Читать книгу Dann klappt's auch mit dem Nachbarn - Petra Nouns - Страница 6

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Anne saß auf einem für sie reservierten Platz in der ersten Reihe des kleinen Zimmertheaters. Ihre Knie berührten beinahe die Bühne, und die Schauspieler waren zum Greifen nahe. Drei Mimen, alle Ärzte, waren schon auf der Bühne, dabei ein sehr gut aussehender mit Glutaugen. Sie spielten ihren Berufsalltag nach, mit einem kritischen Anspruch, und noch hatte Anne keinen Grund zu bezweifeln, daß sie diesem im Laufe des Abends gerecht zu würden.

Da kam Hans-Jochens erster Auftritt in der Rolle eines schüchternen Muttersöhnchens, das den Wunschtraum seiner Mutter verwirklicht und Herzchirurg wird.

Zunächst glaubte und hoffte sie, sich vor lauter Befangenheit als Fast-Geliebte zu täuschen. Nach einigen Szenen wurde es aber zur schmerzlichen Gewißheit: Hans-Jochen spielte schlecht. Er spielte so miserabel, daß er in dieser Rolle fast schon wieder überzeugend war. Anne konnte sich, allen Bemühungen zum Trotz, des Eindrucks nicht erwehren, daß er einfach nur sich selbst spielte, was nicht weiter schlimm gewesen wäre, hätte er es nur gewußt. Er aber schien neben sich zu stehen und süffisant auf das Muttersöhnchen herabzulächeln. Das löste bei Anne ein Gefühl aus, welches ihr ebenso vertraut war wie die alte Angst: Die alte Scham.

Die machte sich immer dann bemerkbar, wenn sich jemand in ihrer Nähe blamierte. Dann glaubte Anne statt seiner auf der Stelle in Grund und Boden versinken zu müssen, unabhängig davon, ob sich der Mensch seiner Blamage bewußt war oder nicht. Sie schämte sich also für Hans-Jochen vor dem gesamten Publikum.

Die alte Angst und die alte Scham, diese beiden mißgünstigen Schwestern, hatten Anne fest im Griff.

Hans-Jochen machte eine so erbärmliche Figur, daß sie am liebsten unter die Bretter gekrochen wäre, die für ihn offenbar Selbstverwirklichung bedeuteten.

Seine hagere Gestalt wurde zu allem Überfluß durch eine schwarze Tuchhose betont, deren Bund im Stil der Siebziger auf den leicht hervortretenden Hüftknochen auflag. Die Ärmel seines pastellfarbenen Oberhemdes umspannten seine dünnen Arme, die Anne bis dahin ebensowenig wahrgenommen hatte wie die Hühnerbrust, auf der sich die Knöpfe grotesk spannten. Sie war zutiefst überzeugt, diesen Hering nie wieder näher an sich heranlassen zu können.

Anne hielt durch, auch nach der Pause, aus Höflichkeit. Der Glutblick, der sich wiederholt auf ihren Busen setzte, unterstützte ein wenig ihr Durchhaltevermögen, die Pointen nicht.

Der Applaus war heftig. Schließlich waren die meisten Zuschauer geladene Gäste der Mimen. Auch Anne klatschte laut, dann ging sie ins Foyer.

Anne mußte lächeln, Hans-Jochen etwas besonders Nettes sagen und bloß nicht aufhören zu lächeln. Sobald sie sicher sein konnte, daß er glaubte, alles sei in Ordnung und es gäbe wirklich nicht den geringsten Grund, sich zu schämen, konnte sie sich langsam entspannen.

Während sie mit gespannter Wirbelsäule und leichter Hysterie im Blick beschwörend in Hans-Jochens Gesicht lächelte, irrten ihre Augen haltsuchend umher und trafen sich in den großen Wandspiegeln des Foyers. Sie erschrak, als ihr das Gesicht ihrer Mutter entgegenblickte, mit diesem Lächeln, das langsam erlischt wie das Nachglühen auf einem ausgeschalteten Bildschirm.

