentiellen Partners zu verpassen, und so kam ihr die Einladung zu einer Party mit vielen Leuten, von denen sie wahrscheinlich nur die Gastgeber kannte, sehr gelegen.

Der Gedanke an die vielen Fremden bereitete ihr jedoch Unbehagen. Dagegen konnte Anne sich nicht wehren, sie hatte es nie gekonnt, auch früher nicht.

Als kleines Kind hatte sie sich immer wie verrückt auf die weihnachtlichen Besuche ihrer Tante gefreut. Tante Edda reiste jedes Jahr am dreiundzwanzigsten Dezember mit ihrem Auto an, und die Familie erwartete gegen Abend ihre Ankunft. Tage vorher steigerte sich Annes Freude immer weiter, aber dann, wenn es am Vorweihnachtstag zu dämmern begann, kurz bevor sich ihre Freude in Tante Eddas Armen hätte entladen können, stockte sie. Um Annes kleines Herz legte sich langsam ein kalter Ring der Beklemmung. Vater überprüfte zu diesem Zeitpunkt gewöhnlich den Christbaumständer auf Standfestigkeit und pfiff manisch sein Repertoire an Weihnachtsohrwürmern vor sich hin. Mutter rührte derweil nervös in der Küche und verschanzte sich hinter hektischer, fast fröhlicher Betriebsamkeit. Als Erwachsene versuchte Anne oft vergeblich, sich zu erinnern, was an diesen Nachmittagen gesprochen wurde. Ob sie Fragen gestellt hatte oder ob ihr Fragen gestellt wurden? Ob geschwiegen oder aufgeregt geschwätzt wurde? Sie konnte es nicht sagen. Mit Sicherheit wußte sie aber, daß sie nicht singend durch die Wohnung gehüpft war: «Ich freu mich so auf Tante Edda. Ich freu mich so auf Tante Edda. Ich freu mich. Ich freu mich.»

Auch kuschelte sie sich nicht alle zehn Minuten an die Mama: «Mama, wie lange dauert’s noch, bis Tante Edda kommt?»

Wenn das Auto der geliebten Tante mit kurzem Hupen vorfuhr und Vater und Mutter sich augenblicklich in die temperamentvollsten, herzlichsten Menschen der Welt verwandelten, aufsprangen und ans Fenster rannten, klopften und gestikulierten, dann zog der kalte Ring um ihre Brust sich zu. Anne verkroch sich wie ein krankes Kätzchen hinter das Sofa oder den Vorhang, einmal sogar in den Schlafzimmerschrank.

In diesen Verstecken, verborgen vor Mutters, Vaters und Tante Eddas Blicken, entlud sich dann die ungeheure Spannung. Von Weinkrämpfen geschüttelt, wartete sie, bis man sie fand. Tante Edda nahm sie in ihre Arme, küßte und herzte sie, setzte sie auf ihren Schoß und schenkte ihr alle Aufmerksamkeit, bis sie aufhörte zu weinen.

Anne wußte nicht, wann sie dieses Begrüßungsverhalten abgelegt hatte. Eines Tages war es vorbei, nur die Angst blieb. Sie wurde zu einer Angst vor Begegnungen mit Fremden, die sie bis ins fünfunddreißigste Lebensjahr begleiten sollte. Spontane Begegnungen meisterte sie ohne Schwierigkeiten. Aber wehe, sie hatte Zeit, sich stunden- oder gar tagelang darauf vorzubereiten. Dann trieb ihre Phantasie häßliche Blüten: Dumm würde sie wirken, ungeschickt, plump und dick, unansehnlich.

Anne zog sich für die Party um. Da sie sich frisch verlassen fühlte, konnte sich die alte Angst vor Fremden an diesem Samstag breitmachen. Sie wählte weite Hüllen, nichts Figurbetonendes, alles war weich fließend und etwas unscheinbar. So fühlte sie sich in Sicherheit.

Nichts von diesen Nöten schien der gutaussehende Mann zu bemerken, den sie – kaum eingetaucht in das Partygewühl – am Buffet entdeckte. Er hatte gleich beim Eintreten ein Auge auf sie geworfen und nutzte jetzt die kulinarische Geselligkeit, um sich von seiner besten Seite zu zeigen. Groß und hager, recht attraktiv, mit langsamen Bewegungen und großen, schönen Händen, charmant, in seiner Freizeit Kabarettist, von Beruf Arzt, in Scheidung lebend, Vater zweier Töchter. Der Abend schien sich zu lohnen, Anne begann sich zu entspannen.

Noch gegen siebzehn Uhr hatte die Welt unendlich öde ausgesehen, und jetzt, fünf Stunden später am kalten Buffet, sollte ihr das Schicksal einen Traummann auf dem Silbertablett servieren? Hans-Jochen war sein Name. Kleine Makel seines äußeren Erscheinungsbildes, wie beispielsweise ein etwas zu weicher Zug um den Mund oder das leichte Untergewicht, glich er durch seine beachtliche Körperlänge aus und vor allem durch seine Position als Chefarzt einer renommierten Privatklinik, die seinem Vater gehörte.

Der Abend steuerte unweigerlich und ganz selbstverständlich auf einen leidenschaftlichen Abschiedskuß zu. Anne war überwältigt von der Intensität dieses Kusses, hatte das Gefühl, daß er kaum noch steigerungsfähig war. Wie sollte das erst im Bett werden? Diesen Gedanken nahm Anne mit in einen süßen, tiefen Schlaf.

Am nächsten Tag fand sie eine Einladung zum Essen und eine Karte für eine bevorstehende Kabarettpremiere im Briefkasten. Es folgten einige heiße Telefonate – Anne glaubte, ihn fast stöhnen zu hören, zog es aber vor, dies zu überhören, da es wirklich keinen Grund zum Stöhnen gab.

