Читать книгу Dann klappt's auch mit dem Nachbarn - Petra Nouns - Страница 9
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ОглавлениеAnne hetzte ihrem Alltag immer hinterher. Der Tag begann im allgemeinen bei Null, es sei denn, sie hatte verschlafen. Dann begann er unterhalb des Gefrierpunktes und das waren die allerschlimmsten Tage. Ein normaler Tag aber begann bei Null. Der Abstand zum Soll schwankte im Laufe des Tages, vergrößerte sich, und manchmal verkleinerte er sich auch, aber ein Abstand blieb immer.
Nur an ganz wenigen köstlichen Tagen gelang es ihr, ihren flotten Alltag einzuholen. Solche Tage hatten einen wunderbaren Ausklang. Sie ging abends nicht später als halb elf in ihr aufgeräumtes Schlafzimmer und legte sich in frische blütenweiße Bettwäsche in dem Bewußtsein, noch ein halbes Stündchen lesen zu können und dennoch volle acht Stunden Schlaf vor sich zu haben.
Diese Tage waren die süße Ausnahme. Viele unvorhersehbare Dinge konnten sich in diesem Vier-Personen-Haushalt mit bedauernswerter Erwachsenen-Minderheit ereignen und mitunter auch in den ebenso tückenreichen Büroalltag drängen.
Eine Tücke bestand darin, daß Anne keine Aufträge ablehnen konnte, weil dies gegen ihre Natur gewesen wäre. Ihre Übersetzungsarbeiten waren meist Routine: Zeugnisse, Geburts-, Heirats- und Scheidungsurkunden, Ehe- und Kaufverträge, Testamente.
Für diese Aufträge hatte sie ein gutes Terminierungskonzept, das sie aber immer dann selbst torpedierte, wenn sie kurzfristig zugesagte Dolmetschertermine dazwischenschob, ohne eben dieses Konzept zu berücksichtigen.
Sie hatte sich einen Namen gemacht bei Geschäftsleuten und Behörden. Oft kam es vor, daß diese Auftraggeber sie ganz schnell brauchten, weil der hauseigene Dolmetscher Grippe hatte oder die ausländische Delegation doppelt so groß wie geplant war oder weil der Geschäftspartner nun doch nicht von seiner deutschsprechenden Sekretärin begleitet wurde. Zwanghaft sagte Anne bei solchen Notrufen zu. Wenn sie dann in Teufels Küche kam, aus der sie nur mit Renates Hilfe wieder herausfand, nahm sie sich fest vor, beim nächsten Mal freundlich, bedauernd und bestimmt abzulehnen.
Das wäre gar nicht schlecht fürs Image. Ausgebuchte Leute sind gute Leute, überlegte sie dann. Aber die Angst davor, daß die Kunden zugunsten eines personalstärkeren Büros abspringen könnten, gewann letztlich immer.
Solcher Konfliktstoff war jedoch harmlos gegen den, der ihr privates Leben speiste. Kinder contra Beruf, Kontostand contra Lebensqualität, Haushalt contra Kreativität, Männerbekanntschaften contra Kinder.
Eine nicht ungefährliche Gratwanderung, und Anne wurde schwindelig, wenn sie einen Blick in die Abgründe riskierte, die rechts und links von ihr klafften. Sie tat besser daran, diesen Blick geradeaus auf das weiteste und dennoch sichtbare Ziel zu lenken. Das war ein Tip ihres Vaters gewesen, als sie, gerade fünfjährig, das Fahrradfahren gelernt hatte. Sobald sie den Blick auf diesen magischen Punkt gerichtet hatte, hörte sie auf zu schlingern und fuhr eine herrlich gerade Linie. Genau das bewahrte sie auch heute vor dem Absturz.
Auf diesen gefährlich schmalen Grat hatte sie sich vor fünf Jahren gewagt, als sie sich von ihrem Ehemann trennte und sich gleichzeitig selbständig machte. Die damit verbundenen Schulden hatten ihr, ebenso wie ihre damals zweijährige Jüngste, so manche Nacht den Schlaf geraubt.
Mit viel Mühe, Geschick und einem selbstverordneten unerschütterlichen Optimismus war es ihr gelungen, diesen steinigen Gebirgspfad zu einer passablen Landstraße auszubauen, mit Mittelstreifen und Leitplanken. Keine Autobahn. Manche Leitplanke bedurfte der Reparatur, der Mittelstreifen war auch streckenweise verblaßt. Es kostete sie Nerven und Konzentration, um unfallfrei zu fahren.
