Читать книгу Lötzsch. Der lange Weg eines Jahrhunderttalents. - Philipp Köster - Страница 10

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Letzte Ausfahrt Karl-Marx-Stadt

Bereits über eine Stunde sitzen Wolfgang Lötzsch und Werner Marschner zusammen im Auto, und der Trainer hat noch kaum ein Wort gesagt. Marschner, sonst sehr gesprächig, umklammert mit den Händen das Lenkrad des Barkas B 1000 und starrt schweigend hinaus auf die Autobahn. Er hat Lötzsch abgeholt, vom Olympia-Lehrgang in Kreischa, und nun sind sie auf dem Weg zurück nach Karl-Marx-Stadt. Es ist ein kalter Abend im März 1972, und auf der Autobahn sind nur wenige Fahrzeuge unterwegs. Ein Hinweisschild huscht vorbei, noch zehn Kilometer sind es bis Karl-Marx-Stadt, noch zehn Kilometer bis zum Ende der Club-Karriere des Wolfgang Lötzsch.

Wolfgang Lötzsch hat gute Laune. Der Lehrgang ist hervorragend gelaufen, die ärztliche Untersuchung am frühen Nachmittag ebenso. »Sie sind völlig gesund«, hat der Chefarzt in Kreischa mitgeteilt. Er wird also bei der Friedensfahrt mitfahren und in München bei den Olympischen Spielen auf der Bahn und auf der Straße starten. Gleich morgen früh soll es ins Trainingslager nach Belgien gehen, zur Vorbereitung auf die großen Aufgaben.

Das sind schöne Aussichten, und so fällt ihm nicht auf, dass sein Trainer auf den letzten Kilometern schließlich völlig verstummt. Und dass er nicht wie sonst immer die Abkürzung an der Ausfahrt in Glösa über das freie Feld nimmt, um schneller nach Karl-Marx-Stadt hineinzukommen. Das ist zwar streng verboten, aber so sind sie abends immer gefahren, wenn sie von auswärts kamen. Marschner liefert Lötzsch auch nicht bei den Eltern ab. »Wir müssen noch mal ins Clubhaus«, sagt er knapp. Nun weiß Lötzsch, worum es geht. Es geht um ihn.

Es ist drei Wochen her, da haben sie ihn schon einmal angehört – zusammen mit seinem Vater Alfred. Eine Aussprache sei nötig, hatte es geheißen, um Klarheit über seine politische Einstellung zu erhalten. Dass sie gleich anschließend über seine Zukunft entscheiden würden und dass es nicht gut aussieht für die noch junge Karriere des Wolfgang Lötzsch, davon haben sie ihm nichts gesagt. Längst existiert ein Ermittlungsbericht des Ministeriums für Staatssicherheit, in Auftrag gegeben am 6. November 1971.

Darin hat ein Sachbearbeiter notiert: »Lötzsch stammt aus einer Familie mit kleinbürgerlichen Tendenzen. Durch das Elternhaus unterlag er in politisch-ideologischer Sicht keinem positiven Einfluss.« Und der Bericht nennt Beispiele: »So wurde geduldet, dass er sowohl im Rundfunk als auch im Fernsehen einem starken westlichen Einfluss unterliegt. Den politischen und gesellschaftlichen Problemen im Wohnbezirk steht er desinteressiert gegenüber.« Und noch etwas ist den aufmerksamen Fahndern nicht entgangen: Der briefliche Kontakt der Familie zu Dieter Wiedemann, dem Cousin, dem erfolgreichen Radsportler, der im Westen geblieben ist.

Nach dem Gespräch mit Vater und Sohn ist alles noch viel schlimmer. Denn die Lötzschs sind starrsinnig, geben sich nicht diplomatisch, wiegeln nicht ab, reden den Parteileuten und der Clubführung nicht nach dem Mund. Als die Offiziellen den Sohn Wolfgang befragen, wie er denn nun zu seinem sozialistischen Vaterland stehe, da herrscht der Vater die Funktionäre an: »Es gibt in der DDR keine Pressefreiheit. Also lassen Sie meinen Sohn mit politischen Problemen in Ruhe.«

Und der Sohn schüttelt den Kopf, als sie ihm das Parteibuch der SED anbieten. Nein, das passt nicht zusammen, die SED und sein Leben, findet er. Er hört Beatmusik und die Rolling Stones, die von Freiheit und Lebenslust singen, und nun soll er in die Partei eintreten, in den Verein der grauen Anzugträger. Wolfgang Lötzsch interessiert sich nicht für die Politik, er möchte nur Radfahren und irgendwann damit sein Geld verdienen: »Ich will ein großer Fahrer werden«, sagt er und schaut den Funktionären fest in die Augen.

