Читать книгу Bitte Umblättern - Petra Pansch - Страница 10

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Hirschkäfer

Vorsichtig setze ich meinen Fuß neben einen rotbrauen Hirschkäfer. Ein stattliches Exemplar, eben ein Männchen, zu erkennen an seinem imposanten Geweih. Seine Hauptflugzeit ist jetzt, mitten im Juni und er spaziert ausgerechnet hier mit mir auf dem Eifelrundweg. Sein Körper glänzt im Sonnenlicht, als er sich langsam zum schattigen Eichenwäldchen bewegt. Ich schaue ihm nachdenklich zu. Solche auffälligen Käfer gibt es leider nicht mehr oft zu beobachten. Sein Lebensraum wird durch uns Menschen mehr und mehr gefährdet und er steht deshalb unter besonderem Schutz. Dieser Lucanus cervus, wie er auf Latein heißt, lässt mich lächeln und an eine längst vergangene Begebenheit denken.

Ich bin um die 16 Jahre jung und Schülerin der „Penne“, der erweiterten Oberschule, in Meißen. Wieder so ein DDR-Begriff, um diese Schule nicht Gymnasium nennen zu müssen, was doch kapitalistisch ist und folglich nicht gut für uns. Neben unserer Hauptfremdsprache, dem Russisch, darf ich als 2. Fremdsprache Englisch lernen. Der alte Herr Knoch, mein Englischlehrer müht sich redlich, uns London, die roten Telefonhäuschen und die Greenwich-Zeit nahezubringen, obwohl er das alles selbst nie in Natura sah. Ist ja klar in unserem Mauerstaat. Deshalb greift er gern zur „Po Swetu“, einem russischen Sprachmagazin, das übersetzt „Durch die Welt“ heißt. Es hält erstaunlicherweise je vier Seiten für den englischen und französischen Sprachunterricht bereit. Die Rätsel, Sprachübungen und Tests helfen uns, etwas Lebendigkeit in die graue Theorie zu zaubern und uns Lust auf Sprachen zu machen. Das ist nicht gerade einfach, denn wir ahnen, dass wir nicht mal eben auf einen Plumpudding oder auf Fish and Chips auf dieser Insel aufschlagen können. Aber gut, wir machen gerne mit und lösen mit großer Hilfestellung unseres Lehrers ein Preisrätsel im Klassenkollektiv. Jeder reicht es per Brief als sein Ergebnis ein. Nach einem Vierteljahr, keiner denkt noch ans Preisausschreiben, halten wir die neue Ausgabe des Blattes in der Hand. Ein Raunen, ein Aufschrei, denn ich bin eine Preisträgerin und habe ein Buch gewonnen. Mein Name und meine gesamte Anschrift sind zu lesen. Nichts Außergewöhnliches, denn Datenschutz gibt es im Sozialismus nicht. Jeder von uns ist so durchsichtig wie eine frisch geputzte Fensterscheibe.

