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3.2 Textstrukturwissen60

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In diesem Kapitel wird Wissen vorgestellt, mit dem Rezipienten an Texte herantreten. Dabei handelt es sich um Textstrukturwissen, das mit verschiedenen Spezialisierungsgraden einhergeht und in unterschiedliche Lesestrategien münden kann.

Allgemein: Textstrukturen als Schemata. Im Laufe ihrer Mediensozialisation stoßen einzelne Individuen auf eine Vielzahl unterschiedlicher Textstrukturen bzw. Superstrukturen, die durch rekurrente Elemente und strukturelle Kookkurenzen zu einer Reihe relativ homogener Schemata (zum Teil mit verschiedenen Spezifitätsgraden) verschmelzen und sich im Bewusstsein der Rezipienten einbrennen.

Eine Superstruktur ist eine Art abstraktes Schema, das die globale Ordnung eines Textes festlegt und das aus einer Reihe von Kategorien besteht, deren Kombinationsmöglichkeiten auf konventionellen Regeln beruhen.61

Die Wissensrahmen sind – wie andere Wissensrahmen auch – prototypisch strukturiert.62 Superstrukturen können Leerstellen eröffnen, sie limitieren die Möglichkeiten der textuellen Entwicklung.63 Und sie erlauben es dem Leser, Erwartungen an die im Folgetext situierten Einheiten zu bilden.64

Superstrukturen kondensieren Rezipienten für so verschiedene Bereiche wie journalistische Texte, Sachbücher, wissenschaftliche Artikel, studentische Hausarbeiten, argumentative oder narrative Texte.65 Das narrative Schema (auch Erzählschema oder Story-Grammar) soll hier als Beispiel im Mittelpunkt stehen.

Story-Grammars. Bei Story-Grammars (in der Terminologie Minskys narrative Rahmen, in der Terminologie van Dijks Superstrukturen) handelt es sich um Schemata, die Organisationseinheiten von Geschichten mental makrostrukturieren durch (zum Teil hierarchisch organisierte) Relationen und durch iterative Regeln. Die Elemente lassen sich teilen in optionale und obligatorische (siehe dazu Absatz 3.1). Werden obligatorische Elemente einer Geschichte ausgelassen, so verstößt sie gegen Kriterien der Wohlgeformtheit – ähnlich wie Auslassungen auf der syntaktischen Ebene, was einerseits die terminologische Anlehnung Story-Grammar begründet und andererseits die auf Texte übertragene Formulierung der nicht wohlgeformten Geschichte motiviert.66

Story-Grammars bieten ein Beschreibungsmodell auf der Tiefenstrukturebene an. Bei den Komponenten handelt es sich um Slots, die durch psychische Substrate aus den Textsegmenten der zugrunde liegenden konkreten Geschichte gesättigt werden.67 In der Regel dienen globale Einheiten als Analyseebene, bei denen umfangreichere Satzsequenzen zu psychologischen Einheiten verschmelzen.68

Es gibt oberflächenstrukturelle Indizien dafür, dass ein bestimmter durch das Wissen über eine Superstruktur vorgegebener Bestandteil realisiert wird. Komplikationen in einer Erzählung werden häufig durch plötzlich oder Aber dann eingeleitet.69 In Märchen übernimmt die Formulierung Es war einmal die Funktion, das Setting zu etablieren. Mit Eines Tages beginnt die eigentliche Handlung.70

Wie auch aus anderen Schemata ergeben sich aus Superstrukturen Erwartungen und Leerstellen, die mit dem vom Konstruktivismus postulierten Bedürfnis einhergehen, sie zu füllen. Demnach möchte der Leser unter anderem wissen, mit welchen Werten die Leerstellen zu sättigen sind.71 Legt man die Story-Grammar von Rumelhart zugrunde, so versucht der Rezipient, Füllwerte zu etablieren für die Hauptfiguren, Gründe, Motivationen, Ziele, Handlungen sowie den Zeitpunkt und den Ort einer Geschichte.72 Diese Einschätzung teilen auch Graesser, Li und Feng, wobei sie zwischen verschiedenen Stadien einer Geschichte unterscheiden.