Mit finsterer Miene verlassen die Vertreter von Sportclub und Partei später den Raum. Sorgen macht sich Wolfgang Lötzsch dennoch nicht. Sie brauchen ihn, das glaubt er noch immer. Ist er nicht der erste Fahrer, der die Ausdauerwerte von Idol Täve Schur bei den Tests in Kreischa verbessert hat? Und haben sie ihn nicht bereits für die Friedensfahrt und für Olympia nominiert, obwohl er noch nicht in die SED eingetreten ist?

Er täuscht sich – man braucht ihn offensichtlich nicht mehr. Bald nach dem Gespräch mit den Lötzschs haben sich die Funktionäre beraten und sind übereingekommen: Wolfgang Lötzsch wird ausdelegiert. Er muss den Sportclub Karl-Marx-Stadt verlassen. Und er darf keinesfalls ins kapitalistische Ausland reisen. Nicht nach Belgien ins Trainingslager. Nicht zu den Olympischen Spielen nach München. »Der Aktive Wolfgang Lötzsch ist politisch völlig unklar, von einem positiven Standpunkt zu unserer Republik kann nicht die Rede sein«, hält der stellvertretende Vorsitzende des Sportclubs, Voigtmann, fest.

Nur einer spricht dagegen: Werner Marschner. Der Cheftrainer kämpft für seinen Schützling, nennt ihn ein außerordentliches Talent, eine große Hoffnung für den Radsport der Deutschen Demokratischen Republik. Doch so sehr er kämpft, am Ende steht Marschner auf verlorenem Posten, die Entscheidung ist gefallen. Auch weil einer vehement für den Ausschluss des Wolfgang Lötzsch votiert, der ihn besonders gut kennt: sein Jugendtrainer Peter Schiffner.

Dann geht alles rasch seinen sozialistischen Gang. Der Antrag auf Ausdelegierung wird eilends zum Deutschen Turn- und Sportbund nach Berlin geschickt. Und am Morgen des 24. März klingelt um neun Uhr beim Sportclub Karl-Marx-Stadt das Telefon, der DTSB ist am anderen Ende der Leitung. »Den Genossen der Sektion Radsport wurde mitgeteilt, dass Sportfreund Lötzsch aus dem SCK ausscheiden wird. Grund klar. Begründung wird sein: Aus gesundheitlichen Gründen. Der Verband ist beauftragt, die Ausdelegierung Fakt«, wird ein Berliner Funktionär Tage später über das Gespräch notieren.

Die Funktionäre beschließen, Lötzsch noch am gleichen Abend auszuschließen. Der aber ist gerade zum Olympia-Lehrgang nach Kreischa gefahren. So wird Werner Marschner angerufen, er soll seinen Schützling abholen und am späten Abend ins Clubheim bringen. Dann wird man ihm die Ausdelegierung mitteilen. Genau wie besprochen. Aus gesundheitlichen Gründen.

Doch plötzlich gerät der Plan durcheinander. Weil nämlich der Chefarzt aus Kreischa gegen vierzehn Uhr Marschner unerwartet und unmissverständlich mitteilt: »Lötzsch ist völlig gesund. Alle anderen Probleme klären Sie doch bitte selbst!«

Noch einmal tagen hektisch die Club-Spitzen und kommen zum Ergebnis: »Da die Begründung ›aus gesundheitlichen Gründen‹ nicht mehr gegeben war, wurde festgelegt, dass alle Beteiligten jetzt einen einheitlichen Standpunkt beziehen und Lötzsch aus kaderpolitischen Gründen, seiner Einstellung zur DDR, auf Grund seines Wissensstandes und der Nichtbereitschaft, sich politisch weiterzubilden, sowie der negativen Beeinflussung seitens der Eltern ausdelegiert wird.« So steht es ausführlich in den Akten. Lötzsch selbst wird nur einige wenige Worte zu hören bekommen.

Werner Marschner parkt den Barkas vor dem Clubheim. Es brennt noch Licht im großen Saal. Die Leitung des Vereins ist vollständig angetreten: die Spitzen Gensel, Voigtmann und Hahn, die Trainer, der Parteisekretär der SED. Lötzsch darf sich setzen, er bekommt etwas zu trinken. Dann ergreift Präsident Heinz Gensel das Wort und erklärt dem Nachwuchsfahrer, er werde in den nächsten Tagen aus dem Sportclub Karl-Marx-Stadt ausdelegiert. »Sportfreund Lötzsch, wir haben kein Vertrauen mehr zu dir!«

Wolfgang Lötzsch hört zu, sagt wenig. Dann schnallt er sein Rad vom Dach des Busses und fährt nach Hause. Daheim geht er wortlos in sein Zimmer, wirft sich aufs Bett und starrt an die Decke. Nur langsam begreift er, was ihm widerfahren ist. Kein Trainingslager in Belgien, keine Friedensfahrt, keine Olympischen Spiele in München. Neunzehn Jahre ist er alt und ausdelegiert. Aber, so beruhigt er sich schließlich, sie brauchen ihn. Das werden sie noch einsehen.