Schnell wandte Anne ihren Blick von den Foyerspiegeln ab und fing sich. Sie beglückwünschte Hans-Jochen und seine Kollegen zur großartigen Premiere, und alles war in Ordnung. Alle strahlten, Anne wurde vorgestellt, und die männlichen Ensemblemitglieder warfen bewundernde, die weiblichen beeindruckte Blicke auf Annes Busen, der wirklich nicht zu übersehen war. Als junges Mädchen war Anne unglücklich über ihren Riesenbusen gewesen. Die flachbrüstigen Schönheitsideale der Siebziger setzten ihr schwer zu.

Damals hatte sie ihre Brüste unter ihren immer schon taillenlangen Haaren versteckt. Vor allem, wenn sie sich nackt zeigte, was sich damals, in der Zeit der sexuellen Befreiung, bei jeder sich bietenden Gelegenheit so gehörte. Später steckte sie ihr Haar ungeniert hoch und zeigte stolz ihren Oberkörper, womit sie manchen Mann aus der Fassung brachte. Frauen fühlten sich unscheinbar neben Anne, andere bedauerten sie wegen der Schwierigkeiten bei der Kleiderwahl.

So schwierig war es aber gar nicht. Die Korsage, die sie heute trug, erlaubte sich Anne, weil sie wußte, daß ihr ein Liebhaber für diesen Abend sicher war. Ohne diese Erfolgsgarantie hätte sie nicht den Mut zu einem solchen Aufzug gehabt.

Der Abend wurde mit einer Premierenfeier beim Spanier fortgesetzt. Das Ärztekabarett, bestehend aus vier Männern und drei Frauen, lud ein: zwei Ehefrauen, zwei Ehemänner, eine Freundin, diverse Bewunderinnen und Bewunderer, Anne und einige illustre Personen der Kleinkunstszene. Darunter der Theaterbesitzer, ein viel zu kleiner, unsympathischer Grieche.

Aus dem Programmheft wußte Anne, daß sich der Grieche in seinem Theater in Form einer Ein-Mann-Kabarett-Show selbst inszenierte. Wieviel dies einspielen mochte, konnte sie schwer einschätzen.

Im Laufe des Abends kamen aber auch die von ihm veranstalteten Schauspielseminare in Griechenland zur Sprache. Hans-Jochen und Bernd, der Glutäugige, hatten bereits an mehreren Schauspielseminaren teilgenommen, die der Grieche an Alternativ-Touristik-Plätzen veranstaltete. Sie benutzten ihre Seminarerfahrung zu selbstdarstellerischen Zwecken bei Partys, Empfängen und Premierefeiern wie dieser und erweiterten so ständig den Kreis kulturbeflissener Ärzte und Rechtsanwälte und ambitionierter Akademikerinnen um den schlauen kleinen Griechen herum. Die zwei anderen Männer des Ensembles waren ebenso verheiratet wie unattraktiv.

Von den drei Frauen waren zwei unscheinbar, die dritte war die Sexbombe der Truppe. Sie war diejenige, die immer die Krankenschwester mit bestrapsten Schenkeln unter weißen Kitteln spielte. Oder so ähnlich.

Selbst die etwas blaustrümpfig wirkenden Damen des Ensembles trugen zum Erfolg des Theaters, seines Betreibers und dessen Seminaren bei. Jede Frau, die Lust verspürte, sich auf einer Bühne darzustellen, konnte gewiß sein, daß sie neben diesen grauen Mäusen wie die Sonne strahlen würde.

Anne war sicher, daß sich eine oder zwei der nicht mehr ganz jungen Frauen, die heute abend an Hans-Jochens und Bernds Lippen hingen, für das nächste Sommerseminar anmelden würden.