Da trotz mancher Umwege und Verzögerungen alles gut lief, hätte sich Anne ab und zu Zeit für ein schickes Abendessen mit anschließender Nacht nehmen können. Mit den Geschäftsmännern und den höheren Beamten, für die sie arbeitete. Einige waren sogar an einem ausbaufähigen Verhältnis interessiert. Sie dachten dabei an eine Regelmäßigkeit, die der ihrer Termine in Köln entsprach. Anne ließ sich auf solche Angebote nicht ein. Ein nettes Gespräch hier, eine erotische Nacht dort, dagegen wäre nichts einzuwenden gewesen. Aber sie trennte Job und Erotik grundsätzlich.
Sie hatte schon genügend falsche Entscheidungen in ihrem Leben getroffen, und heute noch war sie mit deren Korrektur beschäftigt.
Wenn sie darüber nachdachte, fühlte sie sich immer überfordert und ohnmächtig vor der Anzahl der Dinge, die nicht so waren, wie sie sein sollten, die geradegerückt oder gänzlich entfernt werden mußten.
Manchmal fühlte sie sich wie in einem Haus, wo eine Art Anti-Mary-Poppins ihr Unwesen trieb. Mit Tante Edda hatte sie den Musicalfilm an einem zweiten Weihnachtsfeiertag gesehen. Mary Poppins hatte mit den Fingern geschnippt, und das ganze Kinderzimmerchaos flog wie von Magneten gezogen kreuz und quer, dann landete jedes Ding an seinem Platz. Wäsche faltete sich in der Luft und rutschte in die Kommodenschubladen. Aufgeschlagene Bücher klappten zu und sausten in der richtigen Reihenfolge ins Bücherregal. Mit offenem Mund hatte Anne diese Szene verfolgt.
In ihrem Leben war es genau umgekehrt. Hier schien ein böser Geist an allem, was sie umgab, zu zerren und es an den falschen Platz zu setzen. Oder er schmuggelte Häßlichkeiten ein, die überhaupt nicht in Annes kleines Leben gehörten. Als Kind stand sie diesem Geist wie gelähmt gegenüber, und als Erwachsene begann sie gegen ihn zu kämpfen, indem sie versuchte, alles, was er anrichtete, rückgängig zu machen.
Zu Annes Freude hatte dieser böse Anti-Mary-Poppins-Geist keinen Zugriff auf ihre Kinder. Sie glaubte, auch deshalb diesen pausenlosen Wettlauf fortsetzen zu müssen, damit dem Geist keine Zeit blieb, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen.
Wenn sie ihn manchmal als Schatten aus dem Augenwinkel wahrnahm, versuchte sie gar nicht erst, ihn zu erwischen. Sie wollte nur schnell beseitigen, was er angerichtet hatte. Sie hatten sich eingespielt,der böse Geist und Anne. Er kannte sie schon als kleines Mädchen, wohnte schon in ihrem Elternhaus.
Annes Vater war ein ungehobelter Egozentriker mit einem doppelbödigen schmutzigen Charme, den verblüffend viele Frauen mochten. Die Mutter war so eine Frau. Wehrlos, unendlich angepaßt, feige, fleißig und selbstlos.
Anne war einsam zwischen diesen beiden aufgewachsen. Geschwister hatte sie nicht, Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits lebten nicht mehr, und die Verwandtschaft bestand einzig aus Tante Edda.
Die Mutter strengte sich an, immer dann wegzuschauen, wenn sie etwas nicht verstand oder wenn etwas ihre Ordnung bedrohte. Sie schaute sehr oft weg, und daher war bei ihr immer alles in Ordnung.
Die Küchenschränke, das Wohnzimmer, alles peinlich sauber, für jedermann jederzeit einsehbar. Auch die Perfektion im Schlafzimmer hielt, was Küche und Wohnzimmer versprachen. Unordnung auch dort nicht. Und wer in die Schublade ohne Schloß und Schlüssel neben Vaters Bett, unter das Heizkissen und unter das Inhalationsgerät geschaut hätte, wäre auf einen säuberlichen Stapel Pornographie gestoßen.
Anne war vielleicht vier Jahre alt, als sie diesen Stapel zum ersten Mal entdeckte. Mit der Zeit erkannte sie die Fleischteile und konnte sie zuordnen. Sie wußte, daß man die Bilder nur heimlich angucken durfte, lange bevor sie erkannte, was da abgebildet war.
Es mußte wohl in dieser Zeit gewesen sein, als Anne es für nötig befand, ihr Elternhaus zu korrigieren. Damals begann sie zu empfinden, daß ihr Zuhause nicht annähernd wie das der Mädchen war, mit denen sie gern befreundet gewesen wäre. Und selbst die, die sie für sich gewinnen konnte, hatten ein richtigeres Zuhause.
Später in der Schule lernte sie, daß man das Wort «richtig» nicht steigern kann, es leuchtete ihr aber nicht ein. Sie hatte ein richtiges Zuhause und die anderen ein richtigeres.