Am 16. April 1972 fährt Wolfgang Lötzsch das alljährliche Erich-Schulz-Gedenkrennen. Angermünde–Berlin– Angermünde. Über 157,5 Kilometer geht es durch Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Am Ende wird er Sechster. Es ist das letzte Rennen, das Wolfgang Lötzsch für den Sportclub fährt.

Schon eine Woche später, am 23. April, taucht beim Rennen »Rund um die Dresdner Heide« hinter seinem Namen ein anderer Verein auf – es ist die BSG Wismut Karl-Marx-Stadt, eine Betriebssportgemeinschaft. Was auf den ersten Blick nur als Wechsel zwischen zwei Sportgemeinschaften daherkommt, es ist in Wirklichkeit ein Fall aus den lichten Höhen in die Kasematten des DDR-Sports.

Bislang gehörte Wolfgang Lötzsch zu einer kleinen Elite von Sportlern, die systematisch an die Weltspitze geführt werden, die in Unterdruckkammern auf modernen Rennmaschinen neuen Rekorden entgegenstrampeln, die sportmedizinisch betreut werden, die sich sportgerecht ernähren, die von den Medien hofiert werden. Nun jedoch ist Wolfgang Lötzsch ein ausgestoßener Clubfahrer, ein Paria.

Künftig ist er vom Erfahrungsaustausch mit den Mannschaftskameraden ausgeschlossen, er wird größte Mühe haben, sich Ersatzteile für sein Rad zu besorgen. Und er hat in den Rennen keine Mannschaft mehr, die ihm bei Angriffen zur Seite steht, die das Feld kontrolliert und den Endkampf für ihn vorbereitet. Die große Karriere des Wolfgang Lötzsch, sie ist in diesem Moment zu Ende, denn ein BSG-Fahrer hat keine Chance gegen die Clubfahrer. So sind die Regeln des Geschäfts.

Der Vater will sich noch nicht damit abfinden, dass es ein für alle Mal vorbei sein soll mit der Karriere seines Sohnes. Alfred Lötzsch, inzwischen 72 Jahre alt, hat in seinem Leben nie viel geschrieben. Jetzt setzt er sich an seinen Schreibtisch und bringt eine Petition zu Papier. Es ist eine Eingabe an den Vorsitzenden des Staatsrates, an den Genossen Erich Honecker: »Er hat sich doch für unsere sozialistische Heimat eingesetzt und seinem Klub Ansehen verschafft. Nun wird er im Vorbereitungsjahr schuldlos herausgerissen, darf nicht mit nach Belgien und in die Sowjetunion. Ich lege hiermit dringenden Widerspruch ein«, schreibt Alfred Lötzsch: »Unser Sohn steht vor dem Nichts und hat auch keinen Beruf. Was ist ihm nicht alles versprochen worden. Wir können es einfach nicht fassen, dass so etwas möglich ist. Einen Neunzehnjährigen kann man doch nicht aus der Gesellschaft ausschließen, für die er bisher sein Bestes gab.« Es ist der Hilferuf eines Vaters. Alfred Lötzsch erhält nie eine Antwort.

Und doch ist Wolfgang Lötzsch ein Thema in Berlin. Denn es ist nicht getan mit der Ausdelegierung. Er bleibt verdächtig. Und schon bald wabert ein Gerücht durch Berliner Radsportkreise, gestreut von den Büchsenspannern der Staatsicherheit. Schon gehört, raunt es im Fahrerfeld, der Wolfgang Lötzsch wollte in den Westen abhauen, beim Trainingslager in Belgien. Alles von langer Hand vorbereitet und nun ist es aufgeflogen. Das erklärt einiges, deshalb fährt der Lötzsch jetzt nur noch für Wismut.

Die Staatssicherheit in Karl-Marx-Stadt reagiert schnell auf das eigene Gerücht. Major Schönherr von der Abteilung 20 vermeldet am 18. Mai: »Laut Hinweisen liegt bei Lötzsch der Verdacht der Vorbereitung des illegalen Verlassens der DDR vor. Im Wohngebiet von Lötzsch ist der IM ›Meier‹ unmittelbar in der Nachbarschaft wohnhaft. Durch den IM bitten wir eine Einschätzung über den Lötzsch und dessen Eltern fertigen zu lassen.«

Der IM »Meier« macht sich gleich an die Arbeit. Denn: »Um baldige Erledigung wird gebeten.«

Lötzsch. Der lange Weg eines Jahrhunderttalents.

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