In a narrative text, the relevant questions during the setting are who?, what?, where?, and when? but the questions shift to why? and so what? when the plot occurs.73

Das gewählte Textstrukturschema einer Geschichte schränkt das Erwartungsfeld auf der Ebene der Textwelt ein.74 Der Rezipient wundert sich nicht, wenn Zwerge, Riesen, Feen und andere transzendente Wesen tief im Wald hausen – Entitäten, die rein diskursiv Einzug in das Wissen des Rezipienten erhalten haben. Gleichzeitig geht der Rezipient davon aus, dass die Figuren in einem Märchen kein Mobiltelefon besitzen.

Während auf der einen Seite Diskursentitäten akzeptiert werden, die nicht der lebensweltlichen Erfahrung des Rezipienten entsprechen, kann es auf der anderen Seite zu einer textabhängigen Interpretation von Ereignissen kommen, die im Alltag des Rezipienten keine interpretatorische Relevanz besitzen. Wenn es regnet und blitzt, erwartet niemand, dass ein Mörder kommt und ein Massaker veranstaltet. In einem Roman oder einem Film dagegen kann die allgemeine Wetterlage erheblichen Einfluss auf die Erwartungen nehmen.

Darüber hinaus werden einzelne Ereignisse genresensitiv verarbeitet. Geht ein 20-jähriger Mann in einer Geschichte hinter einer jungen Dame her, so kann dies – je nach Textstruktur – unterschiedliche Effekte haben. In Horror- und Kriminalgeschichten tendiert der Rezipient wahrscheinlich eher dazu, eine mögliche Gefahr zu konstruieren als etwa in einem Liebesroman, wo er sich fragen könnte, ob die beiden Personen sich kennenlernen werden oder ob sich eine erotische Beziehung entwickelt. Die gleiche Szene löst also je nach Textstruktur unterschiedliche Inferenzen und Erwartungen aus.

Dabei muss die Zuordnung der Textstruktur vom Rezipienten nicht zwingend mit dem tatsächlichen Genre eines Textes übereinstimmen, sodass sich eine alternative Interpretation des Rezipienten ergibt. So kann ein Leser auf der Grundlage eines falsch gewählten Schemas mit nicht adäquaten Erwartungen an einen Text herantreten. In James Thurbers Kurzgeschichte „The Macbeth Murder Mystery“ liest eine Frau das Drama Macbeth mit einer Lesestrategie, die der tatsächlichen Textstruktur nicht entspricht, nämlich als Krimi. Deshalb bildet sich eine alternative Erwartungsstruktur der Figur heraus.

Werden Story-Grammars zur postrezeptiven Analyse von Geschichten benutzt, so ergibt sich ein Strukturbaum mit verschiedenen Hierarchieniveaus.75 In experimentellen Studien stellte Thorndyke fest, dass das Erinnern der Elemente von der jeweiligen Stufe abhängt. Höher angesiedelte Einheiten werden besser erinnert als tieferliegende.76

Über genrespezifische Erwartungen hinaus werden bei der Verarbeitung eines narrativen Textes auch weitere Annahmen bemüht, bei denen Diskursentitäten auf der Textwelt- und Produktionsebene allgemeine Eigenschaften zugeschrieben werden, die sich aus der lebensweltlichen Erfahrung des Rezipienten ergeben. Leser gehen davon aus, dass sich Menschen rational verhalten und prototypischen Problemlösungsansätzen folgen. Diese werden auf die Figuren projiziert, sie müssen dem Rezipienten selbst nicht bewusst sein.77 Diese allgemeineren Annahmen umfassen auf einer abstrakteren Ebene auch Annahmen über den Textproduzenten. Dieser kann in einer solchen unpersönlichen Kommunikation bei der Leser und Textproduzent sich nicht kennen als generell im Sinne von Busse angenommen werden. Dem Produzenten wird demnach unter anderem unterstellt, dass er in seinem Text bestimmte Aspekte berücksichtigt, wie sie zum Beispiel von Grice in seiner Implikaturtheorie entwickelt wurden. Beim Verstehen eines generellen Textproduzenten bleiben zum Beispiel Faktoren Außen vor, die ausschließlich aus einer persönlichen Gesprächsbiographie resultieren und die auf dem daraus hervorgehenden gemeinsamen Hintergrundwissen basieren.78

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