Richtig war ihr Zuhause, weil es sauber und ordentlich war und weil es Fernseher, Musiktruhe, eine Enzyklopädie der Wissenschaft, Auto, Sommerurlaub im Süden und Telefon gab.
Richtiger wäre es gewesen, wenn da nicht Vaters Bilder im Nachttisch gewesen wären. Wenigstens waren sie versteckt, wenn auch nicht verschlossen.
Es gab aber andere, sichtbare Merkmale, die ihr Zuhause von den richtigeren unterschied:
Vater plauderte nie mit ihren Freundinnen, wenn er von der Arbeit kam und Anne noch Besuch hatte. Er knurrte statt dessen irgendeine komische Bemerkung oder grinste kurz, aber nie erkundigte er sich nach Schule, Geschwistern und Eltern, so wie andere Väter das taten.
Ein weiteres Merkmal war der Umstand, daß sich die Familienmitglieder gegenseitig nichts wünschten.
Beim Auseinandergehen nichts außer «Tschüs», kein «Viel Glück beim Diktat!», kein «Viel Spaß heute nachmittag» oder ähnliche gemütshebende Floskeln. Bei Tisch kein «Guten Appetit» oder «Laßt’s euch schmecken», geschweige denn einen Segen von irgendwoher oder gar von Gott.
Vielmehr benutzte Vater gerade bei Tisch gerne die gemeinsame Zeit mit Frau und Kind, um lautstark zu lästern über Gott, Kirche und Spinner wie Dichter, Künstler und Musiker.
Als sie schreiben gelernt hatte, fertigte sie eine Liste an, die alles enthielt, was in einer richtigeren Familie nicht vorkommen darf, und die ein Strafmaß für diese Unarten vorsah:
1. Rülpsen | 20 Pfennig |
2. Rülpsen bei Tisch | 50 Pfennig |
3. Nicht guten Appetit sagen | 20 Pfennig |
4. Nicht guten Tag sagen | 50 Pfennig |
5. Pupsen | 1,00 Mark |
6. Pupsen bei Tisch | 5,00 Mark |
7. Arschloch sagen | 1,50 Mark |
8. Scheiße sagen | 1,50 Mark |
Das Ärgste, was hätte passieren können, aber nie passierte, war Punkt sechs, den sie wohl in die Liste aufgenommen hatte, um zu dokumentierten, daß wenigstens eine Unsitte in ihrer Familie nicht vorkam.
Mit Klebestreifen befestigte sie die Liste am Küchenschrank und stellte eine Sparbüchse daneben.
Das war einer ihrer vielen Versuche, das Leben ihrer Eltern zu korrigieren.
Als sie älter wurde, fingen die Fleischbilder an, sie zu erregen und um so mehr zu bedrücken.
Es waren immer noch dieselben Hefte, vielleicht waren drei oder vier im Laufe der Jahre dazugekommen. Anne hatte mit der Zeit noch weitere Plätze mit solchen Heften gefunden. Im Wohnzimmer ein Aktenordner, der mit «Steuer» beschriftet war, und ein Kasten im Werkzeugkeller mit elektrischen Schaltplänen zuoberst. Mutter wischte regelmäßig Staub auf dem Nachttischchen und dem Aktenschrank und räumte auch den Werkzeugkeller ab und zu auf.
Als Annes Mutter mit dreiundvierzig Jahren starb, war ihr Vater zuerst völlig hilflos, jedoch genauso barsch wie eh und je. Anne zog aus und gründete mit ihrer momentanen Flamme eine Kommune. Ihren Vater besuchte sie fast nie und wenn, dann höchstens für eine Stunde. Ab und zu telefonierten sie. Ihre wenigen Gespräche waren eine Qual für beide, und so wurden auch diese immer seltener.
Vater hatte sich nach dem Tod seiner Frau sozusagen einen Jugendtraum erfüllt. Er kündigte seine Beamtenstelle, die er seit knapp zwanzig Jahren bekleidete, und eröffnete ein Fleischbildkino.
Sein Kino mit dem Spezialprogramm lief sehr gut, im Gegensatz zu den anderen, die sich in den frühen Siebzigern in einer Dauerkrise befanden.
Er war stolz auf seinen «Ausstieg» und auf seinen «Riecher» – was auch immer er damit meinte. Allein Anne konnte die Freude über diesen Erfolg nicht teilen.
Keiner ihrer Freunde wußte und durfte je erfahren, daß ihr Vater der Besitzer des schmuddeligsten Kinos am Rand des Rotlichtviertels war. Alle anderen Mitglieder der Kommune hatten Eltern, die Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure oder Beamte waren. Für Anne waren das die richtigeren Eltern. Die Blumenkinder der Siebziger hatten ihre Mühe, die Konventionen abzuschütteln, die ihnen hartnäckig an den Sohlen klebten.