Zum ersten Abendessen in trauter Zweisamkeit mit Hans-Jochen wählte Anne ein etwas bekennenderes Outfit als bei der ersten Begegnung: schmale Hose, enger Blazer, darunter nichts außer einem schönen Büstenhalter. Ihr Selbstbewußtsein war gewachsen. Nichts Besseres als dieser Chefarzt hätte ihr jetzt passieren können.

Eine knappe Woche war seit Samstag vergangen, und in Annes Träumen hatte er diese kleine Woche lang die Hauptrolle gespielt. Es gab ein paar Kleinigkeiten, die ihr zu denken gaben. Sein Kuß war eine Idee zu feucht. Außerdem sollte er sich vielleicht abgewöhnen, unangemessen zu stöhnen – alles Kleinigkeiten.

Auch wäre ihr lieber gewesen, er hätte die Scheidung schon hinter sich. Und der Gedanke daran, daß er noch im gemeinsamen Haus mit seiner Frau wohnte, war etwas unbehaglich. Sie wußte, daß Frauen nach einer Trennung eine Zeit brauchen, um zu sich selbst zu finden, aber Prinzen wie Hans-Jochen ließen sich nach einer gescheiterten Beziehung meistens ganz schnell wieder erobern.

Nein, sie würde nichts anbrennen lassen.

Er hatte mexikanisch vorgeschlagen. Understatement schätzend, fand Anne das eher sympathisch als billig, obwohl es billig war. Das sündhaft teure französische Lokal, das in ihren Träumen den Rahmen für diesen Abend gebildet hatte, wäre unangemessen gewesen. Der Mexikaner war genau richtig.

In dem saalähnlichen Raum waren alle Stühle an den großen blanken Holztischen besetzt. Bis zwei Plätze frei wurden, überbrückten sie die Zeit an der Bar, wo Anne zum ersten Mal in ihrem Leben Tequila mit Salz und Zitrone probierte. Sie hatte von Champagner als Aperitif geträumt, den sie wegen seiner ebenso leichten wie schnellen Wirkung schätzte. Der Tequila machte dennoch Eindruck auf sie, er stieg noch schneller zu Kopf und bildete außerdem den idealen Auftakt zu den scharfen Speisen und den Offenbarungen, die folgten.

Hans-Jochen schaute ihr tief in den Ausschnitt und begann seine Geschichte:

Seine Frau, eine, wie er betonte, bildhübsche Französin, hatte einen Liebhaber und wollte sich von Hans-Jochen trennen. In gegenseitigem Einverständnis. Sie gedachte, in Zukunft das gemeinsame Dreihundert-Quadratmeter-Einfamilienhaus zu bewohnen, das er abzahlte.

Der Liebhaber war auch schon eingezogen und beteiligte sich rührend an der Erziehung der Töchterchen. Hans-Jochen hatte ein sehr entspanntes Verhältnis zu ihm. Er selbst war vorübergehend ins Gästezimmer im Souterrain gezogen und nun auf der Suche nach einem preiswerten Zimmer.

Sehr preiswert mußte es sein, weil ein beträchtlicher Teil seines Einkommens von den Unterhaltszahlungen für seine Töchter und seine nicht berufstätige Frau verschlungen wurde. Ihr mochte er neben der gelegentlichen Erteilung von Französisch-Konversationskursen keine regelmäßige Berufstätigkeit zumuten, der Töchter wegen. Sie waren schließlich erst im zarten Alter von vierzehn und fünfzehn Jahren.

Einen weiteren Teil schluckte die Finanzierung des gerade vor zwei Jahren fertiggestellten Einfamilienhauses, dessen Verkauf er nicht im Traum erwog, weil dieses – genau wie eine Berufstätigkeit der Mutter – eine Herabsetzung des gewohnten Lebensstandards der Kleinen bedeutet hätte, was ihm sein väterliches Gewissen verbot. Mächtig groß waren die Hörner, die ihm die Mutter seiner Kinder aufgesetzt hatte.

Anne erwachte aus ihrem Traum.

Um die Ernüchterung ein wenig erträglicher zu machen, erwog sie jedoch eine kurze Affäre mit ihm.

Also wurde auch dieser Abend von einem Abschiedskuß gekrönt. Ein weiterer, noch längerer folgte und noch einer. Die Scheiben von Annes Auto beschlugen. Sie hatte auf dem Bürgersteig vor Hans-Jochens Haus gehalten. Im Haus brannte Licht. Sein Auto stand neben dem seiner Frau säuberlich geparkt. Der Liebhaber hatte es sich für heute abend geborgt.

Kußpause, ihre Blicke wanderten zu den beleuchteten Fenstern, trafen sich wieder, er entflammte erneut, schnappte nach ihren Lippen, und seine rechte Hand wagte sich, von ihrer Schulter hinabgleitend, auf das bisher nur mit den Augen abgetastete Terrain ihrer Brüste. Die rechte, dann die linke. Durch den Stoff spürte er die aufgerichteten Spitzen, was ihm wieder seinen etwas unangemessen heftigen Seufzer entlockte. Anne glaubte ihn nun davon abhalten zu müssen, ihren Blazer aufzuknöpfen, da sie prinzipiell ihre bedeckten Hautpartien nicht beim ersten Rendezvous preisgab. Dies war jedoch nicht nötig, denn er zog seine Hand zurück, dafür ihre an seine Lippen und flüsterte: «Bis zur Premiere. Ich dank dir für den wunderbaren Abend. Ciao!»

Dann klappt's auch mit dem Nachbarn

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