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Führerschein

Als kleines Mädchen habe ich mich immer gewundert, dass mein Vater ein höchst distanziertes Verhältnis zum Auto hatte. Als Beifahrer saß er gewichtig den Weg weisend und rauchend neben dem Fahrer, der ihn im Trabant, gern auch im schneidigen Wartburg oder sogar im sowjetischen Wolga, der Edelkarosse der führenden Klasse, über die schlaglöchrigen DDR-Straßen kutschierte. Wenn ich ihn wissbegierig darauf ansprach, warum er keine Fahrerlaubnis besitze - so hieß dieses Dokument in der DDR - bog er gleich zu einer anderen Themenstraße ab.

Übrigens, das Wort Führerschein durfte uns DDR-Bürgern, aus einem wenig einleuchtenden Grund, nicht über die Lippen kommen. Es erinnerte so sehr an die Zeit, als sich ein sogenannter „Führer“ die ganze Welt unter den Nagel reißen wollte. "Fahrerlaubnis" also, eine neue, sozialistische Wortschöpfung, wie so viele andere auch, die den friedliebenden Charakter unserer jungen Republik zeigen sollten.

Der geneigte Leser merkt spätestens an dieser Stelle, dass ich die Tochter meines Vaters bin, ich komme nämlich auch ganz geschickt auf ein Nebenthema. Also zurück zum Ausgangspunkt.

Mein Vater setzte sich in seinen Lieblingslehnsessel mit dem grünbraunen Gobelinmuster und bedeutete mir, mich zu ihm zu setzen. Was ich gehorsam auch tat, obwohl es mir nicht gerade Wohlbehagen einflößte, denn auf diesem Sessel landete mein Blick auf den auf dem Rauchtisch thronenden großen Ton-Uhu, der als Rauchverzehrer diente. Vor dem hatte ich Angst, er starrte mich mit seinen blinkenden grünen Augen giftig, wenn nicht sogar angriffslustig, an. Wie sollte ich mich da konzentrieren können? Doch meine Neugier war stärker als die Angst vor dem doofen Vogel. Ich wollte doch alles erfahren. Vater zündete sich seine Casino-Zigarette an und sog den Rauch genussvoll ein, streifte die Asche in den braunen Tonaschenbecher, der ein weiteres Accessoire auf dem gehäkelten Deckchen des Rauchtisches war. Dann deutete er auf einige Fotos, die vor ihm lagen und begann zu erzählen. Dabei schielte ich neugierig auf die älteren, schon etwas verblichenen Fotos.

Es wurde eine längere Geschichte, einige Zigaretten lang:

Als mein Vater ein 14jähriger Bub war, musste er zur Hitlerjugend. Das war damals so, erklärte er mir. Ihm hatte es sogar Freude gemacht, denn er durfte auf dem Chemnitzer Flughafen bei den Segelfliegern mitmachen. Da wurde für ihn ein Traum wahr, denn er hatte schon immer gerne Modellflugzeuge gebastelt. In einem der leichten schwingenden Vögel hoch oben über der Welt zu segeln, das war damals sein Wunsch. Doch ohne Fleiß kein Preis, zuerst stand Bücherwälzen auf dem Plan. Er lernte, wie so ein Flieger die Schwerkraft überwindet und andere physikalische Gesetze. Aber nicht nur sein Kopf war gefragt, auch seine Kraft. Die Jungen zogen die Segler an Seilen, bis die Leichtgewichte sich den Aufwind schnappten und hinein in den Himmel starteten. Ihre Gemeinschaft machte sie stolz, besonders ihre ledernen Fliegerkappen.

Nachdenklich blickte mein Vater auf das Foto, das ihn als einen dünnen Jungen zeigte, der lachend an einem Flugzeug lehnte. Das war kurz vor seiner praktischen Segelflugausbildung. Doch aus Spaß wurde bitterer Ernst; der 2. Weltkrieg. Mein Vater war glücklicherweise noch zu jung, um im Eilverfahren ausgebildet zu werden, um dann in einem Motorflieger für Volk und Vaterland in den Krieg zu müssen. Wie war ich doch erleichtert, als ich das von ihm hörte, da konnte der Uhu noch so angriffslustig schauen.

Ich erfuhr auch, dass dieser Flughafen, der war, wo wir an der Chemnitzer Stollberger Straße unseren Schrebergarten hatten und wo ich aus luftiger Höhe oben im Apfelbaum, das Ikarus-Gebäude, den Kontrollturm und die Flugzeuge beobachten konnte. Mein Vater hatte mir neben dem Erdbeerbeet einen kleinen Holzflieger mit einem drehbaren Propeller gebaut, jetzt wusste ich auch warum.

Aber, wie kriegt er jetzt die Kurve zum Thema Fahrerlaubnis?

Mutter kam ins Wohnzimmer, wischte sich die rechte, noch etwas feuchte Hand, an ihrer Küchenschürze ab, nahm eines der Fotos und streichelte lächelnd darüber. Dann zupfte sie das Häkeldeckchen auf dem Rauchtisch zurecht und meinte, das Abendessen sei fertig. Ihr Ton duldete keinen Aufschub, sie schnappte sich den vollen Tonaschenbecher und eilte schnellen Schrittes in die Küche. Ich fasste Vater an der Hand, um noch schnell Antwort auf meine Ausgangsfrage zu bekommen. Irgendwie wirkte er erleichtert, dass ihm jetzt kaum Antwortzeit blieb und meinte lakonisch: „Petra, bei den langen Wartezeiten auf ein Auto, da lohnt es sich doch gar nicht, eine Fahrprüfung abzulegen“. Schließlich fügte er noch hinzu, dass so ein Gefährt vom Preis her nicht in unserem Budget läge. So richtig zufrieden war ich mit dieser Antwort nicht, aber die Aufforderung: „Ab in die Küche, das Essen wird kalt.“ ließ ich mir nicht zweimal sagen, zumal es verführerisch nach Sauerbraten, Rotkohl und grünen Klößen duftete; meinem liebsten Sonntagsessen. Nun gut!

So viele andere Dinge und Begebenheiten passierten in meinem Kinderleben und ich dachte überhaupt nicht mehr an diese Geschichte. Lange, lange Jahre nicht. Erst wieder, als meine Mutter und ich nach dem Tod meines Vaters seine persönlichen Lebenserinnerungen sortierten, fiel mein Blick wieder auf diese vergilbten Fliegerfotos. Wir beide erinnerten uns an das Gespräch damals im Wohnzimmer und diesmal erfuhr ich die ganze Wahrheit. Ich konnte es kaum glauben und es war auch nicht zu glauben. Mein Vater hatte bei seiner praktischen Fahrprüfung die Bremse mit dem Gaspedal verwechselt. Durchgefallen! Wie bitte? Mein Vater, das Ingenieur- und Technikgenie, der ein Auto zerlegen und wieder zusammenbauen konnte? Statt zu bremsen und abzubiegen, ist er in ein Telefonhäuschen gebrettert. Oh, Gott! Aber zum Glück war außer Blech- und Glasschaden nichts passiert, die Autos waren damals noch nicht aus Pappe. Ende gut, alles gut. Aber das war auch das Aus für meines Vaters Fahrkünste. Er nahm Abstand von weiteren Fahr- und Prüfungsversuchen.

Ich kann verstehen, dass er mir das damals nicht erzählen wollte, schon wegen der "Vorbildwirkung" und so weiter. Unter Tränen musste ich ein wenig lächeln, als ich das alles hörte.

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