Vermutlich auch der 1,65-m-58-kg-Mann, der rechts neben ihr saß und ihr verstohlene Blicke zuwarf, während er versuchte, mit dem Griechen, der links von Anne Platz genommen hatte, ins Gespräch zu kommen.

Anne war es in der allgemeinen Aufregung der Tischordnung gelungen, nicht den für sie bestimmten Platz an Hans-Jochens Seite einzunehmen, sondern den Platz ihm gegenüber.

Nun saß sie zwischen zwei schmächtigen Männern.

Beide hatten bestimmt Angst vor ihren Formen und vor ihrer Größe.

Schüchtern erkundigte sich der 1,65-m-58-kg-Mann nach den Seminarinhalten, die der griechische Zwerg jedoch nicht recht preisgeben wollte.

Anne kaute ein gegrilltes Fischlein und eine Olive, begoß sie mit einem Schluck Rotwein, nachdem Bernd und sofort danach Hans-Jochen ihr zugeprostet hatten. Sie folgte dem kreuz und quer über den langen Tisch geworfenen Gespräch, ohne selbst daran teilzunehmen. Noch zu kurz war es her, daß sie die alte Angst und die alte Scham abgeschüttelt hatte.

Abgesehen davon war sie fremd in der Tischrunde, flankiert von zwei Hänflingen, zwischen denen sie wie eine Walküre wirkte, und in Begleitung von Hans-Jochen, worauf sie nicht gerade stolz war. Sie hing eine Weile ihren eigenen Gedanken nach und stellte sich vor, es dem Griechen gleichzutun.

Wenn sie mit ihrem Dolmetscherbüro, das sie seit ihrer Scheidung vor fünf Jahren betrieb, nicht mehr genug erwirtschaften würde, könnte sie genausogut Abend- oder Ferienkurse anbieten, wie etwa «Selbstfindung durch natürliches Übersetzen» oder «Dolmetschen – der Weg zum Selbst im anderen Land».

Jäh wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Der glutäugige Bernd hatte es doch tatsächlich fertiggebracht, mit ihrem rechten Tischnachbarn, dem 1,65-m-58-kg-Mann, den Platz zu tauschen. Wie, das hatte Anne nicht mitbekommen, aber der kleine Mann lächelte zart, murmelte ein paar unverbindliche Worte und setzte sich brav auf Bernds Platz am Kopfende, wo er das Bild eines Kindes ohne Kinderhochstühlchen abgab.

«Ich bin Bernd.» Bernd hob sein Glas, und sein Blick war umwerfend.

«Anne», sie stieß an.

«Diese Tapas bei Miguel sind immer wieder großartig. Reich doch bitte mal den Teller, Sandra!»

Sandra, eine der Blaustrümpfigen, parierte.

Bernd fütterte Anne mit Grillfischen, schenkte ihr Rotwein nach, und Hans-Jochen begann sichtlich zu kochen. Er versuchte sich verbal zwischen die beiden zu schmeißen. Eingeklemmt zwischen Tisch, Wand und Sitznachbarn rang er um Beachtung, was Anne mit regelmäßiger Ansprache honorierte. Sie begann ihr Spiel zu spielen.

Jeden dritten bis vierten Ball gab sie an Hans-Jochen ab. Die anderen waren für Bernd, der hatte im Moment einfach den besseren Blick. Und wofür die Korsage, wenn nicht für aufmerksame Augen.

Die Kabarettvorstellung hatte ihre Lust erfrieren lassen, sie konnte nur durch einen handfesten Flirt mit dem Besten der lausigen Mimen wiederhergestellt werden. Und hier war er.

Er begann mit dem Hauptgang, ohne sich auch nur einmal von Anne abzuwenden, sein Knie suchte immer wieder Annes Schenkel, sein Oberkörper war ihr ganz zugewandt, er fütterte sie und verschlang sie mit den Augen. Annes Oberkörper blieb geradeaus, Hans-Jochen zugewandt, der sich trotz seiner mißlichen Lage erstaunlich gut behauptete.