Ich warte jetzt auf meinen Preis, der auch wenige Tage später eintrifft und kurz darauf noch ein Brief. In Schönschrift ist Fräulein Petra Z. darauf geschrieben und Meißen ist sogar mit dem Lineal unterstrichen. Ein gewisser Gerald Nigrini aus Tharanth hat mir geschrieben. Er hat die Erklärung, warum dieser Brief, gleich mit der Niederschrift seines Lebenslaufes verbunden. Er findet es toll, dass ich ein Englisch-Talent sei, deshalb möchte mich der junge Mann, der eine Klassenstufe älter als ich ist und in seiner Freizeit Insekten sammelt, sogar aufspießt und katalogisiert, kennenlernen. Nach seinem Ehrendienst bei der Nationalen Volksarmee möchte er an der TU Dresden Forstwirtschaft studieren. Jetzt weiß ich alles und meine gesamte Familie natürlich auch, denn der Brief ging durch viele Hände. Mein Vater ist begeistert, dieser neue Bewerber kommt ihm sehr gelegen, nachdem ich meinem Jugendfreund Gerold die Gunst entzog. Also denkt er sich über meinen Kopf hinweg etwas aus. Wenige Tage später steht auf unserem Tisch im Wohnzimmer ein winziges Terrarium aus Plexiglas, von ihm gebastelt. Drinnen in der grünen, üppigen Pappfauna sitzt ein goldbrauner Hirschkäfer neben einem roten Marienkäfer, beides Schokoladenfiguren aus unserem tschechischen Bruderland. Mein Vater schaut beifallsheischend und bittet meine Mutter alles zu verpacken. Es soll den Weg zu Gerald dem Insektenkundler antreten. Mir ist das peinlich, aber mein Vater hat sich in diese Idee verbissen. Ein Dankesbrief ist das Echo darauf und Herr Nigrini kündigt für den Sonntag seinen Besuch an. Große Freude bei den anderen und ich muss ihn vom Bahnhof abholen. Da steigt er aus dem Zug, er sieht aus, irgendwie wie zu heiß gewaschen und etwas farblos. Nur seine Haare, sorgfältig nach hinten gestriegelt, sind glänzend und riechen stark nach Klettenwurzelöl. Ich bin nicht einmal erstaunt, genauso habe ich ihn mir vorgestellt. Zu Hause die obligatorische Musterung beim Kaffeetrinken. Wie jedes Mal bei männlichem Besuch, der irgendwas mit mir zu tun hat oder der es zumindest sollte. Mein Vater ist begeistert, die beiden unterhalten sich gut. Ich stochere im Kuchen, mir ist der Appetit vergangen. Aber das schlimme Ende soll noch kommen. Mein Vater zeichnet meine Talente in schillernden Farben, besonders mein Faible für Geschichte. Der Insektenkundler greift nach diesem Strohhalm und bittet um eine historische Stadtführung. Er schaut mich dabei liebevoll an. Ich ahne schlimmes. Ich möchte nicht mit diesem Mann allein rund um Burg und Dom tigern. Als er endlich mal das Bad aufsucht, frage ich meine Schwester, besteche sie mit meiner polnischen Haarspülung, die ich ihr zähneknirschend überlasse, damit sie uns auf der Stadtbesichtigung begleitet. Mein Besuch ist nicht sehr begeistert und trottet neben uns her. Es ist schon ein langes Wegstück vom Triebischtal bis zur Albrechtsburg. Aber er hält gut mit unserer raschen Schrittfolge mit. Ausdauer hat er und tut zumindest sehr begeistert, als ich ihm die Historie meiner Stadt erkläre. Nur mit meiner jüngeren Schwester pflegt er keinerlei Konversation und sie sagt auch nicht viel. Nur, dass sie Käfer eklig findet und dass unsere jüngste fast mal einen Mistkäfer verschluckt habe. Aber all das schreckt Gerald nicht ab, er plant einen weiteren Besuch bei mir und will dann sogar mit dem Insektenkescher und natürlich mit mir auf Pirsch durch unseren Triebischtal-Stadtwald gehen.

Dann schaut er auf die Uhr und bemerkt zum Glück, dass sein Zug bald abfährt. Meine Schwester verabschiedet sich von ihm, wirft mir einen Blick zu, den ich als Erleichterung deute und ergreift die Flucht. Mir bleibt die freudige Aufgabe, ihn zum Bahnhof zu begleiten. Er schildert unser Treffen in den schönsten Farben und bittet mich, besonders meinem Herrn Vater beste Grüße auszurichten. Er malt unsere nächste Begegnung in den schönsten Farben und lädt mich nach Tharanth ein, wenn es mein Familienoberhaupt erlaubt. Ich nicke nur und denke, was kommt jetzt noch alles auf mich zu. Doch glücklicherweise kommt der Zug aus Nossen herangerollt. Gerald drückt meine Hand und schaut mich mit seinen Glubschaugen treuherzig an. Ich weiß, ich bin sehr hartherzig, wenn ich jemanden so gar nicht mag. Endlich steigt er in den Zug und ich wische mir meine Hand am Kleid ab, nicht sehr damenhaft. Aber es muss sein und ich atme auf. Dann sehe ich meinen scheidenden Gerald, der das Abteilfenster öffnet und mit einem großen, weißen Taschentuch winkt.

Nur gut, dass ich mutterseelenallein auf dem Bahnsteig stehe. Keiner sieht mich zum Glück. Dann ist der Zug weg. Ich beschließe auf dem Heimweg, ihm einen Brief zu schreiben. Das habe ich auch getan. Irgendwie habe ich es hingekriegt, ihm eine Notlüge aufzutischen. Ich habe einen Freund vorgeschoben, ich wollte ihm nicht sagen, dass ich ihn so gar nicht mag, ihn und seine Krabbeltiere.

Meinem Vater wundert es nur, dass dieser nette, junge Mann sich nie wieder bei mir meldet und zweifelt an seiner Menschenkenntnis.

Das Buch, das ich damals als Preis erhielt, ist von Upton Sinclair 1906 geschrieben. Über einhundert Jahre später ist „Der Dschungel“, ein Roman über die Schlachthöfe von Chicago, die Zustände darin und die Ausbeutung der Einwanderer, die dort schufteten, leider wieder brandaktuell.

Auch diese Zeitschrift „Po Swetu“, existiert noch. Heute sieht sie sich als eine Hilfe, um Brücken zwischen Aussiedlern aus Russland und ihrer neuen Heimat zu bauen.

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