Anne heiratete mit neunzehn Jahren ihre große Liebe, einen bildschönen Iren, mit dem sie zehn Jahre lang versuchte, eine Ehe zu führen. Zunächst war es eine unkonventionelle, dann eine bewußte, dann eine konservative, zwischendurch immer mal wieder eine offene und dann schließlich gar keine mehr.
Anne trennte sich, nahm ihr Leben und das der drei gemeinsamen Kinder in die eigene Hand, und erst danach erfaßte sie, daß ihr schöner Ire ihr viertes mißratenes Kind gewesen war.
Für den Unterhalt der Familie hatte sie seit Beginn der Beziehung gesorgt, zuerst gejobbt und nebenbei Sprachkurse besucht, später eine verkürzte Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin mit sehr gutem Abschluß absolviert und seitdem bis auf kurze Babypausen ununterbrochen gearbeitet.
Das alles tat sie nicht nur für den Lebensunterhalt, sondern um ihre Jugendzeit zu korrigieren.
Wenn Anne später als Geschiedene jemandem ihre Geschichte erzählte, hatte sie immer Schwierigkeiten, diesen Punkt zu erklären. Nicht die Arbeitslosigkeit ihres Exehemannes, vielmehr ihr verzweifelter und zum Scheitern verurteilter Versuch, ihre Ehe zu korrigieren - hier verhaspelte sie sich immer.
Seit ihrer Scheidung wollte sie sich nun nicht mehr mit der Korrektur von Teilbereichen zufriedengeben, sie wollte vielmehr ihr ganzes Leben korrigieren mit Hilfe des richtigen Partners, des Richtigsten, Annes Superlativ. Um nun aber keine weitere falsche Entscheidung zu treffen, hatte sie sich für die Suche nach ihm ein Phantombild zur Orientierung geschaffen. Da ihre Erfahrung sie gelehrt hatte, daß sie erstens kleine, untersetzte Männer nicht erotisch finden konnte, zweitens Dummheit die größte ihr bekannte Sünde war, drittens beruflicher Mißerfolg den männlichen Charakter verdarb und viertens ihr Rollenverständnis hartnäckig auf einem etwas – nicht viel – älteren Mann bestand, sah das Phantombild so aus:
Groß, schlank, klug, Erfolgsmann
in den frühen Vierzigern
Dies war Voraussetzung und Minimalanforderung, die ein Mann, der in Annes engere Wahl kommen wollte, erfüllen mußte.
Dies war also der Maßstab, den sie anlegte bei ihrer Suche.
Männer, die diesem Anforderungsprofil nicht entsprachen, kamen nicht vor in Annes Träumen vom harmonischen Familienleben in zweiter Ehe. In ihren erotischen Träumen war sie nicht ganz so streng.
Der im Nachbarhaus im dritten Stock lebende Blonde mit der Figur eines kanadischen Holzfällers war durchaus schon aufgetaucht in Annes erotischen Phantasien. Frühmorgens auf seinem Balkon hatte er zum ersten Mal mit seinem nackten Oberkörper und seinem Blick ihre Aufmerksamkeit geweckt. Was diesen Blick so magnetisch machte, konnte Anne auf die Entfernung zunächst nicht feststellen.
Ein anderes Mal aber hatte sie ihn in der Schlange an der Supermarktkasse gesehen, ihn als den nackten Oberkörper auf dem Nachbarbalkon wiedererkannt, seinen auf ihr ruhenden Blick genossen und kurz erwidert. Schnell hatte sie ihre Augen auf den Inhalt ihres Einkaufswagens gelenkt, sofort noch einmal aufgeschaut, und dann sah sie es. Ein blaues und ein braunes Auge!
Bevor ihre Knie weich werden konnten, holte Anne blitzschnell ihr Phantombild hervor, legte den Maßstab an und befand: groß und schlank war er zweifelsohne. Ob er klug war, müßte sie noch herausfinden. Dies erübrigte sich jedoch, da er offenbar die restlichen Kriterien nicht erfüllte.
Um zehn Uhr morgens im Supermarkt, in Jeans, Lederjacke und derben Schuhen, wirkte er nicht wie ein Erfolgsmann auf dem Weg nach oben. Und selbst wenn sie sich in diesem Punkt täuschen sollte, so war er eindeutig zu jung, Mitte bis Ende Zwanzig. Er kam also nicht in Frage, es sei denn für eine Affäre, und Affären wollte sie nicht mehr. Sie war auf der Suche nach ihrem nächsten Ehemann.
Sie verließ den Supermarkt vor ihm, und sie spürte, daß sein blaues und sein braunes Auge ihr folgten, was ihren Schritt bis nach Hause beschwingte.