Es gelang ihm, Annes und Bernds trautes Zwiegespräch zum spitzen Small talk zu dritt zu machen. An den Inhalt des Gesprächs konnte sich Anne später kaum erinnern. Irgendwann wußte sie, daß Bernd Stationsarzt der HNO-Abteilung in Hans-Jochens Krankenhaus war.

Sie vermutete, daß weit mehr als die momentane mißliche Lage, in der sich Hans-Jochen befand, hinter dieser Hochspannungssituation steckte. Hans-Jochen war Bernds Chef und ein gehörnter Ehemann. Bernd dagegen war Single und ein Don Juan, und Anne hätte sich nicht gewundert, wenn Bernd mit Hans-Jochens Frau geschlafen hätte. Denn Hans-Jochen reagierte, ganz gegen seine sonstige ruhige Art, auf Bernds Affront derart heftig, daß Anne kaum glauben konnte, sie sei der alleinige Grund dafür.

Immer lauter wurde Hans-Jochen und schneller. Gegen Ende des Hauptgangs war es ihm mit scharfer Zunge allmählich gelungen, Bernds funkelnden Charme zu entzaubern, bevor er Anne erreichte.

Und das war nicht alles, was er zur Sicherung seiner Trophäe unternahm.

Anne machte er unverhohlene Komplimente und, um Besitzansprüche zu verdeutlichen, gab er Vertraulichkeiten zum besten. Sogar die Kinder erwähnte er einmal beiläufig, und Anne wußte beim besten Willen nicht, ob er seine oder ihre meinte.

Alle Zuhörer mußten glauben, er ginge in Annes Haus ein und aus oder er lebe gar mit ihr zusammen. Wußten die Kollegen, daß er und seine französische Gattin sich scheiden lassen wollten? Für wen hielt man sie?

Die Kollegen schienen ihm jedoch in dem Maße gleichgültiger zu werden, wie Bernd Anne auf den Leib rückte. Dieser hauchte gerade etwas Banales in ihr Ohr und schnupperte dabei ihr Parfüm.

Was für ein Tier, beschnuppert mich, als würde er mich gleich verschlingen!

Anne bebte.

Und wirklich, das Tier griff an, jetzt!

Annes Hand wurde blitzschnell gepackt, und sie spürte harte Männerlippen auf ihrem Handrücken.

Hans-Jochen hatte über den Tisch hinweg zugeschnappt, hielt seine Beute fest und markierte sie mit zwei, drei Küssen. Anne sah ihn völlig verblüfft an, er schaute ihr von unten nach oben in die Augen.

«Hat es dir geschmeckt, meine Süße?»

Annes Mundwinkel zogen sich auseinander, ließen die Zähne blitzen, und sie hörte sich sagen: «Wunderbar!»

«Ein kleines Dessert?»

«Gerne!»

Mit einer Hand ihre Fingerspitzen festhaltend und mit der anderen dem Kellner winkend, triumphierte Hans-Jochen. Für Anne hatte er sich augenblicklich in den attraktiven Mann zurückverwandelt, der sie im Auto so leidenschaflich geküßt hatte. Sie turtelten also über dem Dessert und teilten es mit einem Löffel.

Bernd begriff sofort. Er war schließlich Routinier und mit derartigen Niederlagen vertraut. Man gab sich alle erdenkliche Mühe, doch das Objekt der Begierde benutzte einen lediglich als Appetithappen für das Festmahl mit einem anderen. Er bedauerte sich ein bißchen und goß sich einen Wein nach dem anderen ein. Anne und Hans-Jochen hatten von jetzt an nur noch ein Ziel: Allein sein! Premiere!

Keiner wunderte sich, daß die beiden sich als erste verabschiedeten. Zum Schluß sagte eine der Blaustrümpfigen: «Ich freue mich, Sie endlich kennengelernt zu haben. Ihr Deutsch ist übrigens hervorragend!»

Dann klappt's auch mit dem Nachbarn

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